Links die T.V.Eyes aus Köln - rechts daneben die "Kultur der Großstadt" im "Ratinger Hof" zu Düsseldorf, einem Punk-Schuppen mit Wartesaal-Atmo. Unten die Herren Mädchen von Charley, ebenfalls kölsche Jung-Punks. Rechts daneben ein weiterer Wallfahrtsort für Rotzlümmel: das "Punkhouse" in Westberlin.
Fotos: Sabine Schwabroth

Krautpunk
Rodenkirchen is burning

Ehe sie die versprochene "Anarchy in Germany" auslösen konnten, wurden die Sex Pistols aufgelöst. Fassungslos hörten die deutschen Punks die schreckliche Nachricht vom plötzlichen Tod ihrer anti-britischen Helden. Im zweiten Teil seines Berichts beschreibt Alfred Hilsberg das entstehen der westdeutschen und westberliner Punk-Szene, die dank den Pistols nun wohl "salonfähig" bleibt. Bitte umblättern.

Lucy lüpft das Netzhemdchen, um auf Zehenspitzen und mit spitzem Mund den Welthit "Yes Sir, I Can Boogie" zu intonieren. Lucy singt bei der Punk-Band T.V. Eyes aus Köln. Mit ihrer schrill-schönen Persiflage auf Baccara- handelt sie sich verdienten Beifall und eine Zugabe ein. Zwei Minuten bleiben dafür, dann muß die Anlage im Gemeindesaal der Martin Luther-Kirche in Düsseldorf schnell abgebaut werden. Die große Trommel verschwindet mit dem Drummer in der nächsten Straßenbahn. Der Seelsorger darf von diesem spontanen Punk-Gig nichts erfahren.
Typische Szenerie für die T.V. Eyes und andere Punks unter dem grauen Himmel der Ruhr. Zwischen Kohlenhalden und Kokereien scheinen die Voraussetzungen für eine Punk-Bewegung wie geschaffen: Die Zukunft der Jugendlichen im Dschungel der Industriewüste ist ungewiß. Gesellschaftliche Konflikte, von Sanierungsvorhaben bis zu Stahl-Krisen, müßten ähnlich wie im krisengeschüttelten Vereinigten Königreich eine Ursache sein für eine sich den "rationalen Verhältnissen" widersetzende Bewegung.
"Hier geht es los wie in England Mitte 76, überall brodelt es", erzählt mir die Gruppe Male aus Düsseldorf. Die "Männlichen", wie zumindest ihr auf den T-Shirt abgebildetes biologisches Zeichen ausweist, sind die wohl früheste Punk-Band deutscher Herkunft. Seit Dezember 76 arbeiten Sid Mania, Brian Moron, Dizzy Mental und Alex Hetero an ihren Sets. Sie haben gelernt, "daß die Fans von unseren früheren englischen Texten nichts verstanden. Wir machen jetzt deutsche Songs." Die Male schreien heraus, was sie für ihre Erfahrung halten, stammelnde Texte über die Großstadt und über "hohe Politik":
