Mit Sicherheitsnadeln gegen Langeweile

Das Phänomen des "Punk Rock"-KuIts in Großbritannien

Erkennungssymbole des Punk: Hundehalsband und Lederriemen, Sicherheitsnadeln in Wange, Ohr oder Nase, knallrot oder grün gefärbte Haare.
M. Schweitzer

Kings Road, Chelsea, ist unbestreitbar die Wiege von Swinging London wie seines begleitenden Konsumfetischismus und damit auch seiner letzten Ausdrucksform, des sogenannten "Punk Rock". "Punk" läßt sich mit Fäule, Auswurf, Abschaum übersetzen. Allerdings sieht der kleine elegante Laden, Nummer 430, am nicht mehr feinen Ende der Kings Road kaum nach einem Kulturzentrum grotesker Unflätigkeit aus. Seine Namensveränderungen alle paar Monate - "Seditionaries (Die Aufwiegler) steht heute auf dem Ladenschild, davor war es noch "Sex",' dann "Too fast to live, too young to die", "Let it rock" und "New wave" - beleuchten die dreijährige Erfolgslaufbahn eines modernen Kults, dessen notorischste Repräsentanten die "Sex pistols" sind. Ladenbesitzer ist der 28jährige Malcolm MacLaren. Manager und geistiger Vater dieser englischen Musikergruppe. Seine Partnerin ist Vivienne Westwood, 36jährig, die wie ihre Verkäuferinnen mit gebleichten, stachelig zu Berg stehenden Haaren und königsblauen Augenschatten den charakteristischen Punk-Look propagiert und der ausländischen Nachfrage, zumal in Japan, den USA und in der Bundesrepublik, kaum nachkommen kann. Mit dem Erfolg sind auch die Preise gestiegen. Die Punk-Mode ist schon fast nur mehr einer schicken Elite erschwinglich, z. B. der "Sklavinnen-Anzug" mit zusammengeketteten Hosenbeinen, die nur zum Gehen, aber nicht zum Laufen befähigen (600 Mark), Lendenschürze, T-Shirts mit provozierenden Aufschriften (20 Mark). "Wer meine Kleider trägt, ist der Konfrontation sicher", sagt Vivienne Westwood.
Junge weibliche Kundschaft betritt leicht zögernd den Laden hinter der Mattglasfassade. Man fürchtet und hofft zugleich, daß einem drinnen von Johnny Rotten (rotten = FäuIe), dem Führer der Sex-Pistols, in die Augen gespuckt werde. Wenn sie wieder die Straße betreten, sind sie zu wahren "Rock Horrors" geworden, kurzgeschoren, mit weiß angemalten Gesichtern, in Fischnetz- oder eng anliegenden Latex-Strumpfhosen und Bikinihöschen, behängt mit Toilettenketten und Rasierklingenschmuck, gespickt mit Sicherheitsnadeln. Dem männlichen Punk-Geschmack wird auf Kings Road 153, bei "Boy", entsprochen, mit paramilitärischem Zeug und Kleidung aus der fernen guten alten Zeit der 50er und 60er Jahre. An den Wänden hängen vergilbte Zeitungsausschnitte und Fotos von Charles Manson und seinen Opfern. Ein Plakat zeigt einen blutend auf der Erde liegenden Teenager, darüber bedrohlich die schweren Gummistiefel eines jugendlichen Rowdys mit der zynischen Aufschrift: "Die Stärke einer Nation ist ihre Jugend" (Adolf Hitler). Da die Seditionares offenbar schon etwas zu elitär geworden sind, werden ihnen gelegentlich von authentischeren Punks Ziegelsteine ins Fenster geworfen.
Von den korrumpierenden Auswirkungen des kommerziellen Erfolgs und Arriviertseins ist auch Punk nicht gefeit. Die großen Grammophongesellschaften haben sich die Rock-Gruppen gesichert trotz des von den Sex-Pistols im britischen Werbefernsehen verursachten Skandals, der zur zeitweiligen Aufkündigung ihrer Verträge und Konzerte führte. Eine gewisse "Deodorisierung" ist jedoch spürbar. Man spricht weniger von "Punk" als von der "New Wave", der "neuen Welle". Rock-Gruppen wie "Damned" (Die Verdammten) durften im Kinderfernsehen auftreten, die "Jam" und "Stranglers" (Erwürger) sind in die höchste Popularitätsklasse, die "Top of the Pops", eingegangen. Paul Weiler, der 19jährige Rock-Sänger, der durch ihr gepflegtes Erscheinen überraschenden "Jam" hat deren Absicht, in den nächsten Unterhauswahlen konservativ zu wählen, angekündigt. Nur die "Clash" und "Sex Pistole" sind zu keiner ideologischen Verwässerung des aggressiven Punkstils bereit. Sie wollen weiter Spiegel einer häßlichen