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       Peter Schmid: 
      Erlöser Marx mit der Hakenkreuzkrone
      Sicherheitsnadeln statt Perlen: Punk spricht die Sprache des schamlosen 
        Schocks
      Rasierklingen, Ketten und T-Shirts mit unzweideutigen Bildern sind 
        die Symbole der neuen Jugendhysterie. Die Punk-Generation protestiert 
        gegen ein Leben ohne Aussicht.
      
         
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          Die Angst vor der Zukunft, die schiere Hilflosigkeit, das schwächliche 
            Naturell, das neurotische Wesen tarnen sich mit vielerlei aggressiven 
            Uniformen - als Henker, als Sado-Dandy, als Scherge, als Nutte. 
            Fotos: Camera-Press/Hendricks | 
         
         
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      Solange die Musik laut genug dröhnt, hören 
        wir die Welt nicht aus den Fugen brechen." Ohren-, zerschrnetternder 
        Rock: nichts hat treffender seinen Sinn definiert als dieser Satz. Er 
        stammt aus dem Film "Jubilee", der, im Titel an die Feiern des 
        vergangenen Jahres anspielend, buchstäblich mit einem Donnerschlag 
        Weltuntergangsrealität hinter dem Heile-Welt-Schaugepränge aufreißt. 
        Magischer Hokuspokus gestattet der großen ersten Elisabeth, durch 
        die Zeiten lugend, das Ende der Zivilisation unter ihrer Nachfolgerin, 
        Elisabeth der Zweiten, zu erleben. 
        Ein ruchloser Medienzar regiert über Westminster Abbey und Buckingham-Palast, 
        den er in ein Rockplattenstudio für Punks umgebaut hat. Wir erleben, 
        wie gesagt, die exquisitesten Scheußlichkeiten, Crabs, die Nymphomane, 
        kastriert ein Polizistenschwein mit einer Eisenstange so gründlich, 
        daß in den Todeswindungen die ganzen Gedärme aus der offenen 
        Bauchhöhle fallen. Einen nächtlichen Geliebten steckt sie am 
        Morgen ermattet in einen roten Plastikabfallsack und wirft ihn erstickt 
        in die Themse. Pyromanin Mad - ein Teufelchen mit kurzgecouptem Rothaar 
        - setzt mit ihrem ständigen Spiel- und Feuerzeug einen Souvenirladen 
        in Brand und verwandelt das Antlitz der retterisch herbeieilenden Besitzern 
        mit bloßen Fingernägeln in ein formloses, blutendes Knäuelfleisch. 
        Dieser fast zärtliche Sadismus ist das Merkmal eines neuen Jugendkultes, 
        für den "Jubilee" genauso die filmische Konsekration bedeutet 
        wie "Das gelbe Unterseeboot" für die Beatles. 
        Die Boutique in Chelseas Kings Road, von der aus die Punks mit 
        der Gruppe der Sex Pistols ihren Siegeszug antraten, hieß 
        früher "Sex" und wandelte sieh, unter Beibehaltung der 
        ersten zwei Buchstaben. in sinnträchtiger Metamorphose in "Sedition" 
        (d.h. "Aufstand"). Vergangenes wird nicht verleugnet: Die knallgelbe 
        Ladenfront ist mit einem Chaos von Schriftzeichen überdeckt wie auf 
        alten Palimpsesten, ein Text über dem andern, in gegenseitiger Verwirrung. 
        Sex: ständig lebenskreierende Überwältigung - es liegt 
        nicht weit von der Revolution. Ohne Ziel, ohne Sinn freilich, programmiert 
        in schwarzen Lettern auf einer aufgehängten Britenflagge mitten im 
        Laden. "Anarchy in U. K." 
        Blick dich um. Bilderbuch der Vernichtung an den Wänden: ausgebombtes 
        Berlin 1945. Und vorn, hinter der Kasse, steht der intakte Picadillyplatz 
        von London auf dem Kopf, samt roten Autobussen und Passanten. Genauso 
        symbolisch auf dem Kopf wie der gekreuzigte Christus auf den T-Shirts, 
        die an einem Ständer zum Verkauf hängen. Das Bild des Menschensohnes 
        ist überdruckt mit einem Hakenkreuz. "Ich bin ein Antichrist", 
        zitiert die Schrift, darunter einen Song der Sex Pistols: "Ich 
        bin ein Anarchist. Ich weiß nicht, was ich will, ich weiß 
        nur, wie ich es mir beschaffen muß." 
