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             Telephone - alte Schulkameraden gegen die allgemeine 
              französische Tristesse 
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Paris, Februar '79. Malcolm McLaren, Ex-Manager der Sex-Pistols, verläßt Hals über Kopf England und sucht in Paris Zuflucht. Gewandet in einen Schottenrock, trägt er eine auf blasbare Puppe spazieren, die den verstorbenen Sid Vicious verkörpern soll.
Von Elisabeth Daniere
 Während er hämisch grinsend mit der Puppe 
        spielt, erklärt er den anwesenden Journalisten: "Ich habe das 
        Spiel mit dem Punk verloren. In England will man mir den letzten Penny 
        wegnehmen, und außerdem habe ich alle Rechte an der Pistols-Doppel-LP 
        THE GREAT ROCK' N' ROLL SWINDLE und dem gleichnamigen Film verloren. Man 
        hat mir sogar angedroht, daß man meinen Modeladen schließen 
        werde. Ich bin jetzt an allem schuld; ich soll eine ganze Generation verdorben 
        haben. Ich meine, wenn dem so ist, dann bin ich wirklich stolz darauf. 
        Aber das Ärgerliche ist, daß Johnny Rotten und Richard Branson 
        (Chef der Virgin Rec.) den Streit um alle Rechte gewonnen haben. 
        Wie dem auch sei, ich bin nun hier in Paris, um wieder ganz von vorne 
        anzufangen. Und ich werde es schaffen!"
        John Lydon (alias Johnny Rotten) hat allerdings noch lange nicht gewonnen. 
        Im Dezember wurden er und seine neue Band Public Image vom Pariser Publikum 
        ausgepfiffen. An diesem kalten Winterabend starb für die französischen 
        Fans ein Idol - und mit ihm die bis dato uneingeschränkte Glaubwürdigkeit 
        des Punk, "made in England".
        Ende letzen Jahres begann eine merkwürdige Werbekampagne. Vor allem 
        in den U-Bahn-Stationen konnte man die Plakate finden, die da verkündeten: 
        "Michelangelo, Bach, Voltaire, Pasteur, les Beatles ... eine neue 
        Vorstellung von Europa!"
        Die Beatles? Wird man in den kommenden Jahren einmal vom Euro-Rock sprechen, 
        so wie man heute schon vom Europa-Parlament spricht? Bis dato war das 
        mit der Rock-Musik doch eher eine einseitige Chose; der Hauptlieferant 
        war und ist immer noch England.
Keine Fernsprechteilnehmer?
England, Februar '79. Steve Hillage ist auf Tour und zieht Tausende von 
        Besuchern an. Im Vorprogramm spielt eine unbekannte Rockband namens Telephone. 
        Zwar klingt der Name der Gruppe universell, doch das Publikum ist eher 
        verdutzt, singen Telephone doch tatsächlich in Französisch. 
        So 'was Lächerliches, hätte man vor Jahren garantiert noch gedacht. 
        Heute jedoch scheint Französisch "in" zu sein; so brachte 
        z.B. der "NME" eine Titelgeschichte, die provokativ fragte: 
        "Voulez-vous danser avec moi? - Is Britain ready for French Rock?" 
        Zwei Bands scheinen es den Engländern besonders angetan zu haben: 
        Little Bob Story aus Le Havre und die Lou's. Die Lou's, vier junge Damen, 
        wurden von einem gewissen Marc Zermati produziert. Zermati war der Mann, 
        der das Mont de Marsant-Punk-Festival initiierte und dabei die Clash "entdeckte". 
        Heute sitzt er - zu zehn Jahren verdonnert - in einem französischen 
        Knast. Anklagegrund: Verkauf von Rauschgift an Minderjährige.
        Die französische Punk-Welle hatte für meine Begriffe von Anfang 
        an "no future", und überhaupt sangen ja Little Bob Story 
        und die Lou's in Englisch. Auf der anderen Seite gehörten z.B. Telephone 
        nie zur Punk-Bewegung, obwohl sie just zu dieser Zeit auftauchten. Heute 
        sind sie mit 100.000 verkauften Debüt-LPs die populärste französische 
        Rock-Band. Doch seltsamerweise wurden ausgerechnet sie von der hiesigen 
        Rock-Presse stiefmütterlich behandelt. Man warf ihnen vor, sie seien 
        zu demagogisch. Und was haben Telephone zu ihrer Verteidigung zu sagen?
