Die Revolution ist vorbei - wir haben gesiegt!

"Rassistisch" nannte die "Prawda" den Punk-Rock, während einige Vulgär-Marxisten darin eine neue linke Jugendbewegung sehen. Alfred Hilsberg versucht in diesem Artikel, etwas Licht in das Dunkel der Widersprüche zu bringen. Im 2. Teil (März 77) beschreibt er die Entwicklung der Punk-Szene in der Bundesrepublik.

Dover: Die ersten Sonnenstrahlen, seit wir dem gerade verschleyerten Westdeutschland den Rücken gekehrt haben. Die Karten .für das Stiff-Package-Concert in London warten schon; drei Pfund, auf dem Schwarzmarkt natürlich. Plötzlich: Regenmäntel, Hüte im Gesicht, Hände in den Taschen, Helme, Handschellen. Fünf Stunden "Interview". Der Bobby - in Westberlin gibt es sie als "Kobs', Kontaktbereichsbeamte - erzählte von seinem Sohn, der auf Punk steht. Ich will's nicht hören. Bisher bin ich in England ohne Wörterbuch ausgekommen, Jetzt ver1ange ich nach einem Dolmetscher. Ich bin nicht sicher, ob die Frage wirklich lautet: Ist Ihr Großvater auch schon Punk-Rocker gewesen?
In der Einzelzelle haben die ihre Namen in die Wände geritzt, für die die strengen Einwanderergesetze des Vereinigten Königreichs gedacht sind: Pakistani, Inder, Jamaikaner, Afrikaner. Statt Elvis Costello live sehe ich Feuerwehren im Traum, die den großen Punk-Brand löschen sollen. Sie treten in den Streik. Joe Strummer und die Clash werden Streikführer.
Die Neonlampe an der Decke spiegelt sich auf der Glatze eines englischen Beamten; "Sie sind ausgewiesen!" Hier an der Küste funktioniert die Feuerwehr noch. Ich gebe nicht auf, will erleben, wie die kids of the street das Establishment von der Bühne fegen. Geschickt überwinde ich die französischen Grenzhindernisse und treffe fast unbemerkt in burning London ein. Irgendwo in Kentish Town glimmt eine Müllhalde.
Ehe ich kalte Füße bekomme, kriege ich einen ganz heißen Tip: "Heute abend, ‚Rochester Castle'."
Eine Stunde Autofahrt durch Punk-leere Straßen hoch im Norden. Ein Pub wie viele andere. So lässig wie diese Gruppe habe ich noch keine auf die Bühne stolpern sehen. Der Typ da in der Mitte hat Augen, von denen ich keinen Blick lassen kann. Selbst die beiden "daduhadaduha"-Schwestern seitwärts am Mikrofon tun seinem Charisma keinen Abbruch. Fast hätte ich Mick "Slaughter" Ronson übersehen, der in abgewetzten Jeans seine hängenden Soli abzieht. Phil Rambow gehören die Augen. Vor Jahren hat er mit seiner Gruppe Winkies ein sehr männerfreundliches Plattencover gemacht. Er zelebriert satten, perfekten Rock'n'Roll der 70er. Und ich dachte schon, das gäb's nicht mehr. Die paar Punks vorn an der Bühne kommen mit ihrem Pogo-Tänzchen nicht zurecht. Zufrieden krieche ich in mein Hotelbett.
Listen, punk and listen good/ The city is a machine an infirmary a mad house a jungle / Fight like fuck to be real / Which means feel feel feel