Gesellschaft sein, Vorkämpfer einer Umwälzung, deren Tendenz unbestimmt bleibt. Johnny Rotten, der mit Zusammengeschnallten Knien auftritt und mit bleichem Gesicht die ihn umjubelnde Zuhörerschaft anpöbelt und bespuckt, sagt: "Wir sind nicht in Musik, sondern im Chaos." Man hat ihn sehr treffend als eine Bühnenverkörperung des Bösen charakterisiert, wie sie eine Mischung von Shakespeares Richard III., "der Hölle schwarzer Spürer", und des jugendlichen Verbrechers Pinky aus Graham Greenes Roman "Brighton Rock', der romantisch die Verdammnis als Erlösung sieht, ergeben würde. Die "Clash" tragen farbige paramilitärische Anzüge mit vielen Reißverschlüssen. Wie Künder einer kommenden Katastrophe singen sie zornige Lieder wie "London in Flammen". Die Zuhörer sind mit den Füßen, hingerissen, stampfen mit den Füßen, spucken nach Punk-Gepflogenheit zurück, erheben sich zu "Pogo"-Tänzen, einer Nachahmung des "Köpfers" beim Fußballspiel, die häufig zu Prügeleien führen und zur wahren Krönung eines erfolgreichen Punk-Konzerts, der Einlieferung ins Krankenhaus.
"Punk" ist als ein neuer Fundamentalismus zu verstehen. Ähnlich wie die sogenannten "Skinheads" ("Gescherten") in höchgeschürzten Hosen und schweren Stiefeln und die britischen Fußballvandalen gegen Blumenkinder und Psychedelismus ("Make Love, not War") reagierten, rebelliert die Punk-Jugend gegen die Rockidole von gestern, gegen Rod Stewart und David Bowie, die multinationale Erfolgskonzerne geworden und ihren Fans entrückt sind Die Punks wollen zurück zu der wenig ausgefeilten Rockmusik der 50er Jahre. Heute läßt sich kaum mehr unterscheiden zwischen den Musikern auf der Bühne und denjenigen die zahlen, um zuzuhören. Jeder kann sich eine billige Gitarre leisten, eine Gruppe bilden "etwas aus sich machen" und sich den Teufel um Pyrotechnik scheren, zu der die Rockmusik ausgeartet war.
Viele Einflüsse haben den Punk Stil geprägt: der Nihilismus der Rock-Sänger New Yorks, amerikanische Popmaler wie Jasper Johns und Robert Rauschenberg. Lederkleidung, zerrissene Hemden, Reißverschlüsse, haben fetischistische Bedeutung. Dunkle Brillen, schmutzuge Regenmäntel mit hochgestellten Kragen erinnern an die nordirischen Provos, Sicherheitsnadeln und Rasierklingenschmuck an die Transvestitengefolgschaft Andy Warhols. Krawatten sind wieder Mode, aber nicht als Zierde, sondern als dünner Strick um den Hals gebunden wie bei James Dean oder vorzugsweise ganz ohne Hemd. Punk ist klassenbewußt proletarisch. Wer unter den Punk-Sängern das Pech hat, aus bürgerlichem Elternhaus abzustammen oder auf der Schule eine gepflegte Aussprache mitbekommen hat, unterdrückt dies beschämt. Die Seelenwäsche wird nur mit billigen Amphetamin-Sulphaten vollzogen. "Sniffing Glue" (Klebeleimduft inhalieren) ist der bezeichnende Name der führenden, primitiv gedruckten Zeitschrift der englischen Punk-Rock-Gemeinde.
Punk ist Anti-Intellekt, Anti-Politik. Bilder von Marx und Hitler, Hakenkreuze werden ohne tiefere Bedeutung als nur gleichermaßen faszinierende wie abstoßende Symbole des Bösen auf der T-Shirt-Brust getragen. In den Sommermonaten hatte Chelsea als besondere Touristenattraktion sonnabends ausgetragene Straßenschlachten zwischen den Punks und ihren modischen Gegnern, den Teddy Boys, zu bieten. Die Teds tragen lange Schoßröcke mit Samtkragen und enge Hosen wie zur Zeit Eduards VII. vor dem ersten Weltkrieg und gelten als die Konservativen und Königintreuen. Die Punks in Leder und Sicherheitsnadeln gefallen sich in einem Anarchismus, der aber wenig mit Proudhon oder der "Neuen Linken" gemeinsam hat. Beiden Gruppen gemeinsam ist jedoch das heute in der Jugend Albions weitverbreitete Schicksal der Arbeitslosigkeit - über 250 000 allein unter den 20jährigen sowie eine damit verbundene, in den modernen Betonwüsten noch viel spürbarere Langeweile und Entfremdung von jeglicher Autorität.

Roland Hill

(Quelle: Hannoversche Allgemeine Zeitung 11.11.1977)


Fresse / Information Overload