Ein Gespenst geht um in der Rock-Szene. Das Gespenst heißt Punk-Rock
      Die häßliche Revolte
      "Ich werde dir die Fresse polieren / Ich werde dich 
        umnieten / Ich werde dir die Zähne einschlagen / Ich werde dir die 
        Knochen brechen ..." Solche und ähnliche Angebote bekommen Englands 
        und Amerikas Rockfans seit gut einem Jahr zuhauf. Diesmal nicht von den 
        unverständigen Rednecks am Nachbartisch in der Snackbar und der Bier-Kneipe, 
        sondern von neuen Rockbands, die zur Zeit wie Pilze aus dem Boden schießen. 
        Und das in den Clubs und Pubs, in denen sich die Rockfreunde bislang wohl 
        und zu Hause fühlten. 
        Ein Gespenst geht um in der Rockszene. Das Gepenst heißt Punk-Rock. 
        Ihre "Nettigkeiten" adressieren die Musiker keineswegs an imaginäre 
        Bösewichte aus ihren Songtexten, sondern unverblümt an ihre 
        Zuhörer und Anhänger. Zwischen den Zeilen sammeln sie mitunter 
        etwas Spucke und verteilen sie mehr oder minder gezielt über die 
        vorderen Reihen. Sie kippen ihre Becher nicht immer nach hinten aus und 
        kicken die Bierdosen schon mal locker über die Rampe. 
        Dazu machen sie einen Höhenlärm. Nicht mit 20 000 Watt, dazu 
        fehlt's ihnen am Geld. In den Klubs und Kneipen, den Vorstadthallen und 
        Aulen, auf die die Punk-Bands noch immer beschränkt sind, reichen 
        auch paar hundert oder tausend bis zweitausend Watt, um die Fans platt.zuhämmern. 
        Fast wichtiger als die obligate Lautstärke ist das Tempo. Die Punk-Rocker 
        entpuppen sich als wahre Dauer-Sprinter. Sechs Songs in zehn Minuten ist 
        ein ansehnlicher Schnitt. Sie rattern ihre aggressiven Stücke nur 
        so herunter. Feuern sie ab, wie Salven aus dem Maschinengewehr. Das geht 
        mit Höchstgeschwindigkeit los und hört mit demselben Zahn auf. 
        Keine Spur von Aufbau und Entspannung, ohne Punkt und Komma. Folglich 
        ohne Höhepunkte. 
        Sie pfeifen darauf, wie sie aussehen. So scheint es, wenn man sie sieht. 
        Aber sie pflegen ihre Zerschlissenheit. Sie erzeugen die Abnutzung auch 
        künstlich, wenn es sein muß. Malcolm McLaren, der Mentor und 
        Manager der Sex Pistols, erinnert sich daran, wie ihm sein späterer 
        Schützling Johnny Rotten (19) zum erstenmal über den Weg lief: 
        "Ich mochte seinen Kleidungsstil." Rotten tauchte immer wieder 
        in der Boutique des ehemaligen Kunststudenten McLaren auf, in einem Anzug, 
        den er vorher zerschnitten und mit Sicherheitsnadeln wieder behelfsmäßig 
        zusammengeflickt hatte. Johnny ist innerhalb eines Jahres zum Enfant Terrible 
        Großbritanniens und zum Prototyp des Punk Rockers avanciert. Seine 
        kurzen Haare stehen störrisch in die Luft und sind grün und 
        orange gefärbt. Seine Unterarme zeigen häßliche Brandmale 
        von Zigarettenkippen, die er sich daselbst ausgedrückt hat. 
      
         
            | 
         
         
            | 
            
            (1) Sicberheitsnadeln, Hundeleinen, Nazi-Symbole und Schminke stehen 
            für ein Gemisch aus Armut, Protest und Brutalität 
            (2) Sado-Masochismus in der Show von Cherry Vanilla 
            (3) lm US-Punk geht es mehr um Witz und die Koketterie mit der Bisexualität: 
            Wayne County 
            (4) Punks im Londoner Roxy Club 
            (5) Johnny Rotten  | 
         