Die Jugend wird geformt/ Wie im alten Nazi-Land/ Von Fernsehen Freue Geld/ Überall dasselbe Bild/ Künstliche Menschen schwirren umher/ ihr Denken ist beschränkt/ Überall dasselbe Bild.
Von der Nazi-Welle mit Swastikas halten sie nichts; als sie aber mal, "mehr aus Verarschung", das Deutschland-Lied anstimmten, flogen die Bierbüchsen. Und als T.V. Eyes mit dem Clash-Titel "White Riot" auf den Jacken umherliefen, wurden sie von Farbigen überfallen. In Rodenkirchen bei Köln kam es gar noch schlimmer: Male und die Kölner Gruppe Charley's Girls wurden bei einem gemeinsamen Gig Opfer einer Saalschlacht. Den Girls kam das offenbar gar nicht so unrecht.
Domizil der Düsseldorfer Clique um die Girls ist der "Ratinger Hof", ein Laden, der im Gegensatz zum Freß-Nepp- und Schunkel-Getümmel der Altstadt-Umgebung mit seiner grellen Neonlicht-Atmo eher an einen Wartesaal erinnert. Freaks aller Schattierungen glotzen entgeistert auf die Punk-Gestalten an Billard und Flipper. Einige Künstler haben sich vermittels Spielzeug und Sicherheitsnadeln am Jackett schon ins Düsseldorfer Punk-Milieu vorgetraut. Von Rechten oder Linken war zu dieser neuen "Kultur der Großstadt" noch nichts zu vernehmen: "Die Nazis und die DKP, die loben uns übern grünen Klee" reimt Mary Lou Monroe (17) von den Girls unter dem Beifall der Fans am Altbier-Tisch.
Auf mehr als ein halbes Dutzend Auftritte hat es keine Gang der Gegend gebracht. Aber auch Mary Lou macht "aus Erfahrung" inzwischen deutsche Texte, über Teddybären und die Großstadt. Von Liebe keine Spur, und von einer Platte will offenbar noch keine der Gruppen etwas wissen. Meine Frage danach stößt auf Aggressionsgelüste: "Was, so wie die Big Balls in Hamburg? Die jetzt wohl 'n Song machen ‚God Save The Bundespräsident', der sicher von Radio Liechtenstein boykottiert wird?" Die Girls und die anderen bestehen darauf, mit solchen "Imitations-Punks" nichts zu tun zu haben, "auch wenn die persönlich in Ordnung sind, aber die langen Haare und so".
"Just For Fun" ist eher das Motto der Badge-behangenen 15- bis 20jährigen rheinischen Jungs als der Wille oder die Notwendigkeit, sich durchbeißen zu müssen oder gar Berufsmusiker werden zu wollen. Ihre Frustration und Aggression rührt mehr her von den Verhältnissen in einem wohlhabenden Elternhaus ("Hier haste fünfzig Mark, mach dir 'n schönen Tach") und von der Schule. Fast alle Punks in NRW besuchen Gymnasien. Ihr nächstes Ziel: das Abitur. Was danach wird, entscheidet das Wehrpflicht-Gesetz. "Nicht mit uns", kommt es fast wie aus einem Mund.