Der Punk aus Edinburgh, dessen Poem ich lese, scheint nur die adäquate Antwort auf Johnny Rottens Anarchie-Gebete zu sein, nämlich die Aufforderung zur Praxis zu liefern. Punk ist für ihn vielleicht die erste Chance im Leben, wie für alle desillusionierten Jugendlichen ohne Schulabschluß, ohne Arbeit, ohne Identität. Etwas tun, ob in einer Band, oder auf der Straße, beim Marsch gegen die Faschisten der Nationalen Front.
Mark P. (19) war einer der Punks der "ersten Stunde". Damals Bankangestellter im verschlafenen Deptford, südlich Londons gelegen, sah er die amerikanische Gruppe The Ramones und verstand ihre Zelle all the kids want something to do als Aufforderung an sich selbst. Allein gründete er das erste Fanzine, "Sniffin Glue", mit einer 200er Auflage, handvertrieben. Heute hat "S.G." eine weltweite Auflage von 20000. In Nr. 3 1/2 (1976) lese ich jetzt: "Ich will nicht, daß die Pistols, die Clash usw., in AC/DCs, in Doctors of Madness umgedreht werden. Diese New Wave muß überall drin sein, sie muß Poster haben, eigene Plattencover, Bühnenshows, alles. Ihr wißt, sie kommen bald, alle großen Firmen, um aus den jungen, neuen Bands' noch mehr Geld rauszuholen. Sie sollen sich verpissen..." Zwei Dutzend Fanzines sind inzwischen auf dem Markt. Unabhängige Platten-Label schießen wie Bands aus dem Boden: Sensible Records, Raw, Illegal, Pogo, Sponge, New Hormones, Rabid, unter den ersten sind auch Chiswick und Stiff. Seit Jahren zum erstenmal gibt es wieder die schönen picture steeves für Singles. Unabhängige Läden kümmern sich um den Vertrieb: Rough Trade und Bizarre haben anfangs fast ein Monopol auf dem Punk-Markt, weil keiner sonst die Platten ins Sortiment nimmt. Mark P. und andere Punks bombardieren inzwischen die Musikzeitungen der "alten Fürze" mit Leserbriefen; "Sniffin Glue" schreibt zu seinen Plattenkritiken: "Kauft die Platten unserer Bands, damit die großen Firmen endlich aufwachen und ihnen einen Vertrag geben!" Der Kampf um die Institutionen hat begonnen.
Aber die sich breit entwickelnde Subkultur des Punk erscheint der Industrie noch nicht lohnend zum Anbeißen. Ein paar Schlagzeilen in der Boulevard-Presse müssen her. Die Punks liefern sie selbst: in der Kings Road tragen sie ihre Schlachten gegen die Teddie Boys aus. Wer gewinnt, wird verhaftet. Und der Daily Mirror schreit es raus: "Kleiner Junge Opfer von Punk-Schlägereien." Mick Jones und Robin Crocker versuchen, in "Sniffin Glue" gegen diese Tendenzen anzugehen: "Laßt euch nicht von den Zeitungen sagen, wo es langgeht, sonst wird Weihnachten alles vorbei sein. Sprüht eure eigenen Parolen!" Fünf englische Punk-Singles in den Charts des "New Musical Express": Tom Robinson Band, Elvis Costello, Sex Pistols, Boomtown Rats und The Jam. Was ist seit dem Sommer geschehen?