        Ziellose Aggression: Wer im Marx-Bild auf einer ebenfalls verkäuflichen 
        Bluse ein Bekenntnis erwittert, sieht sich durch ein Nazi-Hoheitszeichen 
        als Krone auf seiner Stirn widerlegt. Hakenkreuze auf roten Berets überdecken 
        ein auch pornographisches Knäuel von Cunnilingus und Fellatio: es 
        braucht schon Mut, sich mit sowas auf die Straße zu wagen. Aber 
        dem dient ja alles, was hier (zu saftigen Preisen) für die jugendliche 
        Kundschaft zum Verkauf steht: dem Schock. Die feierlichen schwarzen Jacken 
        mit einem malerischen Dessin unzähliger Reißverschlüsse 
        an den sinnlosesten Stellen, die Hundeketten, die wie Orden an Rücken 
        und Brust klirren: nichts hat eine Funktion, alles spricht ebenfalls nur 
        eine instinktive Sprache: die des Schocks, der Inkongruenz, des Widerspruchs. 
        Statt Perlen und Diamanten baumeln Sicherheitsnadeln am Ohrläppchen, 
        statt schöner Festlichkeit predigen die häßlichen Symbole 
        billigster Alltäglichkeit den brutalen Nihilismus der Punks. 
        In dieser Häßlichkeitsmanie freilich offenbart sich eine Variante 
        zwischen den Geschlechtern. Komm eines Abends mit ins "Roxy", 
        das vergammelte Kellerlokal bei Covent Garden, das sich unter dem Patronat 
        Andy Czezowskis, eines Cockneys polnischer Abstammung, aus einer Homosexuellendiskothek 
        in das Londoner Hauptquartier der Punks durchgemausert hat. Gleich nach 
        Entrichtung von 1 Pfund Eintrittsgeld wirst du gebeten, eine Petition 
        für die Erhaltung des Lokals zu unterzeichnen. "Alle sind gegen 
        mich", klagt Andy, "alle wollen die Kids hier loswerden, die 
        Nachbarn, die Gemeindeverwaltung, die Polizei. Auch die andern Nachtklubs 
        scheuen ihre rüden Manieren. Das Roxy' ist ihre letzte Zuflucht 
        geblieben." 
      Die Arbeitlosen-Muße 
        Die Kids... Die Jungen, die unten betrunken auf zerschlissenen und verkotzten 
        Polstern dösen, sehen im kühlen Neonlicht bleich wie Leichname 
        aus, als hätten sie wochenlang nicht geschlafen, frische Luft geatmet. 
        Ihre rattenhafte Insolenz verhindert das Gespräch (abgesehen vom 
        Donnern der Kapelle), und man verliert nicht viel dabei: nichts als dumpfe, 
        antiintellektuelle Einsilbigkeit. Anders die Mädchen: gewiß, 
        auch keine Philosophinnen; aber das Haar, in allen Farben des Regenbogens 
        schillernd, teils maskulin zu Bürsten geschnitten oder kunstvoll 
        zu einer Art Krone verzupft, die dominohaft umrandeten Augen darunter 
        putzen sie zu wunderlichen Feenwesen auf. Wenn das Auge sich in tieferen 
        Regionen an den aus schwarzen Minis strahlenden, in schwarze Fischnetzstrümpfe 
        mündenden weißen Schenkeln labt, fühlt sich der Beobachter 
        gar von einem Hauch Erotik berührt, einer Sentimentalität, welche 
        die männlichen Punks längst in biologischer Krudheit oder verächtlicher 
        Ich-Vergottung zermalmt haben. 
        Nein, in ihrer desolaten Sachlichkeit ist kein Raum mehr für Gefühl; 
        selbst dem Tanz fehlt die Orgiastik. Statt ekstatisch sich tummelnder 
        Paare steht jeder. und jede allein, vibriert Im dröhnenden Rhythmus 
        onanistisch vor sieh bin. Ab und zu greift einer plötzlich ein Mädchen, 
        irgendeines, und wirft sich über ihm auf den Boden. So unsittlich 
        es aussieht, wie alles an diesen Punks: Impotenz kaschiert sieh am liebsten 
        durch Kraftmeierei. 
        Der Verdacht geht weiter. Im amerikanischen Knastjargon heißen Punks 
        die Lustknaben, die ihren hinter Gittern frustrierten Kollegen ihre Jugend 
        verkaufen. Als "verdorben", "verhurt" ist das Adjektiv 
        schon aus dem 16. Jahrhundert bekannt. Pornobilder auf den T-Shirts des 
        "Sedition"-Punk-Shops lassen an homosexueller Deutlichkeit nichts 
        zu wünschen übrig. Aber vielleicht will das, genau wie Hakenkreuz 
        und Marx-Bildnis, auch nur eines: schocken. Epater le bourgeois. 
