Untergrund und Unternehmer (Teil 2)
      Von Diedrich Diederichsen 
      Dieser zweite Teil unserer Serie soll von Berlin handeln. 
        Aber eigentlich ist es keine Fortsetzung der im ersten Teil der Serie 
        angeschnittenen Probleme. In Städten wie Hamburg oder Hannover, wo 
        die Aktivitäten des musikalischen Untergrunds auf ein, zwei Personen 
        bzw. Organisationen zentriert sind, sind zwangsläufig Fragen nach 
        Integrität und Verantwortung drängender als in Berlins pluralistisch 
        florierender Szenerie.
       Beide Extreme der mit der neuen deutschen Welle an die 
        Oberfläche gespülten Phänomene haben in Berlin eine feste 
        Tradition: die Bereitschaft zum radikalen politischen Engagement ebenso 
        wie die Nachfrage nach Erotika, nach Whizz-Kid-Sensations. Das hat zur 
        Folge, daß eine in sich strukturierte Subkultur mit diversen Sub-subkulturen 
        vieles an der neuen Welle auffangen konnte und z.T. assimiliert hat. Daß 
        dies ebenso viele negative (Beliebigkeit, Kurzlebigkeit, Hustlerei) wie 
        positive (kreative Explosion, größeres Publikumsinteresse, 
        Feedback) Begleiterscheinungen für die künstlerische Seite mit 
        sich bringt, braucht hier nicht diskutiert zu werden. Festzuhalten ist, 
        daß "man im Prinzip in Berlin das durchführen kann, was 
        man will" (Burkhard vom Zensorladen). 
        Dinge, die in Hamburg und Hannover bei einer Person liegen, werden in 
        Berlin automatisch an verschiedene delegiert. So gibt es z.B. exzellente 
        Auftrittsmöglichkeiten für deutsche Gruppen (Exxxzess, KZ 36, 
        Kantkino), an deren Organisation die einschlägigen Labels nicht beteiligt 
        sind. Im Exxxzess spielten z.B. im Laufe eines Monats: Mania D., Unlimited 
        Systems, Geile Tiere, DIN A Testbild (alle aus Berlin), aber auch P.D. 
        aus Mainz, der KFC aus Düsseldorf, The Names aus England etc. - eine 
        Liste, die andere Metropolenbewohner nur neidisch machen kann. 
        Zu beobachten ist aber auch, daß in der Fülle der Berliner 
        Musikszene viele Gruppen agieren, deren Interesse von Anfang an der Deal 
        mit der Industrie, die Karriere im Musikbiz ist, die also noch stärker 
        als anderswo den Untergrund benutzen, um sich Reputation und Profil für 
        den kommerziellen Markt zu verschaffen. Der Berliner Musikuntergrund ist 
        denn auch viel weniger an unabhängiges Denken und Handeln linker 
        Tradition oder Herkunft angebunden. Die politische Punk-Szene ist tendenziell 
        viel weiter von der Musikavantgarde isoliert als etwa in Hamburg, wo es 
        eben nur so wenige Treffpunkte gibt, daß sich beide Gruppen zwangsläufig 
        immer wieder sehen und miteinander auseinandersetzen müssen. Dennoch 
        gibt es auch in Berlin einige Querverbindungen. 
       
        
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        Die ersten unabhängigen Produktionen der neue Welle 
        in Berlin waren die Single und die 25 cm-Platte von Tempo und die "Garbage"-Single 
        von DIN A Testbild, etwas später folgte die erste Geile Tiere-Single 
        und P1/E, letztere aber bereits im Monogam-Vertrieb. Die erstgenannten 
        Singles sind alle Eigenproduktionen, entstanden ohne die Hilfe eines Labels 
        (auch keines unabhängigen) und sind sozusagen direkt aus dem Preßwerk 
        an die alternativen Vertriebe ausgeliefert worden. Das alles geschah vor 
        achtzehn bis zwölf Monaten: zu einer Zeit, als die ersten Initiativen 
        entstanden. 
      Esoterische Künstler 
      Burkhard Seiler hatte schon längere Zeit davon gelebt, auf eigene 
        Faust unabhängige Produktionen aus England zu importieren und auf 
        Flohmärkten, bei Konzerten oder privat zu verkaufen. Anfang '79 eröffnete 
        er mit Tina Fiedler den "Zensor"-Laden in der Belziger Straße, 
        der ihm aber mittlerweile allein gehört. Der Laden war von Anfang 
        an auf unabhängige Produktionen spezialisiert. 