Rough Trade

Mark "der Schnüffler" Perry am Schreibtisch
Punk der 2. Generation als Kunden bei Rough Trade

"Wir wollten gute Rock'n' Roll-Gruppen pushen, alles außerhalb des kommerziellen Betriebes, was uns gefiel. Außer den Feelgoods tat sich nicht viel bis vor zwei Jahren. Wir hatten die Skydog-Platten geholt, die Flamin' Groovies, und wir merkten, daß hier eine irre Nachfrage war. Auch die MC 5 und Stooges haben wir wieder eingeführt. Und eines Tages kam Chiswick mit den Count Bishops raus, und dann die erste Eddie & The Hot Rods-Single. Das ging lange vor den Sex Pistols los. Wir haben mit diesen ersten Platten - von Eddie haben wir ein Drittel der Pressung verkauft - den Markt für andere geöffnet."
Bizarre versteht sich als alternative Platten-Distribution. Postversand für Einzel- und Groß-Besteller, ein Lastwagen, der von Laden zu Laden führt. Drei Leute, Tim, Larry und Steve, leben heute davon, aber richtig zufrieden sind sie nicht: "Als die ersten Singles in die Charts kamen, änderte sich alles. Alles, was zwischen den Gruppen und den Leuten lief, wurde durch die Verträge zunichte gemacht. Wir haben uns selbst auch nicht genug drum gekümmert. Da konnte eine Firma wie Lightning kommen und den Plattenfirmen sagen, daß wir die Scheiben erst vier Tage nach ihnen kriegen sollen."
Ohne sich und die anderen aber können sich die Bizarre-People solche Bewegungen wie den Punk nicht vorstellen: "Wenn die kleinen Label eine Platte rausbringen, erregen sie dann z.B. durch unseren Vertrieb die Aufmerksamkeit der Konzerne. Aber jetzt wollen alle in die Charts. Da sind nicht mehr viele, die sich um das Publikum kümmern. Das ist alles Big Business. Selbst bei den Clash und Johnny Thunder (früher bei den New York Dolls) merkt man, wie die von den großen Firmen verheizt werden."
Steve von Rough Trade hält die Clash weiter für nette Jungs: "Aber guck sie dir an, was sie mit dem Geld machen. Die tragen nicht mehr - wie noch '76 - selbstgemachte Sachen, die kaufen sich jetzt Maßkleidung. Das ging alles viel zu schnell mit der Mode", scheint Steve zu resignieren. Vor fast zwei Jahren haben er und Geoff, der mit neuen Ideen aus den USA zurückkam, diesen unabhängigen Plattenladen in der Nähe der Portobello Road eröffnet. Ein breites Sortiment, von Reggae bis Punk, alt und neu.
Fast alle Fanzines sind im Laden zu haben, der im Hinterhof seinen Versand betreibt. Gerade das ständig expandierende Geschäft hat Steve seiner Illusionen beraubt: "In England sind 90 Prozent der Punk-Records großer Quatsch. Ich kann sie nicht mehr unterscheiden."
Die sechs Rough Trade-Leute wissen, daß die Punk-Bewegung ihnen viel verdankt. Anlaß genug zur Reflexion: "Was jetzt passiert, ist Imitation. Alle machen das nach, was vor einem Jahr erfunden wurde. Wir können jetzt an einen Punkt kommen, wo es nicht mehr zu vertreten ist, auch alle die Platten zu verhökern, die uns nicht gefallen." Seine politischen Intentionen hat Steve trotz der Widersprüche der Punk-Szene nicht aufgegeben: "Wir haben hier eine perfekt organisierte Gesellschaft, aber manche Leute glauben noch immer, sie lebten auf 'ner Wolke. Deshalb gibt es auch in dieser Rock-Szene so wenig Konfrontation mit der Gesellschaft in der Richtung: Was muß geändert werden? Die Rough-Trade-Leute stehen auf Reggae. Sogar aus dem Süden Londons kommen die Farbigen, um hier "ihre" Musik zu kaufen. Im Süden finden sich keine Punk-Graffitis, dort beherrschen die Farbigen in ihrer Armut und mit ihrer Kultur das Bild der heruntergekommenen Stadtviertel. Steve: "Ich finde es wichtig, wenn die weißen Kids auch ihre eigenen Sachen machen würden, genauso wie die Farbigen ihre eigene Kultur entwickeln. Und deshalb reden wir mit den Kids darüber, die in den Laden kommen." Früher hat er es auf den Gigs der Gruppen getan, dort aber findet keine Kommunikation mehr statt: "Die meisten haben sich zurückgezogen, in ihre Zimmer, hören die Platten und warten darauf, daß Johnny Rotten im Fernsehen erscheint."
Sommer '77. "No More Heroes" von den Stranglers, Nummer 1 in England. Steve: "Diese Bands reden nur noch mit Managern und anderen Bands, aber nicht mehr mit dem Publikum. Johnny Rotten, der Anti-Christ, wie er sich in einem seiner Stücke nannte, genauso Joe Strummer, sie sind Helden geworden. Wie die Rock-Gruppen in der Vergangenheit."
DJ Don Letts, Farbiger, Rasta, im ehemaligen Punk-Mekka "Roxy", greift die Punks frontal an: "Wenn jemand zu mir sagt: ‚Was willst du?', dann kann ich es ihm sagen. Wenn ich es nicht kann, sollte ich schleunigst abhauen. Diese Kids, die können dir nichts sagen, und das ist schrecklich, weißt du? Die kümmern sich um ihre Klamotten, anstatt ihren Kopf zusammenzuhalten. Die haben diese ganze Energie - aber keine Richtung... Anarchie, diese Fucker wissen nicht, was das bedeutet, die wissen es einfach nicht."
The punks don't know nothing/ The Stones don't know nothing/ The hippies don 't know nothing/ The bosses don 't know nothing/ - But nobody cares.
(Mark P.)