        Jean-Louis (Leadsänger): "Der Rock'n'Roll in Frankreich lebt 
        in einer Getto-Situation. Je populärer man wird, desto weniger akzeptabel 
        ist man auf einmal. Und wird mal eine Platte im Funk gespielt, dann hat 
        man sich gar ans internationale Showbusiness verkauft. Wehe, wir als Rock-Band 
        benutzen einmal die Medien .... Doch wir tun es; für uns gehört 
        das Fernsehen ganz einfach zum Alltag. Und wenn im Fernsehen einmal Rock-Musik 
        gezeigt wird, dann tritt sie auch in den Alltag des Zuschauers (ca. 40 
        Millionen), wird zu seinem Alltag, zieht ihn aber gleichzeitig aus der 
        Eintönigkeit dieses Alltags und läßt ihn eventuell sogar 
        über seine Situation nachdenken."
        Telephone, das sind vier alte Schulkameraden: Leadsänger und Gitarrist 
        Jean-Louis, Schlagzeuger Richard, Gitarrist Louis und das Fräulein 
        Corinne an der Baßgitarre. Ihre Musik hat viel von den Stones, das 
        gilt ganz besonders für die Texte, die den Aufstand der Jugendlichen 
        gegen ihre Eltern besingen, vom Mangel an Liebe und Selbstvertrauen handeln 
        und die allgemeine französische Tristesse anprangern.
        Im November '77 gaben Telephone in Paris ein Free-Concert. Zu diesem Zeitpunkt 
        existierte die Band erst ein paar Monate. Nach Ende des Konzerts wurden 
        über 5000 Besucher gezählt, darunter ein Toter. Ein Jugendlicher 
        war am Ausgang grundlos von Unbekannten niedergestochen worden. Für 
        die Presse war das natürlich ein gefundenes Fressen, über Rock-Musik 
        und Gewalt vom Leder zu ziehen.
        Auf die Frage, ob er heute eine neue französische Rock-Bewegung sehe, 
        antwortet Jean-Louis: "Für mich ist das Wort Rock' ver- 
        und mißbraucht. Eigentlich gab's das schon im letzten Jahrhundert 
        zur Zeit der Romantik, nur hat man's da noch nicht so genannt. Rock-Musik 
        ist eine Jugendbewegung, die vom Musiker wie auch seinem Publikum getragen 
        wird. So gesehen gibt es tatsächlich eine neue Bewegung in Frankreich, 
        aber das ist noch lange nicht das, was die Engländer als New 
        Wave' bezeichnen. Unsere sogenannte Nouvelle Vague' überdeckt 
        eine nie vorhanden gewesene alte Welle, wohingegen die englische New 
        Wave' tatsächlich die Beatles und Konsorten überflutete. Doch 
        in unseren Medien klingt es so, als hätten wir den Platz unserer 
        Schlagerfritzen eingenommen."
Higelin, einsamer Weltraumfahrer
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             Jacques Higelin singt links von der Seine 
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Ihren Erfolg haben Telephone zu einem großen Teil Jacques Higelin 
        zu verdanken, der ihnen den Weg ebnete, als er es Anfang der siebziger 
        Jahre als erster wagte, Rock'n'Roll mit französischen Texten zu singen. 
        So gesehen könnte man ihn fast mit Udo Lindenberg vergleichen.
        Higelin: "Ich habe lange geglaubt, ich könnte eine französische 
        Identifikation erzwingen ... Ob es mir gelungen ist, weiß ich nicht. 
        Ich habe lange an diese Idee geglaubt und verteidige sie auch jetzt noch; 
        weniger für mich selbst, als für die vielen französischen 
        Musiker, damit diese endlich aufhören, sich schuldig zu fühlen. 
