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Cornelius Cardew war kein Popstar, sondern ein klassischer Komponist des 20. Jahrhunderts. Er wurde am 13.12.1981 von einem Auto überfahren, der Täter beging Fahrerflucht. Cardew war zu seinem Lebzeiten bekannt für die Verknüpfung von Musik und Politik. Cardew, geboren am 7.5.1936, studierte Klavier an der Royal Academy of Music. Das dortige konservative Klima, dass Schönberg, Boulez und Stockhausen ablehnte, lies ihn rebellieren und so wurde er von 1958 bis 1960 Assistent von Karlheinz Stockhausen. Doch auch die rigide Herrschaft des Serialismus in Deutschland befriedigte ihn nicht. Erst die Begegnung mit John Cage eröffnete ihm neuen Perspektiven darauf, dass Musik auch ein Prozess ist und gesellschaftliche Wirkung hat. Von diesem Treffen beeinflusst entstanden seine wichtigen Kompositionen "Treatise", basierend auf einer rein grafischen Partitur, und "The Great Learning". Doch während Cage den Zufall in die Kompositionstechnik einführte, um den Einfluss der Gefühle des Interpreten bei der Aufführung zu vermeiden forderte Cardew mit seinen neuen Notationsweise gerade die Interpretation und damit den Einfluss des Musikers auf die Aufführung des Werkes heraus.
Daraus folgend wandte sich Cardew auch der improvisierten Musik zu und wurde 1968 zusammen mit Howard Skempton und Michael Parsons Gründungsmitglied des Scratch Orchestra, eines Musikerkollektivs, dass sich mit Konzeptkunst, Improvisation und experimentellen Partituren beschäftigte und jeden Gegenstand als mögliches Musikinstrument ansah. Gleichzeitig war er zusammen mit den aus dem Jazz kommenden Eddie Prevost, Lou Gare und Keith Rowe Mitglied der Improvisationsformation AMM. (Übrigens lebte Yoko Ono einige Zeit bei Cardew und AMM spielte bei ihren Ausstellungseröffnungen.) 1971 begann Cardew Marxismus zu studieren. Nach dem Marxisten Christopher Caudwell ist Kunst nicht die Beziehung des Künstlers zum Kunstobjekt, sondern die Beziehung zwischen Künstler und Publikum und das Kunstwerk ist nur Werkzeug dieser Beziehung. Die Kommerzialisierung der Kunst mag zum Widerstand des Künstlers führen, aber solange er dabei die Schranken der bürgerlichen Kultur nicht zur Kenntnis nehme würde dies nur zum Rückzug auf die alleinige Beziehung des Künstlers zu Kunstwerk führen, die sozialen Werte wie Syntax, Tradition, Regeln, Technik, Form und akzeptierte Farbskalen verloren gehen und das Kunstwerk nur noch für den Künstler existieren. (Was hier im Prinzip formuliert ist ist ein Angriff auf neue künstlerische Auffassungen, die dem Publikum nicht sofort verständlich sind. In Konsequenz führt dies, wenn auch auf anderem Wege mit anderen Argumenten, zum gleichen Ergebnis wie die Hetze der Nazis gegen "entartete Kunst". - MF) Cardew fühlte sich als ein solcher verlorenen individualistischer Künstler ohne Bezug zum Publikum, weshalb er sich in der Folgezeit von der Improvisation und den Zufälligkeiten moderner Kompositionsmethoden abwandte und Klavierstücke in folkloristischer Tradition, sowie Lieder für den revolutionären Kampf zu schreiben begann. 1974 erschien dann seine Abrechnung mit dem ehemaligen Vorbild "Stockhausen Serves Imperialism and Other Articles", in dem er diesen und Cage Komplizenschaft mit der Bourgeoisie vorwarf. Cardew begann politisch zu arbeiten, organistisierte eine Konferenz zu Rassismus und Faschismus und gründete 1979 die Marxistisch-Leninistische Partei Englands. Cardews Leitfaden war ferner das 1942 von Mao Tse-Tung verfasste Buch "Talks at the Yenan Forum on Literature and Art", in dem dieser die Künstler und Schriftsteller zur Unterstützung der Arbeiterklasse gegen die Unterdrückung durch die Bourgeoisie auffordert und sie verpflichtet, den Massen zu begegnen und deren Standpunkte, Probleme und Wünsche zu erfahren. Um Kunst zu beurteilen seinen sowohl ästhetische, aber besonders politische Maßstäbe erforderlich. Die Aufgabe der Künstler sei es, Maßstäbe zu verbreiten und anzuheben. Zuerst