An historischer Stätte, im "100-Jazz-Club", wo vor eineinhalb Jahren der erste große Punk-Gig stattfand, tritt Mark P. mit seiner Band Alternativ T.V. auf. Wayne County ist da, die Electric Chairs, die Adverts, einige angetrunkene Punk-Miezen in Halbseide. Marks Message bringt nur müden Beifall. Einige verwirrte Jazz-Fans verlassen den Keller. Im "Speakeasy" gleich nebenan, gibt's noch was zu Trinken. Diätbier. Und Frankenstein zelebriert Diät-Rock dazu. Das reißt nicht mal die sektschlürfenden Jungunternehmer vom Hocker.

Swastikas

The Electric Chairs & Wayne County (mit Pudelmütze)
The Menace - die große Bedrohung?

Aus einem Kilometer Entfernung ist er unschwer auszumachen: der schwergewichtige Ted Carroll von Chiswick Records schleppt Riesenkartons von einem Haus ins andere. Ich helfe ihm, so daß er ein paar Minuten Zeit hat: "Wir sind kein Punk- oder New Wave-Label, wir hatten die Idee schon '74, als noch keiner davon geredet hat. Klar, zwei, drei Punk-Bands haben wir. Aber schon die Radio Stars, das sind doch mehr pop-orientierte Jungs. Schon mal was von Whirlwind gehört? 17 bis 20 Jahre, die machen Rockabilly, da müssen wir ein Auge drauf haben." Ted Carroll blickt durch. Früher war er Manager der Thin Lizzy, dann machte er "Rock On" auf, einen Laden vor allem für Oldies und Beat-Platten: "Auch die Sex Pistols haben hier ihre Yardbirds gekauft. Überhaupt ist die ganze Sache heute mit dem Beat-Boom der 60er vergleichbar. Viele Kids werden ermutigt, sich 'ne Gitarre zu greifen. Einige sind gut, schaffen den Durchbruch, andere nicht. In den 80er Jahren werden die Leute jedenfalls alles sammeln, was jetzt herauskommt, und einige Gruppen von heute werden erst dann richtig entdeckt. Um heute groß rauszukommen, brauchst du einen kommerziellen Anspruch, ein Image, ein gutes Management."
Mark P. ist mit anderen Idealen eingestiegen, zunächst mit "Sniffin Glue" dann mit der Gründung von Step Forward, Faulty Products und anderen Labels, und jetzt mit seiner Band Alternative T.V. Seit einem halben Jahr residiert dieser ungewählte, aber umsomehr als Orakel befragte Ober-Punk in einer Hinterhof-Etage in der Oxford Street. John Cale geht ein und aus, Alternative T.V. hat neulich eine Tour mit ihm durch Frankreich gemacht. Ein Mitglied von Menace kommt gerade reingestürzt, die Anpressung der ersten Single unterm Arm rauf auf den quietschenden Plattenspieler, los geht's. Ich bekomme eine mit, ich würde sie sonst auch schnell vergessen. "Die Plattenfirmen", erzählt mir der Drummer, "die wollten monatelang nichts von uns wissen, jetzt hören sie uns. Da hat uns Mark sehr geholfen."
Mark ist immer noch gefragt in einer Szene, die "keine mehr ist", wie er behauptet. "Ich fühle mich nicht als Teil einer Bewegung. Die Massenblätter, die ‚Sun', ‚News of the World', haben eines Tages die Punk-Bewegung als Mode verkauft, und die wenigsten haben es gemerkt. Das ist ganz schlecht gewesen, wie das mit der Mode gelaufen ist." Wer vor zwei Jahren auf Roxy Music stand, muß heute eine Scheibe der Sex Pistols im Schrank haben. Mark Perry sucht sich die Rosinen aus dem Nachlaß heraus: "Ich hatte zuwenig Möglichkeiten mit ‚Sniffin Glue'. Du weißt mit der Zeitung nicht, was die Leute drüber denken, wie sie reagieren. Anders auf der Bühne, wo sie dich sehen und du mit ihnen kommunizieren kannst. Man muß selbst was machen, nicht sich was vormachen lassen durch andere. Die Clash und die Pistols schaffen es. Wenn du stark bist, schaffst du es auch."
Diese verrottete englische Gesellschaft, scheint so verkommen nicht zu sein, wenn sie noch in der Lage ist, die ausgeflipptesten Ideen zu integrieren. Mark sieht weniger Resignation bei sich selbst, sondern Probleme bei den anderen: "Bei den Musikern hat eben jeder andere Ziele, das läßt sich nicht zusammenbringen. Und von den Kids aus der Arbeiterklasse weiß doch keiner, wie Revolution gemacht werden soll. Das kommt aus der Mittel-Schicht, von denen, die am Tisch sitzen und über Anarchie reden. Die Kids wollen ein Bier haben, 'ne gute Band sehen und ihre Ruhe haben. Ich jedenfalls will auch meinen Spaß haben, und was jetzt läuft, ist das Beste für mich."