Grosse Eier

Die Kriegsdienst-Verweigerer-Punks im Kohlenpott wollen weitermachen. Neat aus Dortmund zum Beispiel, hatten am 3. Februar mal wieder einen Gig in einem "Gimnasion", wie auf der handgetippten Ankündigung zu lesen war. Die Dortmunder Teenies konnten dort auch den neuen Bassisten der Band kennenlernen: "Ricky Ass has gone. Instead of him another coolman's come: Paul Eisenhauer." Schulfeste sind die hauptsächlichen Auftritte. Aber damit werden sie nicht überleben können, wie Machina und Ree Richards von Neat eingestehen. Die Nest müssen neben dem Rock'n' Roll weiter arbeiten gehen; die meisten der Gruppe tun es jetzt schon. Wie die anderen "nicht-proletarischen" Bands machen sie sich keine Illusionen über Plattenverträge: "Dafür ist die Szene viel zu klein, aber das hängt ja auch damit zusammen, ob wir es schaffen, auf unseren Gigs den Leuten die Augen zu öffnen."
Sie sind überzeugt, daß der Punk nicht nur eine Mode ist: "Wir fühlen uns in diesen Städten unwohl, und das geht den meisten so." Und so reisen die Garagen- und Wohnzimmer-Bands mit ihren 20-Watt-Anlagen von Aula zu Aula und freuen sich, wenn ihnen einer begegnet, der so aussieht wie sie selbst: "Die Leute trauen sich ja noch nicht." In der Schule tun sie es selbst nicht: "Aber danach bemühen wir uns, so gut wie möglich Punks zu sein", beteuert Lucy von T.V. Eyes.