        Aber im Grunde genommen ist es mir gleich, ob Leute in Französisch, 
        Englisch oder Chinesisch singen. Frankreich ist ein Land voller Überraschungen, 
        doch ständig wird man mit diesen alten Klischees konfrontiert - Champagner, 
        Mode, das Casino de Paris, Sacha Distel, Charles Aznavour usw. Wir haben 
        eine eigenständige Musik in Frankreich; woran es uns mangelt, das 
        ist der Mut, sich zu ihr zu bekennen. Unser Minderwertigkeitskomplex ist 
        eher auf ein wirtschaftliches Phänomen zurückzuführen; 
        die internationale Geschäftssprache ist halt Englisch, und noch immer 
        regiert der Dollar die Welt!"
        Jacques Higelin fing als Schauspieler und Erzähler an, zu einer Zeit, 
        da Paris in zwei intellektuelle Lager gespalten war: da gab's das "Paris-Rive-Gauche" 
        (auf dem linken Ufer der Seine) und das "Paris-Rive-Droite" 
        (auf dem rechten Ufer der Seine). Das Paris auf der Rechten umfaßte 
        die reichsten und rückständigsten Viertel der Stadt - Les Champs 
        Elysees, die Museen, die Botschaften, die Tulerien usw., wohingegen das 
        Paris auf der Linken von allen linken Intellektuellen wie Sartre, Simone 
        de Beauvoir und Boris Vian favorisiert wurde. Das Quartier Latin und besonders 
        St. Germain des Pres waren die bevorzugten Treffpunkte hier.
        Jacques Higelin war ein sog. "Chanteur Rive-Gauche" was soviel 
        hieß, daß er engagierte Texte schrieb. Doch 1968 war schnell 
        vergessen, und danach tauchte Higelin mit einem neuen Image auf: Der Bart 
        war verschwunden, seine Haare waren kurz, er trug hautenges Leder und 
        spielte nun puren Rock'n'Roll. Zwar schrieb ihn nun die linke Intelligentia 
        sofort ab, doch dafür erklärten ihn jetzt die Jugendlichen zu 
        ihrem neuen Helden.
        Auf der Bühne wie auch auf seinen Platten besingt Higelin in schönen 
        Worten sein Leben: die freie Liebe, die Pariser Huren (die Higelin ob 
        ihres Mutes und ihrer Aufrichtigkeit bewundert), seine einsamen Nächte 
        mit der Flasche, die Gewalt der grauen Vorstädte, die unbeschwerte 
        Kindheit ... Das französische Fernsehen nennt ihn heute "Frankreichs 
        Rock'n' Roll-König". Doch sieht er in seinem silbernen Overall 
        nicht unbedingt königlich aus; eher wie ein Weltraumfahrer, der euch 
        zwischen zwei Reisen einen Besuch abstattet, euch zu 'ner Tasse Kaffe 
        einlädt und euch von der beängstigenden Schönheit der Gestirne 
        erzählt.
        Manchmal aber übermannt ihn der Schmerz, da bricht er in Tränen 
        aus, versucht seinen Kummer zu ersaufen, und dann irrt er wie ein Kind, 
        das sich verlaufen hat, durch die Pariser Nacht.
        Nach zahlreichen ups und downs ist es ihm gelungen, sein 
        Leben in wahrhaft herzzerreißender Aufrichtigkeit zu leben und zu 
        besingen und trotz seiner 38 Jahre als Leader der neuen französischen 
        Rock-Generation von den Jugendlichen anerkannt zu werden.
        Zur Zeit ist er in New Orleans, wo er an einem neuen Album arbeitet.
        Higelin: "Diese Reise ist für mich eine Art Reise an den Geburtsort 
        des Rock'n'Roll, eine Suche nach den Wurzeln der Entwurzelten, womit ich 
        vor allem jene Leute meine, die einst aus Frankreich auszogen, um in Amerika 
        die Stadt La Nouvelle Orleans zu gründen."
Voulez vous danser avec moi?
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             Bijou 
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             Serge Gainsbourg 
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Bleiben wir doch gleich bei den Wurzeln, denn da kommen einem sofort 
        Bijou in den Sinn - drei smarte Jungs aus der Pariser Vorstadt, gewandet 
        in allerneusten sechziger Jahre Chic. Und das kommt nicht von ungefähr, 
        mit den Beatles, mit den Pirates, (und sogar, man höre und staune) 
        mit Jacques Dutronc und Serge Gainsbourg, deren Lieder sie auf der ihnen 
        eigenen Weise energievoll nachspielen.