Steve von Rough Trade erinnert an den Pariser Mai'68: "Da war eine andere Bühne, da entwickelten die Leute ihre Sache selbst, da wurde die Kultur von der Straße, auf der Straße, für die Straße produziert. Hier geh'n sie in die Clubs und bezahlen, um etwas über Anarchie vorgesungen zu bekommen." Die Bizarre-People urteilten ebenso: "Bis auf Ausnahmen können wir diesen englischen Punk nicht mehr hören. Das ist in dem ganzen industriellen Zusammenhang eine Mode geworden: goldene Sicherheitsnadeln und Diamanten, die du auf der Kings Road kaufen kannst. Die Ideologie der Musik trat hinter die Mode-Ideologie zurück. Die Anarchie ist integriert worden."
Zweifellos: der Punk hat Hunderttausenden klar gemacht, welche Schein-Welt ihnen für teures Geld durch eine kaum noch dimensionierbare Technik auf Bühne und Platte vorgemacht wurde, ohne daß das mit ihrem Leben etwas zu tun hatte. Der Punk hat dem Rock'n'Roll wieder Leben eingehaucht. Die Träger der ideologischen und ökonomischen frühen Strukturen des Punk aber waren nicht in der Lage, das geweckte Potential zu nutzen und den verbalen Anspruch von "Großstadt-Musik", von einer eigenen Kultur, praktisch durchzusetzen. Die Suche nach einer Identität erschöpft sich weitgehend in einem ritualisierten Gruppenverhalten, das sich weniger in Ideologien oder Programmen, sondern vielmehr in Zeichen und Symbolen von den herrschenden Normen abhebt. Dieter Baacke hat diese Erscheinungsform einer nichtartikulierten Opposition bereits 1970 als "sprachlose Opposition" bezeichnet. Die Jugendlichen lassen sich emanzipatorische und antizipatorische Inhalte immer noch von einer auf derartige Innovationen angewiesenen Industrie aus der Hand nehmen.
Wo die milliardenträchtigen Unterhaltungskonzerne bei der Eroberung der 14-bis 20jährigen Punk.Generation noch Skrupel haben könnten, kommt ihnen deren vermeintliche Avantgarde wohl unfreiwillig zu Hilfe: die Vorarbeit von Fanzines und kleinen Labels wird ergänzt durch Punk-eigene Shops, in denen auch Hakenkreuze, die Swastikas, aus Metall und Stoff feilgeboten werden. Das Symbol der Nazi-Herrschaft kann jedoch - folge ich den Aussagen der meisten Exponenten des Punk und auch den soziologischen Deutungsversuchen - kaum als Ausdruck faschistischer Tendenzen gewertet werden. Die Swastikas gelten in England eher als Symbol der Provokation gegenüber den heute 50jährigen und ihrem vom Zweiten Weltkrieg und dessen Folgen geprägten Weltbild. Und angesichts der Erkenntnis, unter einer möglichen Herrschaft der National Party in England nichts mehr zu lachen zu haben, wird inzwischen von einigen Punks das Tragen solch zumindest zweideutiger Symbole eindeutig abgelehnt. Die Identitätssuche der Lost Generation nimmt denn auch zeitgemäßere, d.h. vor allem visuelle Züge mehr an als traditionelle Reliquien.
Von grün gefärbten Haaren bis zur schwarzen Plastikhose gebraucht die New Wave - wenn inzwischen auch überwiegend vorfabrizierte - Möglichkeiten der Abgrenzung von vorherrschenden Klischees. Die Monotonie der Musik war neues Element insofern, als sie adäquates Ausdrucksmittel für die in den Liedern beschriebene Frustration in der kapitalistischen Gesellschaft war. Die pessimistische Abkehr von der Welt der Betonsilos, Bartträger und Bullen forderte bis hinein in die Fanzines eine Ästhetik der Armut: Handwerkszeug der Fans und der Bands, auf den frühen Plattenhüllen zumindest, waren Filzschreiber und Xerox-Kopierer. Die von Urvätern des Punk in England erhobene und in Ansätzen realisierte Forderung nach einer eigenen Bestimmung von Inhalt und Form in Musik und Sprache, auf der Bühne und auf den Plattenhüllen, wurde aber schon bald nicht länger von Bands und Fans selbst organisiert. Die Widerspiegelung der Polaroid- und IBM-Welt und deren sichtbarstem und fühlbarstem Ausdruck, der Unwirtlichkeit der großen Städte, fand wie die Mode ihre Nachahmer in der Kulturindustrie. Fast alle auf dem Markt befindlichen Mode- und Musik-Magazine operieren heute mit einem Layout perfektionierter Montagen aus vorgefertigten Fotos und Zeitungs-Schlagzeilen.