Mehl? - Male!
Die dicken Eier (unten), (oben r.) DIN A 4
Fotos: Anja Bredenauer (1), Alfred Hilsberg

Bunker Punk

Von der Hamburger Punk-Szene wird bei den Girls trotz der Big Balls & The Great White Idiot geschwärmt: "Echt was los da oben. A very special Hello to the Hamburg-Scene!" schreibt Janie J. Jones in der "Ostrich"-Beilage "Total Control" in Erinnerung an seinen Besuch des Clash-Konzerts im "Winterhuder Fährhaus". Die bekanntesten englischen und amerikanischen Punk- und New Wave-Bands, von den Vibrators, Damned und Jam bis zu Mink DeVille, Earthquake und Blondie, waren bereits im kühlen, steifen Norden zu Gast. Anders als im Ruhrpott hat sich in Hamburg seit Jahren eine immer noch weitgehend Folk-beherrschte Club-Szene entwickelt, in der auf Standesunterschiede fein geachtet wird: die Schickeria trifft sich bei Mink DeVille im "Onkel Pö", Teddies und die Rocker haben das "Fährhaus" als Hochburg, und die Punks machen zunehmend Randale in der "Markthalle". So lindenbergisch, wie Außenstehenden die Hamburger Musik-Szene vorkommen mag, so stimulierend wirkt sie auf viele Fans und die Musiker selbst. Seit "Starclub"-Zeiten, Anfang der 60er Jahre, haben sich hier Rock-Bands gebildet, die zum Teil sogar den Sprung über den großen Teich gewagt haben. Ein halbes Dutzend Punk-Bands hat sich hier zusammengefunden, ist teilweise wieder auseinander und formiert sich neu. Waren beim ersten Konzert der Vibrators im Februar 77 nur ein paar zugereiste Punks zugegen, so füllten sich im Sommer die Spalten der Zeitungen mit Artikeln über die Punk-Mode. Und zum ersten Konzert der Big Balls kamen 500 Leute in den abenteuerlichsten Kostümierungen zum Pogo-Tanz: vom Strumpf über'm bemalten Schädel bis zur Klopapier-Rolle auf dem Lederjacken-Rücken.
Peter, Alfred und Atlo - die "Grund-Brothers" - bilden den Kern der Big Balls, zusammen mit Wolle und der früher bei Johnny Moped gastierenden Frenchie aus London. Sie löste Baron Adolf Kaiser ab, der jetzt mit einigen Rock-Freaks die Gruppe V 8 - Turbo Trust aufzieht. Sie wollen ihre Stücke so perfekt einüben, daß sie "gleich im ‚Logo' auftreten können". Ein ähnlicher Break wie den Big Balls dürfte ihnen schwer fallen; noch vor ihrem ersten Gig hatten diese ihren Plattenvertrag. Rudi Holzhauer von der alteingesessenen Schacht-Musikproduktion war auf sie aufmerksam geworden: "Da kam mal jemand zu mir, der wollte eine Kung-Fu-Schau machen, der kannte die Balls. Und da bin ich in den Bunker gegangen, wo die üben."
Vom Verkaufserfolg der in einer Woche produzierten LP, war die Plattengesellschaft Teldec mehr als überrascht. Selbst Auslandsverträge u.a. mit Italien kamen zustande. Aber der das Teldec Rock-Label "Nova" betreuende Uwe Tessnow ist vorsichtig: "Ob sich das halten wird, muß man abwarten. Wir haben hier andere Verhältnisse als England mit seinem Ballungsgebiet London, wo die kleinen Labels keinen so großen Vertriebsaufwand haben. Hier fehlen auch Initiativen von Leuten." Beispiel: Die Big Balls fanden keinen Produzenten für ihre Platten, und so machten das der Rudi und der Uwe selbst.
Die Big Balls hatten durch diesen Push ihr Image als Punk-Formation der ersten Stunde weg. Sie zehren allerdings mehr von Einnahmen aus Konzerten als vom Plattenverkauf. Denn die 7000er-Auflage bringt ihnen bisher "nur" die Möglichkeit, auf einer besseren Anlage zu spielen und sich mit der Produktion der zweiten LP im März zu beschäftigen. Dem Status "Berufsmusiker" werden sie auch dann noch kaum einen Schritt nähergekommen sein.
Was die Balls können, können wir schon lange. Und vielleicht sogar besser, sagten sich viele Hamburger Kids. Zuerst waren es Cocksucker und Shave, nun kommen Punkenstein, Razors und Mundgeruch. Letztere besteht ausnahmsweise überwiegend aus Arbeitslosen, die im Punk eine bessere Chance sehen als im Arbeiten oder Stempeln. Aber keine der Hamburger Gruppen wagt es, ihren Rhythmen deutsche Texte zu verpassen. Mundgeruch-Jan: "Übersetz doch mal unseren Titel .‚No Horizon' in ‚Kein Horizont', das geht irgendwie nicht."