müsse die Literatur und Kunst die dringenden Bedürfnisse der Massen erfüllen und leicht erfassbar sein, erst danach ginge es um die Steigerung der Qualität. Gleichwohl verurteilt Mao Kunst die politisch korrekt, aber künstlerische Qualität vermissen lasse, ebenso wie Kunst mit falschen politischen Gesichtspunkten. Deshalb seien Selbstkritik und Kritik vom marxistischen Standpunkt aus notwendig. Dementsprechend wirf Cardew in seinem Buch "Stockhausen Serves Imperialism and Other Articles" Stockhausen und Cage vor, Musik zu schreiben, die die Menschen von der Wahrheit der Unterdrückung für multinationale Konzerne, unehrliche Regierungen und die Bourgeoisie ablenken würde. Zusammen mit dem Pianisten John Tilbury versuchte Cardew diese Ideen im Scratch Orchestra umzusetzen. Cardew hatte die meisten bisherigen Konzert als Scheitern begriffen und nur geringen Publikumsinteresse bemerkt. Das Orchester versuchte daher vermehrt mit dem Publikum zu interagieren, um wie Mao fordert von diesem zu lernen. Danach wurde jedes Konzert haarklein analysiert und von jedem Orchestermitglied kritisiert. Cardew kritisierte auch die Idee des Komponisten als alleinigen Urheber, denn die Komposition sei kein fertiges Werk, sie alleine sei nutzlos. Der alleinige Nutzen einer Komposition liege in der Aufführung und Wirkung, die diese entfalte, und dazu gehörten neben dem Komponisten auch die Musiker, Kritiker, Impresarios, Agenten, Manager und am wichtigsten das Publikum. Unter der Diktatur der Bourgeoisie sei es unmöglich, ein Werk mit eindeutigem sozialistischen oder revolutionärem Inhalt einem Massenpublikum habe zu bringen, weil der Zugang zum Publikum, was der eigentliche Sinn der Komposition sei, vom Staat kontrolliert werde. Die Arbeiterklasse verdiene als stärkste und revolutionärste Klasse als einzige die Beachtung durch die Künstler. Da aber Cage, Stockhausen und Co. von der Arbeiterklasse ignoriert würden sei es auch nicht erforderlich sie zu kritisieren. Die von ihm entwickelten Maßstäbe legte Cardew auch an sein eigenes Schaffen an. Er verwarf sein früheres Werk und schrieb jetzt politische Lieder wie "Smash the Social Contract", "There Is Only One Lie, There Is Only One Truth" und "Soon There Will Be a High Tide of Revolution", Klavierstücke über Motive aus politischen Folksongs wie "Father Murphy" und "The Croppy Boy", sowie Komposition wie "Boolavogue" und "Thaelmann Variations" in Anlehnung an frühe englische Klaviermusik. Dabei vermied er jeden Anschein von Originalität, die er als zutiefst bourgeois verachtete, weil sie zwanghaft "Neues" produziere, um neue Produkte für den kapitalistischen Verwertungsprozess zu schaffen. Cardew spielte auf Veranstaltungen zum 1.Mai, bei antirassistischen und antifaschistischen Umzügen, setze sich für die Befreiung Irlands ein und landete mehrmals im Gefängnis. Er war überzeugt, dass das gemeinsame Singen der Internationalen bedeutender sei alle avantgardistischen Werke zusammen, weil es keine pseudowissenschaftliche Fantasie sei, sondern echte Menschen in der echten Welt beim wichtigsten Kampf überhaupt zeige, nämlich dem Klassenkampf. In Anlehnung an Marx sein Diktum "Es reicht nicht aus, die Welt zu verstehen, man muss sie ändern" forderte Cardew: "Es reicht nicht aus die Welt zu verschönern, man muss sie beeinflussen." Vor dem Hintergrund von Cardews Rolle in der Marxistisch-Leninistische Partei Englands und seiner Abwendung vom Maoismus Ende der 70er Jahre sind nicht wenige seiner Freunde der Ansicht, dass der tödliche Autounfall in Wirklichkeit ein politischer Mord war. geschrieben unter Verwendung eines Textes von Kyle Gann mit ein paar Ergänzungen von verschiedenen Internetquellen - eine mehr musikalische Würdigung von Cardew von John Tilbury gibt es hier, ein ausführliche Beschreibung des Werks "Treatise" findet sich hier |
Musik von Cornelius Cardew (Auswahl):
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© 31-05-2006 by Martin Fuchs / Mehr Tote? / Zurück zu den Lebenden?