l'art pour l'art

Der Konkurrenzkampf unter den Punks führt zum Rückgriff auf traditionelle Verkaufsmuster. Bei inzwischen - schätzungsweise - 500 Singles und an die 100 LP's genügt zur Unterscheidung nicht mehr ein von der Gruppe selbstgefertigtes Cover. Spontane und kreative Ausdrucksformen dadaistischer oder gar konstruktivistischer Anklänge, wie Generation X sie angewandt hat, sind zurückgedrängt worden durch raffinierte, fantastisch kolorierte und lackierte Hüllen selbst bei den billigen Singles.
Die zweite Generation der Punk-Gruppen in England - von Sham 69, Menace, Maniacs und The Stoat bis zu Rikki & The Last Days Of Earth, muß die skurrilsten Ideen realisieren, um sich von den etablierten Gruppen der "ersten Stunde" zu unterscheiden. Warsaw Pakt beispielsweise hat neulich ihre erste LP in der Rekordzeit von kaum zwei Tagen bespielt, gepreßt und mit fertigem Cover in die Läden gebracht. Vielleicht wird da in erster Linie für das "Guiness Book of Records" produziert.
Schneller als mein angepunkter Verstand es sich hat träumen lassen, ist wiederum in der Geschichte des Rock'n'Roll eine I'art-pour-l'art-Landschaft entstanden, in der Ausnahmen fast ebenso kurios wirken müssen: Die Leute um "Rock Against Racism", einige junge Typen aus der linken Szene, haben sich unter dem Slogan "Love Music - Hate Racism" vor gut einem Jahr zusammengefunden, um überall im Land Propaganda zu machen gegen Rassismus und Faschismus. Ihre Aktivitäten brachten Tausende in die Säle, z.B. beim gemeinsamen Gig einer Reggae-Formation und der Punk Band Generation X. Was ihren tatsächlichen Einfluß ausmacht, kann vielleicht an der Stellungnahme Mark P's abgelesen werden: "Ich bin auch Anti-Rassist und Anti-Faschist. Aber ich habe was dagegen, von einer bestimmten Richtung eingenommen zu werden, auch nicht von den commis (Kommunisten)." Rasta Don Letts wagte es in seinem Interview in "Sniffin Glue", solchen Tendenzen zu widersprechen: "Punk Rock nervt mich, weil die mir immer noch erzählen wollen, daß das was Neues ist... Ich bin 21 und ich kann sehen: es geht vorbei. Es verschwindet, unglücklicherweise." Chiswick-Manager Ted Carroll zieht Bilanz auf seine Weise: "lt's only Rock'n' Roll!"
Am Kiosk sehe ich eine mir bis dahin unbekannte Zeitschrift. Acht Mark. Vierfarb-Kunstdruck. Schlagzeile für die Seiten 111 bis 117: "Punk Fashion, eine brutale Schock-Mode, aufregendste Neuheit seit Erfindung des Mini-Rocks - Häßlichkeit verkauft sich gut!" "Esquire" heißt die Zeitschrift. Und im Untertitel: Der Erfolgreiche. Vielleicht sollte sie sich deutlicher umbenennen: "Die Revolution ist vorbei, wir haben gesiegt."

Alfred Hilsberg

Fotos: Alfred Hilsberg

(Quelle: SoundS 2/78)


Fresse / Information Overload