        Palmer, der Sänger, starrt zwar vorwiegend durch eine dunkle Brille 
        finster in den Saal, aber so verbissen darf man das nicht sehen, denn 
        Bijou (was soviel wie Schmuckstück oder Schatz bedeutet) sind ganz 
        nette Jungs mit einer Vorliebe für hübsche Mädchen und 
        absurde Witze.
        Ihr ironisches Gehabe und ihre lieben kleinen Perversionen vermochten 
        vor allem Serge Gainsbourg zu begeistern. Gainsbourg, in Deutschland vor 
        allem durch "Je t'aime" bekannt - jenen Stöhn-Duett-Hit 
        mit seiner Frau Jane Birkin, der '68 zum Sommerhit wurde - gehört 
        in Frankreich zu den gefeiertsten Musikern und Komponisten und schrieb 
        für Bijou sofort einen Hit namens "Betty Jane Rose". So 
        viel Gefallen fand er an dieser Gruppe, daß er es sich nicht nehmen 
        ließ, beim letzten Pariser Konzert von Bijou auf die Bühne 
        zu klettern und mit ihnen einen Titel zu singen. Etwas befremdlich ist 
        allerdings die Tatsache, daß der gute Serge seit jenem denkwürdigen 
        Abend trotz seiner fünfzig Lenze zur "Nouvelle Vague Francaise" 
        zählt. Zwar hatte er vorher schon mit der LP NAZI-ROCK eine ernsthafte 
        Parodie auf den Punkrock vorgelegt, doch leider kam diese Platte bei niemanden 
        an. Kürzlich war er in Jamaica, wo er mit den Musikern von Jimmy 
        Cliff an einer Platte mit ironischen Reggae-Nummern arbeitete.
        Doch zurück zu Bijou. Die Gruppe trat im Herbst '78 im Vorprogramm 
        von Blondie in der Arena von Barcelona vor 10.000 Zuschauern auf und machte 
        damit einen ersten schüchternen Schritt ins Ausland, doch insgesamt 
        ist der Export französischer Rock-Gruppen so gut wie nicht existent.
Die grosse Disco-Rache
 
            
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Ziehen wir Bilanz: Auffallend ist, daß weder Telephone, noch Starshooter, 
        Bijou oder Higelin irgendwie im Ausland bekannt sind; dort verbindet man 
        die französische Musik immer noch mit Namen wie Aznavour, Edith Piaf 
        oder Mireille Mathieu.
        Doch vor wenigen Wochen konnte man die Macho-Disco-Truppe Village People 
        auf der Titelseite des "NME" entdecken. Jaques Morali, Komponist 
        und Schöpfer dieser Combo, mußte erst nach Amerika ziehen, 
        um be- und anerkannt zu werden. Heute importieren die USA seine Musik 
        nach Frankreich. Ähnlich ist es mit Jean-Marc Cerrone, dem Erfinder 
        des sogenannten Disco-French-Sound, der dank des Auslandserfolges seiner 
        ersten LP LOVE IN C MINOR nun auch in Frankreich ein Star ist.
        Jean-Michel Jarre, Patrick Juvet, Voyage, Cerrone, die Village People, 
        sie alle machten in den USA Furore, und ihnen vor allem ist es zu danken, 
        das man im Ausland auch mal wieder Frankreich erwähnt, wenn es um 
        Musik geht.
        Und die französische Rock-Musik? Alles nur ein lächerlicher 
        Betrug? Nun, diese Frage könnte man meiner Meinung nach heute auf 
        die Rock-Musik überhaupt beziehen. Ist die Zeit dieser Musik nicht 
        fast vorbei? Rock-Stars wie Santana, Rod Stewart und die Rolling Stones 
        kamen in diesen Monaten mit Disco-Hits auf den Markt, Reggae und Funky-Music 
        halten Einzug in die britischen Charts, und die Rolling Stones spielten 
        auf Peter Tosh' letzter LP mit.
        Die französischen Rock-Bands sind sich dessen völlig bewußt, 
        und daher hat sich die Musik von Starshooter und den Garcons auch in diese 
        Richtung entwickelt. Auf sie trifft der Begriff "Rock" heute 
        nicht mehr zu. Doch werden sie fähig sein, ein neues Wort zu kreieren????
Le fin
(Quelle: Sounds 4/79)