        Ob er sich damit nicht automatisch eine esoterische Künstlerszene 
        ins Haus geholt habe, will ich wissen. "Nein, das war ja damals noch 
        nicht so getrennt. Gruppen wie Human League z.B. haben ja damals noch 
        unabhängige Platten gemacht (...) Der Laden hat von Anfang an auch 
        Punks angezogen." 
        An den Zensor-Laden war von Anfang an ein Versand und Vertrieb geknüpft, 
        und dadurch erhielt der Laden auch für Westdeutschland eine immense 
        Bedeutung. Bis heute ist der Zensor für fast alle ausländischen, 
        unabhängigen Avantgarde-Produktionen (wenn sie nicht gerade von Rough 
        Trade kommen) die einzige Quelle sowohl für Wiederverkäufer 
        als auch für Privatkunden. Und was so schräge oder so weit vorn 
        ist, daß es die westdeutschen Läden nicht haben wollen, muß 
        man direkt in Berlin bestellen. So eine Position schafft Verantwortung 
        Burkhard hat einen gewissen Einfluß auf das, was verkauft wird. 
        "Sein Name (Zensor) ist wirklich ganz genial und irre treffend. Das 
        meine ich sowohl positiv als auch negativ", (Alfred über Burkhard). 
        Burkhard selber sieht das so: "Ich nehme zwar im Prinzip alles in 
        den Laden und in den Vertrieb, was unabhängig produziert wurde, von 
        ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, aber ich fördere nur, was ich gut. 
        finde." Fördern bedeutet Empfehlen. Der Kontakt zu den auswärtigen 
        Kunden läuft bei Burkhard übers Telefon: "Ein überschaubarer 
        Kreis von Leuten, die ich kenne." Die Kriterien, was Burkhard fördert 
        und was nicht, entstammen seinem musikalischen Geschmack: "In den 
        70er Jahren habe ich kaum Rockmusik gehört, eher Free Jazz und andere 
        Avantgardemusik. Als es dann auch im Jazz immer langweiliger wurde, Eberhard 
        Weber, Anthony Braxton und so, und in der Rockmusik sowieso eine große 
        Leere war, hatte ich dann, wie viele andere auch, bei den frühen 
        Punkgruppen erstmals wieder das Gefühl: Hier passiert was. 
      Aus aller Welt 
      
         
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             Burkhard Seiler 
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      Heute fördert Burkhard das, was sonst niemand fördert, Avantgardistisches 
        und Ungewöhnliches aus aller Welt. Was kommen denn heutzutage so 
        für Leute in den Laden? "Alle möglichen. Punks. Aber auch 
        Beamte. Ja wirklich viele Leute, die in den Laden kommen, sind Beamte." 
        Eine von Burkhards Mitarbeiterinnen erzählt, daß neulich eine 
        ältere Frau in den Laden gekommen sei und nach einer "Punk-Platte 
        im 6/8-Takt" verlangt hätte. 
        Zusammen mit dem Monogam-Label organisiert Burkhard auch Konzerte. Auch 
        hier gelten, ähnlich wie beim Vertrieb, persönlicher Geschmack 
        und Qualität als Kriterien, wenn auch dadurch eingeschränkt, 
        daß Burkhard nicht allein arbeitet. Michael Vogt vom Monogam-Label 
        arbeitet beim neuen SO 36 mit, das sich ja jetzt in türkischen Händen 
        befindet und hat so Zugang zu einer Halle. Manchmal tritt Monogam/Zensor 
        nur als lokaler Promoter einer von jemand dritten organisierten Tour auf, 
        mal holt Burkhard selbst eine Gruppe für ein Konzert in Berlin rüber, 
        wie etwa die Young Marble Giants, oder, wie für Oktober geplant, 
        Throbbing Gristle. 
        Das Monogam-Label ist auch sonst eng mit Zensor verbunden. Die Monogam-Platten 
        sind im Zensor-Vertrieb, Michael Vogt arbeitet gelegentlich im Zensor-Laden, 
        Elisabeth Recker, ebenfalls an Monogam beteiligt, organisiert den Versand. 
        "Aber was das Label betrifft, arbeiten die völlig unabhängig, 
        ich nehme überhaupt keinen Einfluß auf ihr Programm und bin 
        auch finanziell nicht daran beteiligt." 