Plastikfaschismus

Andy Rademacher von den Jackets, einer sich New Wave nennenden Formation, die durch Ex-Atlantis Karl Heinz Schott beeinflußt ist, sieht ähnliche Probleme mit deutschen Texten. Aber auch Schott will kein Nachahmer des spezifisch englischen Punk sein: "Dafür fehlt hier einfach der soziale Hintergrund. Und ich kann auch nicht singen I'm cruising down the highway, wenn ich die Rothenbaumchaussee runterfahre. Also versuche ich, mir gemäße Ausdrucksformen in Musik und Texten zu finden."
"She Got No Brain"
1 know a girl who's really intellectual/ She likes discussions without a solution/ She calls me so superficial Cause sometimes simple life I prefer/ Uhh uhh she got no brain/ Uuh uhh she got no brain/

Die Jackets brauchten lange, bis sie zu einem Klangbild kamen, das sowohl ihren musikalischen Bedürfnissen wie ihren Erfahrungen überhaupt entsprach. Bisher sind sie eine Art "Geheimtip" in Hamburg geblieben. Punks verirren sich höchstens mal zu einem ihrer Gigs. Und zur großen ersten Punk-Battle am 8. Februar im "Grünspan" waren die Jackets nicht eingeladen. Organisator Klaus Schulz, der mit Unterstützung von Schacht-Musik eine Konzertagentur betreibt, bekennt auch: "Die haben mit Punk nichts zu tun. Das ist ein Konzert der Big Balls, bei dem die anderen Gruppen deren Anlage benutzen können." Entsprechend selbstbewußt reisten die Balls nach Westberlin, ins dortige Punk-Mekka Kant-Kino.
Ungefragt wurde die lokale Punk-Band PVC als Vorgruppe angekündigt, die erst nicht wollten, aber doch wohl wußten, was dann eintrat: die Balls bekamen keinen Stich gegen PVC. Wenn sie das Lied "Eva Braun Is Back In Town" anstimmen, grüßen einige Fans mit erhobenem Arm. Die Ironie im Text bekommt live niemand mit, und deshalb muß PVC-Knut schon eine Badge anstecken: "Nazis are no fun". Auch Gerritt beteuert, mit einer Neuauflage des Hitlerfaschismus nichts zu tun haben zu wollen, und fürchtet eher einen "Plastikfaschismus". Im Gegensatz zu den meisten Kölner oder Hamburger Bands, ist PVC schon aufgrund des Alters seiner Mitglieder von verschiedenen Rock-Strömungen beeinflußt. Am 24. Februar fielen die Vibrators in Westberlin ein: "Das war so ein Katalysator für uns." Diese in ihrer Heimatstadt London umstrittene Gruppe schlug für einige Zeit ihr Domizil in Berlin auf, half PVC, machte mit ihnen Demo-Tapes und Gigs und hinterließ bei einigen Frauen in der ehemaligen Reichshauptstadt so nachhaltige Eindrücke. daß diese beschlossen, eine Frauenband zu gründen.
Ohne Instrumente zu haben oder spielen zu können, bekam die Mädchenriege Din A 4 ("unpolitischer geht's ja nicht") Auftrittsangebote. Pepi, Eva, Virdyda Plastik und Coca Cola haben sich fast krankgelacht: "Aber jetzt sind wir drauf. Wir wollen deutsche Texte machen, und wir wollen auch nicht wie PVC den Leuten ins Gesicht schreien: ‚Hebt eure Ärsche hoch!' Wenn es auf der Bühne klappt, geht das auch bei den Leuten los!"
Westberlin lebt mit Weg-mit-der-Mauer-Parolen und horrenden Subventionen, mit Arbeitskräften aus Westdeutschland, mit Türken und Weltstadt-Flair. Die Erfahrung und Ahnung eines möglichen Todes dieses Gebildes haben eine Subkultur entstehen lassen, die vergleichbar mit London oder New York ist. Diese in sich widersprüchliche, von links bis rechts reichende Struktur kann es sich leisten, den Punk so schnell wie nirgendwo in eine Kunstform zu pressen und ihn zur Hausmusik der Trendsetter zu machen.
Dennoch blickt man voll des Neides nach Hamburg mit seiner Clubszene, mit seinen Plattenfirmen und seinem Zeitungsmarkt. Im "Tagesspiegel" vermutete Barry Graves in den Balls ein Produkt der Hamburger "Medien-Mafia". Jackie Eldorado, Alt-Punk, dagegen: "In Hamburg ist eine andere Szene. Das ist viel spannender, da sind ja auch Rocker drin. Hier laufen die Leute zu "sun-records" im Kudamm-Karree, um sich brüsten zu können: ‚Kennste die schon?"'

