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![]() Wer kennt sie nicht, diese kleinen Anzeigen auf den hinteren Seiten von Jerry Cotton oder der Bäckerblume, wo einem Briefmarken, Potenzmittel oder das Wissen der Rosenkreuzler angeboten wird. Dazwischen gibt es Angebote, Sprachen sprechen, Romane schreiben und Bilder malen zu lernen. In den USA fänden sich an dieser Stelle auch Angebote, sich beim Schreiben von Songs, um nicht zu sagen Hits helfen zu lassen. Einfach ein selbstverfasstes Gedicht oder einen Song einsenden und in wenigen Tagen erhältst du ein Attest, ob dein Werk geeignet ist. Das ist logischerweise immer der Fall, dann darfst du Geld schicken und erhältst dafür eine Aufnahme des fertigen Songs! "Song-Poems" heißen die Produkte dieser Nepper-Schlepper-Bauernfänger-Industrie und Rodd Keith ist die Kultfigur dieser bizarren Welt jenseits von gut und bad taste. Eigentlich sind "Song-Poems" Lieder wie alle anderen: jemand schreibt einen Text und jemand anders schreibt die Musik. Die beiden müssen nicht unbedingt zusammenarbeiten, eigentlich sich auch gar nicht kennen. Und dass die Songs zum Geldverdienen geschrieben werden ist eigentlich selbstverständlich, alles andere wäre Heuchelei. Das besondere an Song-Poems ist, dass die Texter Laien sind und dafür bezahlen, dass ihre selbstverfassten Gedichte vertont werden. Sie mögen den Traum haben, dass ihr Song im Radio gespielt wird und ihnen Geld einbringt, aber weiter als bis zum Nachtprogramm einer einsamen Radiostation in den Rocky Mountains werden sie es nie schaffen, und die gepressten Platten, Kassetten und CDs wandern meist vom Presswerk direkt in die Ramschkisten. Das liegt auch oft daran, dass einerseits die Texte meist schlecht bis bizarr sind, andererseits die Musiker, die diese Texte vertonen, wenig Zeit und Interesse haben, ihren Job zu erledigen. Doch gelegentlich führt diese Kollision von Laien und Profis zu Kunstwerken von bizarrer Schönheit. Und dies war bei Rodd Keith bemerkenswert oft der Fall.
In Los Angeles lernte Keith seine zweite Frau Joni kennen und sie hatten eine Tochter namens Stacey, doch auch diese Ehe hielt nicht, weil Rod zu leichtlebig war und an einem normalen Familienleben weniger Interesse hatte als an halluzinogenen Drogen. Dafür "prostituierte" er sich nach eigener Aussage in der Song-Poem-Industrie und sang, komponierte, arrangierte und spielte Klavier unter Pseudonymen wie "Rod Rogers", "Ron Davies" und "Rodd Keith". Manchmal nahm er 30 Songs an einem Tag auf, um dann wieder tagelang im Drogenrausch zu versinken. Sein unglaubliches musikalisches Talent befähigte ihn dazu, damit tatsächlich durchzukommen, auch wenn er mit seiner Leidenschaft für Wortspiele und Rückwärtssprechen seinen Mitmenschen immer unverständlicher wurde. Am 15. Dezember 1974 fiel er von einer Brücke des Santa Monica Boulevards auf den darunter liegenden Freeway, wurde mehrfach überfahren und starb. Keiner weiß, ob es ein Unfall war oder geplant für eine Filmszenenidee, die er 2 Wochen vorher erwähnt hatte. Jahrelang wusste niemand, wer Rodd Keith wirklich war, und erst die Suche seines Sohns nach Spuren seines Vaters brachte seine Identität ans Licht.
Was aber am meisten an dieser Musik fasziniert und auch irritiert ist ihr zeitloser Klang. Anders als bei der traditionellen Popmusik lassen die Aufnahmen in den seltensten Fällen Rückschlüsse auf den Entstehungszeitpunkt zu. Sie können in den 60ern, 70ern oder 80ern oder erst gestern aufgenommen worden sein, sie klingen doch immer merkwürdig neben der Spur des Mainstreams und wie aus einen Paralleluniversum herübergeweht. Dabei sind sie technisch durchaus fortschrittlich, war Rodd Keith doch schon Besitzer eines Chamberlains, einem Mellotron-Vorläufer, mit dem schon in den 60er Jahren Streicher und andere Instrumente imitiert werden konnten. Auch arbeitete Rodd mit Studioprofis aus Los Angeles zusammen (wer anderes wäre in der Lage, bei dem Arbeitspensum saubere Arbeit in Serie abzuliefern, wo auf James Bond-Filmmusikartiges eine Lied über einen neuen Tanz, dann etwas psychedelisches und danach eine Beatsong a la Beatles oder Ray Davies folgt, und wer ist dabei in der Lage bei einem Fehler eines Musikers so zu reagieren, dass es hinterher wie Absicht klingt?) und behielt dabei seinen Arbeitsstil, die Songarrangements erst in der letzten Minute fertig zu stellen, bei. Auch wenn Rodd seine Arbeit als "kommerziellen Müll" bezeichnete, so war es doch sein Ehrgeiz, auch unter solch rigiden Arbeitsbedingungen sein Bestes zu geben.
Aufnahmen von Rodd Keith außerhalb der Song-Poem-Industrie sind bisher unbekannt außer einem fast 30-minütigen Band unter dem Künstlernamen "Shome Howe Jehovason", dass aus einer bizarren Ansammlung von Geräuschen, Textbrocken wie "six six sick" und rückwärtsgespielter Orgel besteht, dadaistischer als es sich je ein Krautrockhirn hat vorstellen können, freejazzig improvisiert ohne nach Freejazz zu klingen. Sicher das Ergebnis einer seiner Drogenphasen, aber ohne die künstlerische Kreativität von Rodd Keith undenkbar. Was hätte er uns für wunderbare Musik geben können, wenn er eine Chance außerhalb der Song-Poem-Industrie erhalten hätte. Ein Talent, dass sich selbst verschwendet hat. | |||
Musik
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© 04-11-2003 by Martin Fuchs / Mehr Tote? / Zurück zu den Lebenden?