        Monogam hat bis jetzt vier Singles herausgebracht: Mania D., Rainy Day 
        Women, Hits Berlin und - als einzige nicht aus Berlin - die Vorgruppe 
        aus Herne. Ein besonderes künstlerisches Labelkonzept ist dabei nicht 
        erkennbar. Dennoch hat Monogam schon so etwas wie Labelpolitik betrieben 
        (in bescheidenem Rahmen, den ein unabhängiges Label hat), etwa durch 
        das Organisieren eines Monogam-Festivals im SO36. 
      Anarcho-Tradition 
      Zusammen mit dem Musiker Frieder Butzmann hat Burkhard ein eigenes Label, 
        das den beiden dient, völlig unabhängig von Marktgesetzen ihre 
        eigenen künstlerischen Vorstellungen zu realisieren: das Marat Label 
        (dem übrigens gelungen ist, die Originalität der Bestellnummern 
        des englischen Labels Tiger Records (Grrroo 1, Grrroo 2) noch zu übertreffen: 
        L'ami du peuple 1, L'ami du peuple 2). Erstes Produkt war die "Waschsalon"-Single 
        von Butzmann und Sanja. Die nächste Mania D.-Platte wird ebenso auf 
        Marat erscheinen wie noch zwei weitere Platten. 
        Mittlerweile gibt es in Berlin auch eine Reihe konventioneller Gruppen, 
        die unabhängig produzieren wenn auch oft nur, um das Produkt 
        später oder das nächste Produkt an die Industrie zu verkaufen: 
        Firma 33, Scala 3, Neon Babies, Ideal, Z etc. - nicht alles Gruppen, die 
        durch die Bank schlecht oder langweilig sind, die aber für meine 
        Begriffe musikalisch und inhaltlich nicht zur neuen deutschen Welle zu 
        zählen sind. Alle diese Gruppen haben ohne Label-Unterstützung 
        gearbeitet, obwohl ja Z inzwischen bekanntlich bei Ariola gelandet sind. 
        Auch von den Geilen Tieren gibt es eine neue 25 cm-Platte, die - und weil 
        wir vergessen haben sie zu rezensieren, hier ausnahmsweise eine Qualitätsurteil 
        - aber neben den interessanten, eindrucksvollen Live-Auftritten der Gruppe, 
        modisch und schal wirkt. 
      In einem Boot 
      Die Kreuzberger Punk-Szene baut stark auf spezifisch Berliner Anarcho-Traditionen 
        auf. Ihre Konsum und Kommerz-Verweigerung/Ablehnung - ihr erinnert euch 
        vielleicht an die massive Kritik am früheren SO 36 wegen seiner hohen 
        Eintritts- und Getränkepreise - hat mittlerweile zu einem eigenen 
        Zentrum geführt, dem KZ 36. Hier spielen zu extrem niedrigen Eintrittspreisen 
        vorwiegend Berliner, aber auch schon mal Hamburger Punk-Gruppen. Das KZ 
        versteht sich als Kommunikationszentrum (nicht Konzentrationslager) gegen 
        den Berliner New Wave-Chic, aber auch gegen jede andere Form von Verkauf 
        und Handel incl. dem Zensor-Laden ("Daß ein Laden ein kleinbürgerliche 
        Angelegenheit ist, ist mir natürlich auch völlig klar," 
        Burkhard). Demnächst wird das KZ 36 einen Sampler mit Mitschnitten 
        herausbringen, dessen Profit für den Laden verwendet werden soll. 
        Auffallend ist, daß die Existenz eines solchen Kommunikationszentrum 
        auch dazu führt, daß die Meinungsverschiedenheiten zwischen 
        Punks in Anarcho-Tradition und den von ihnen als kommerziell, elitär 
        oder intellektuell bezeichneten Gegenseite, weniger ausgetragen werden, 
        wenn es einen solchen Zufluchtsort gibt. Seit in Hamburg das Krawall 2000 
        nicht mehr existiert, sitzen hier eben all die in einem Boot, die in Berlin 
        voneinander getrennt sind. 
      Die Berliner Situation mit ihrer verwirrenden Mischung aus Exklusivität 
        und Kommunikation, musikalischer Radikalität, Innovationen und einer 
        breiten konventionellen Rock-Szene, aus politischem Anspruch und künstlerischer 
        Ambition ist recht deutlich verschieden von den westdeutschen Großstädten. 
        Im Prinzip ist hier alles erlaubt, wenn du es an der rechten Stelle tust. 
        Dadurch liegen hier hohe Qualität, Radikalität direkt neben 
        der totalen Beliebigkeit. 
      (Quelle: Sounds 10/80) 
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