Alte Fürze

"Sun" ist der bisher einzige Plattenladen, der sich nicht nur auf eine Punk-Abteilung beschränkt, sondern gezielt Importe aus England und USA holt: "Aber die Punks kaufen ja alles, so wie die Farbigen Soul-Mist kaufen." Und da dank "Popfoto" und "Bravo" die Sex Pistols eine große PR bekommen haben, Iggy Pop und Bowie in der Stadt wohnen und Rias und SPD Live-Sendungen mit PVC und Vibrators bringen, stehen die Hits bei "sun" fest.
Ein Modegeschäft wittern auch schon einige in Hamburg. Die ersten waren Wolli und David mit dem "shave"-Laden in Eppendorf. Nach dessen Pleite versucht es jetzt eine Fiorucci-Boutique neben der Markthalle mit Platten und Klamotten, Posters und Badges. Sogar ein Fanzine wird dem getreuen Punk serviert: "Punk-News" für 50 Pfennig. Mit PR-Infos von Plattenfirmen, die z.B. bei den Vibrators noch das Line-Up vom Sommer 77 aufzählen, aber ohne direkten Hinweis, wer mit dem schmuck-gemachten Blättchen die Punks verarschen will. Vielleicht sollten da mal die Jungs vom Rhein kommen und nach dem Rechten sehen.
Das abgeschriebene Sammelsurium des "Spiegel" nützt allenfalls den Old Farts, sich in ihrer gestörten Mode-Welt besser zurechtzufinden. Die auch von diesem Nachrichten-Magazin, aber vielmehr noch von Elternhaus, Schule, rheinischem Karneval und weltlichen und geistlichen Würdenträgern vorgemachte und einzuübende Republik-Treue kann offensichtlich nur zur Erfahrung von "Politik" als etwas "von oben" führen, das es abzulehnen gilt.
Ehe nun der altgediente Durchblicker auf eine Bewegung hofft, die einlöst, was 1954 oder 1964 nicht realisiert wurde, sollt er sich die spezifischen Bedingungen der Rock.Musik in Westdeutschland vor Augen halten. Die Voraussetzungen für eine von den Bands und Fans selbst-organisierte Bewegung fehlen: es gibt keine eigene Rock-Geschichte und entsprechend kein historisches Bewußtsein. Es gibt einen Pop-Imperialismus; der allenfalls bei Polit-Rock-Gruppen in geringen Ansätzen überwunden scheint. Die Entwicklung einer gesellschaftlich selbstbestimmten musikalischen Artikulationsform brauchte zur Voraussetzung, daß sich zunächst die Produktions- und Distributionsverhältnisse der Gruppen ändern. Malermeister Herbert Egoldt aus Brühl bei Köln, der nebenher einen kleinen Rock'n'Roll-Versand betreibt, sieht für die Realisierung eines eigenen Labels, wie es die ihm bekannten Ruhrpott-Bands gern hätten, vorläufig nur Absatzchancen in England.
Und so wird sich wohl eher die Teldec durchsetzen. Für Costello-, Lowe-und Dury-Fans formuliert sie im voraus, was die Fans durch deren Musik an Gefühlen und Kicks bekommen könnten: "Mein Plattenspieler spielt nur die Rubinoos" heißt es z.B. auf einem der Badges, mit denen "Nova" seine Stiff- und Beserkley-Pakete feilbietet. Uwe Tessnow: "Die deutschen Gruppen müssen sich weiterentwickeln. Im Moment ist das mehr eine Abreaktion der Musiker und der Fans auf die perfektionierten Rockgruppen wie Genesis oder Yes. Auf jeden Fall wird die ganze Rockszene langfristig vom Punk beeinflußt." Die Male: "Wir wollen was gegen diese Discoscheiße a la Boney M. machen. Es wird Zeit für Rock'n'Roll!" Das ist doch schon etwas. Und mir ist es lieber als ein "Türke" wie "Deutschlands erste New Wave-Größe: die Straßenjungs" (CBS-Text), denen die Glitter-Band Tiger B. Smith aus allen Knopflöchern schielt.
Die Branchendevise "Absahnen, so lange es geht" nehmen bisher nur wenige German punks in Anspruch. Für Azzurra P., Mitbegründer der kurzlebigen Avantgarde-Zeitschrift "Nachtexpress", war der Punk auch zunächst etwas Artifizielles, "aus dem sich vielleicht eine den 70er Jahren adäquate Ausdrucksform, eine alle Medien einschließende eigene Kunstform, hätte entwickeln lassen." Daß sich die Vibrators ihm als zeitweiligem deutschen Manager blindlings unterordneten, zerstörte schnell seine idealistischen Träume: "Statt sich als Teil einer neuen kulturellen Bewegung zu begreifen und die herrschenden Verhältnisse im Kulturbetrieb, also auch im Musikgeschäft, im Sinne ihrer Lebensform, ihrer Lieder, ihrer Ausdrucksformen selbst zu ändern, wird der Manager von Punk-Gruppen extremer noch als in der bisherigen Rock-Geschichte funktionalisiert mit einem Ziel: möglichst schnell in die Charts zu kommen."
Preisfrage: Welche deutsche Punk-Gruppe wird es schaffen, ihre Interessen selbst wahrzunehmen?

(Quelle: SoundS 3/78)


Richtigstellung?!

In einer Ihrer letzten Ausgaben brachten Sie unter anderem einen Bericht über Punk. Es waren einige Abbildungen aus dem Berliner "Punkhaus" darin, auf denen ich unverkennbar teilweise abgebildet bin, Weiter enthält eine Erklärung dazu Deutungen, die Mißverständnisse hervorrufen. Diese kann ich nicht dulden! Ich möchte Sie hiermit auffordern, die Sachlage richtig zu stellen und in ferner Zukunft solche Arten von Liickenfüllerei zu unterlassen. Ich sehe mich sonst gezwungen, anders gegen Sie vorzugehen. Ich hoffe, das wir uns verstehen!
Midzael Meutsch, Berlin

(Leserbrief aus SoundS 9/78)


Fresse / Information Overload