        Jeder, der den Starpunk Johnny Rotten persönlich traf, fühlt, 
        daß seine privaten Manieren sein speiendes, heulendes und kotzendes 
        öffentliches Image Lügen strafen. Schon der Name ("rotten" 
        heißt "verfault, verdorben") ist eine Maske: John James 
        Lyton, wie er wirklich heißt, hat sich und seinen Sex Pistols 
        die Rolle des ungebärdigen, an den Gitterstäben des Establishments 
        rüttelnden Scheusals regelrecht von seinem Manager Malcolm McLares, 
        dem jungen Inhaber der "Sedition"-Boutique, einpauken lassen. 
        Die Zeichen der Zeit schrien nach Neuheit. Der klassische Rock der Beatles, 
        der Rolling Stones und ihrer Imitatoren hatte sich in kapitalistischer 
        Business-Routine festgefahren. Aus dem Protest einer scheinbar aussichtslosen 
        Jugend in den Slums von Liverpool geboren, war er in den Händen gerissenen 
        Unternehmer zum Millionengeschäft degeneriert. Technische Perfektion, 
        Persönlichkeitskult und luxuriöses Highlife der Stars verflüchtigte 
        das Gefühl, das die gleich frustrierten Fans in Text und Beat erfüllte, 
        schnell zur Künstlichkeit. 
        Aus dieser Entfremdung von seinen Wurzeln einerseits, einer Popularisierung 
        seiner Technik andererseits - so schwer war es nicht, den Großen 
        ihre Tricks abzugucken! - war die Zeit reif geworden für einen neuen 
        Pop, näher bei den Graswurzeln, empirisch experimentierend, amateurhauft 
        unvollkommen, aber spontaner, ehrlicher. Im industriellen, europäischen 
        Milieu wiederholte sich, was in Jamaika aus halb ländlichen, mystisch-religiösen 
        Wurzeln zu Weltgeltung aufgestiegen war: der melancholische Protest des 
        Reggae, geboren aus dem düstern Irrsal der Städte. der Langeweile, 
        der Arbeitslosenmuße. Gut, junge Briten fühlen und reden härter 
        als die karibisch-tropischen Schwarzen. Was bei diesen als dumpfer Weltschmerz 
        summt, schreit sich hier aggressiver raus. 
      Namen erregen Furcht 
        Aber auch hier bleibt es Maulrevoluzzertum, ohne Aktion, ohne Zielkonzept. 
        "Die Punks haben keine Philosophie", bekennt einer von ihnen, 
        "außer daß sie dauernd der Presse vorlügen, sie 
        hätten eine. Alles, was ihre Bewegung gebracht hat, ist ein bestimmter 
        Spielstil, eine neue Art der Kommunikation mit dem Publikum. Entweder 
        bist du gut drin oder nicht: das ganze Kriterium." Die Eingeweihten 
        setzen hinter tragische Deutungen wie "Arbeitslosenrock" ihre 
        Fragezeichen. Die "Sex Pistols" übertreiben angeblichen 
        Nihilismus zu so maßloser Unflätigkeit und Destruktivität, 
        daß die Medien und darauf sogleich auch die um ihre Gratispropaganda 
        betrogenen Plattenfirmen ihnen die Zusammenarbeit aufkündigen. Ihre 
        Blasphemie macht nicht einmal vor einer der geheiligten Institutionen 
        der Nation halt, der Monarchie. 
        "God save the Queen. / Das faschistische Regime hat dich zur Idiotin 
        gemacht, einer potentiellen H-Bombe. / God save the Queen, / sie ist kein 
        Menschenwesen. / Es gibt keine Zukunft / in Englands Träumen, / keine 
        Zukunft, keine Zukunft, / keine Zukunft für dich..." 
        Ein so blöder Text, daß er nicht einmal mehr schockt, scheint 
        es dem Außenstehenden. Aber die Plattenfirma Vergins, die dem Boykott 
        trotzte und das Sakrileg verlegte, erlebte, zum grünen Neid der Konkurrenz, 
        daß es innerhalb von ein paar Tagen an die Spitze der Bestsellenliste 
        kletterte... 
        Obwohl offenbar die ikonoklastischen Pistols, positiv wie negativ, einen 
        Lebensnerv der Nation berührten, trat sie der fortdauernde Boykott 
        doch tödlich. Rotten suchte den Erfolg in Amerika, wo er sich jedoch 
        in San Francisco mit seiner Gruppe überwarf. Diese reiste weiter 
        nach Brasilien, schiffte mit dem einzigen noch freien legendären 
        Postzugräuber Ronny Biggs den Amazonas hinunter und redete gar von 
        einem Filmprojekt mit dem großen Kriminalhelden. 