         
            | 
            | 
         
       
      Die Musikpresse reagierte zuerst mit schweigsamer Verachtung. 
        Doch hat sich die Einstellung innerhalb des letzten Jahres rapide gewandelt. 
        Selbst wenn in vielen Redaktionsstuben immer noch dieselbe Geringschätzung 
        vorherrscht, den außerordentlichen Reizwert des Punk-Rock haben 
        die meisten erkannt. Belustigt sich Johny Rotten: "Es gibt bereits 
        mehr Artikel über Punk-Bands als Punk-Rock-Songs, geschweige denn 
        Platten." 
        Die bewußt aufmüpfigen Frechheiten von diversen Punkern kamen 
        auch der Tagespresse zupaß. Im ganzen vereinigten Königreich 
        brach Anfang des Jahres ein Sturm der Entrüstung los, als Johnny 
        Rotten den Fernseh-Interviewer BiII Grundy in einer Live-Sendung als "dirty 
        fucker" und "fucking rotter" (etwa: dreckiger Scheißkerl 
        und verdammter Quatschkopf) beschimpft hatte. Im allgemeinen muß 
        man Buhmänner erst suchen, die Punk-Rocker bieten sich freiwillig 
        auf dem Tablett an. Als Rotten dann noch in derselben Sendung der Queen 
        einen neuen Sex Pistols-Song widmete, hatten die vier Sex-Pistolen den 
        Rubycon überschritten. Ihr fester Plattenvertrag von 40 000 Pfund 
        mit EMI, dem größten Schallplattenkonzern der Welt, platzte 
        nach Tagen öffentlicher Kontroversen. 
        Trotz landesweiter Achtung schloß wenige Wochen später der 
        Plattengigant A&M mit den Sex Pistols einen Zweijahres-Vertrag über 
        150 000 Pfund (615 000 Mark) ab. Nach nur sieben Tagen und einer Schlägerei 
        der Sex Pistols mit dem TV-Musikmoderator Bob Harne kündigte A&M 
        den Vertrag wieder auf. Nicht ohne die Band mit 75000 Pfund zu entschädigen. 
        Über die Gründe der Trennung herrscht Rätselraten. 
        In jedem Fall fragt man sich, weshalb eine scheinbar so systemfeindliche 
        Band wie die Sex Pistols so scharf auf system-konforme Geschäfte 
        mit der Plattenindustrie ist. Dabei propagieren sie die Herrschaftslosigkeit 
        im Vereinigten Königreich ("Anarchy in the UK'). Dabei bezeichnen 
        sie das derzeitige England als faschistisches System. In ihrer letzten 
        Single "God Save the Queen", die in 25 000 Exemplaren gepreßt 
        und kurz darauf wieder eingestampft wurde, heißt es: "Gott 
        schütze die Königin, ein faschistisches Regime / Es macht einen 
        zum Idioten, ist gefährlich wie eine H-Bombe / Gott schütze 
        die Königin, das unmenschliche Wesen / Englands Traum kennt keine 
        Zukunft." Dabei demonstrieren sie eine bewußt häßliche 
        Anti-Ästhetik, die die Verhältnisse nicht verschleiern, sondern 
        die Unterprivilegiertheit hervorheben soll. Da musizieren sie bewußt 
        an den aufwendigen und geschliffenen Klangwelten der Yes, Pink Floyd, 
        ELP, des Elton John und anderer Rock-Millionäre vorbei. Rauh und 
        grob poltern ihre wenigen Platten durch die Stereo-Anlagen, Ohren und 
        Hirne der Rockfans. Aber anders als zum Beispiel April Records in Deutschland 
        oder Love Records und Silence Records in Skandinavien entwickeln die Punk-Rocker 
        keine alternativen Systeme. 
        Johnny Rotten klingt nicht ganz glaubwürdig, wenn er sagt: "Was 
        sich hier abspielt, soll nicht nur wie ein Aufstand gegen die Musik-Szene 
        aussehen. Verdammt nochmal, es ist einer." 
        Wenn Rat Scabies von der Punk-Band The Damned (Die Verdammten) mit einiger 
        Berechtigung feststellt, daß die berühmten Bande alle reich 
        geworden sind und vergossen haben, wo sie eigentlich herstamrnen, dann 
        kann man nicht übersehen, daß Punk-Kollege Rotten und Co. in 
        wenigen Wochen über 400 000 Mark Abfindungen für geplatzte Verträge 
        bekommen haben und noch viel mehr bekommen hätten, wenn die Verträge 
        erfüllt worden wären. Die Plattenindustrie liegt auf der Lauer, 
        aus den Punk-Bands ihre Umsatzbringer von morgen zu rekrutieren. Bis zur 
        unverwindbaren Majestätsbeleidigung ist sie bereit, alles zu schlucken. 
        Rock hatte schon immer mit Auflehnung zu tun. Hatte sich ein neuer Stil 
        erst mal Bahn gebrochen, wurden Fragen der Form wichtiger als des Inhalts. 
        Dann wurde Unterhaltung wichtiger als Aussage. Punk-Rock ist eine Spielart 
        der ständig wiederkehrenden Revolten aus dem Untergrund. Diesmal 
        bäumt sich eine Gruppierung auf, die sich nicht nur gegen die herkömmlichen 
        Autoritäten durchzusetzen hat, sondern auch gegen die in den letzten 
        Jahren frisch etablierte Hierarchie der Rock- und Popwelt. 
        Der Aufstand gegen die Neureichen der Rockwelt war abzusehen. 
      Winfrid Trenkler 
      (Quelle: Musik JOKER 2.5.1977 - Musik JOKER war ein 
        Produkt des Axel Springer-Verlags) 
     |