        Aber obwohl Johnny Retten, ohne Band zurück in London, vorläufig 
        verstummt ist, führt Punk seinen Siegeszug weiter. In Dutzenden, 
        Hunderten von Gruppen und Grüppchen, die da und dort auftauchen, 
        mit ein paar hundert Pfund eine Platte gravieren und Ihr Glück versuchen. 
        Ihre Namen verraten den alten Rebellengeist: "Die Verdammten", 
        Die Würger", "Die Zertrümmerer" ("The Clash"). 
        Sie singen nicht nur, sie schreiben auch: Unzählige Fan-Zeitschriften, 
        billig hektographiert und zusammengeheftet, liegen in den Platten-Boutiques 
        aus, sogenannte Fanzine, alle ähnlich hilflos in ihrem stammelnden 
        Aufbegehren: "Sniffing Glue", "Skum", "Septic 
        Ears", "Ghast up", "Ripped and Torn"... 
        Manche dieser Gruppen verschwinden ebenso schnell wieder in der Anonymität, 
        wie sie hochgeschossen. Andere brechen mit massiven Markterfolgen in die 
        Dolce vita durch, wie etwa die "Verdammten" oder die "Zertrümmerer". 
        Nicht ohne damit jener selben Ansteckung zu verfallen, die sie am klassischen 
        Rock tadelten: daß ihr Reichtum sie ihren proletarischen Wurzeln 
        entfremdet. Das beseelt als Thema auch ihre innere Fehde: Die "Zertrümmerer", 
        die vor allem hartnäckig ihr sozialrevolutionäres Image verteidigen, 
        weigern sich, sich mit den angeblich kommerziell prostituierten "Verdammten" 
        auch nur zusammen fotografieren zu lassen... 
      
         
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          | Die Mode aus der Mülltonne breitet sich auch auf deutschen 
            Schulhöfen schon aus. | 
         
       
      MoIokel zur Schlägerlatte 
        Das pluralistische Bild der Punk-Szene macht es schwierig, die Frage zu 
        beantworten, ob die Punks ihren Höhepunkt bereits überschritten 
        haben, Wenn z. B. eine neue Gruppe unter der Etikette von "Squire 
        Rock" den klassenbewußten Snobismus Edwardischer Landaristokratie 
        aufwärmt, die Sicherheitsnadeln, Ketten und pornographischen T-Shirts 
        mit Spazierstöcken, modischen Tweedjacken und Monokeln ersetzt, ist 
        solche traditionalistische Renaissance bloß der Widerspruch einiger 
        elitärer Nonkonformisten oder die Schwalbe einer konservativen Stilwende? 
        Eines ist sicher: Die Rock-Szene Londons ist heute erneut in dasselbe 
        Intermezzo tastenden Suchens getreten, in dem die Punks vor zwei Jahren 
        ihre Chance fanden. Heute vertreten sie noch eine unter vielen Stiltendenzen. 
        Daß Ihre Sprache bei der heutigen Jugend ankommt" (oder ankam), 
        zwingt uns, sie ernst zu nehmen, genauso wie die Hippies der sechziger 
        Jahre den Sehnsüchten ihrer Generation einen legitimen Ausdruck gaben. 
        Die Langhaarigen schmückten sich mit Blumen dösten Im Haschischrauch, 
        sprachen von Liebe und Frieden. Die Punks mit ihren rasselnden Ketten 
        haben von Drogen auf Alkohol umgeschaltet, predigen Haß und Gewalt. 
        Aber im Grunde repräsentieren sie, wie der Soziologieprofessor Simon 
        Frith von der Universität Warwick ausführt, dieselbe Klasse 
        von Bohemiens, welche von jeher die britische Rock-Szene bestimmte. 
        Beide Phänomene, die Hippies wie die Punks, sind einerseits, im Inhalt, 
        diametral verschiedene Antworten auf die Verlockungen und Probleme der 
        industriellen Konsumgesellschaft; andererseits haben sie in ihrer Essenz 
        einen Grundzug gemeinsam: romantisch, realitätsfremd und darum ungefährlich 
        zu sein. Die Punks mögen noch so ohrenbetäubend gegen das Establishment 
        donnern: der Weltuntergang findet nicht (oder völlig anders) statt. 
       (Quelle: Deutsche Zeitung Christ und Welt 18.August 
        1978) 
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