NDDW
Neue Musik aus der DDR - die real existierende Welle (Teil 1)

Samstag 16 Uhr - Berlin, Hauptstadt der DDR - Haupteingang Palast der Republik. Die erkaltete DDR-Billig-Zigarette "Karo" in der Linken, einen Haufen Zick Zack-Platten in der Rechten, gehen wir nervös auf und ab.

Von Tim Renner und Thomas Meins

Eine halbe Stunde vergeht. Aus dem Palast tönt das mittelmäßig intonierte "Rosen aus Amsterdam", da kommt von rechts ein Punk-Pärchen auf uns zu. Unsicherheit auf beiden Seiten - Blicke gehen hin und her. Eine Viertelstunde dauert es, bis man, sichtlich erleichtert, die vereinbarten Erkennungszeichen entdeckt. Gemeinsam warten wir auf unsere anderen, schon längst überfälligen, Gesprächspartner. Ausgerechnet, als gerade ein ganzer Schwall braver DDR-Bürger den Palast verläßt, tauchen die zehn unübersehbaren und unüberhörbaren jungen Herren auf. Eindeutig, die wollen nicht in den Palast, sondern ins SOUNDS!
Es war schon oft so, daß in der DDR Moden, die in den kapitalistischen Staaten entstanden sind, mit einer fünfjährigen Verspätung übernommen wurden. Wir haben jetzt das Jahr 1982. Ist nun für die DDR die Zeit der 76/77er Punkbewegung und die Aufsplitterung der Jugend in Modebewegungen gekommen? Auf den ersten Blick, ja! Auf den Straßen sieht man Jugendliche, die sich bemühen, wie Punks auszusehen. Man trägt Stoppelhaarschnitt, bastelt sich selber Badges und ist mit Sicherheitsnadeln bestückt. Die Reaktionen der DDR-Bevölkerung errinnern durchaus an das, was man hierzulande vor fünf Jahren als Punk erlebte.
Popper, Punks und Bluesfans seien die in der DDR vorherrschenden Jugendbewegungen. Die Popper sind nicht direkt mit den hiesigen zu vergleichen. Die Abstammung aus meist gutem Hause haben sie zwar gemeinsam, doch die DDRler sind viel aggressiver. Es kommt bei fast jedem Konzert, bei dem auch Punks anwesend sind, vor, daß die Popper eine Schlägerei inszenieren. Eine, für die BRD unbekannte, Jugendgruppe sind die Bluesfans. In diese Gruppe wird der ganze Rest, von Friedensfuzzies bis zu Pennern und Rockern eingestuft. Auch die Punks sind sich da nicht ganz einig, wer dazu gehört und wer nicht.

Man darf es sich nicht so einfach machen, in der DDR-Jugend nur Nachahmer westlicher Modebewegungen zu sehen. Die Systeme und Lebensbedingungen sind zu unterschiedlich, als daß diese Bewegungen einfach auf die DDR projiziert werden könnten. Bei der Musik wird das besonders deutlich. In der BRD war die Entstehung einer neuen Musikbewegung mit der Entwicklung unabhängiger Labels und Vertriebe untrennbar verbunden, einem Phänomen, das im kapitalistischen Wirtschaftssystem, nicht aber im real existierenden Sozialismus der DDR möglich ist. Trotzdem gibt es dort sowohl eine offizielle, als auch eine im Untergrund entstandene neue Musik-Szene, die man in der DDR "neue Töne" nennt.
DDR-Band Tapeten-Wechsel (Foto: Ute Henkel)
Die zwölf Jugendlichen, mit denen wir uns getroffen haben, stammen aus der Amateur- und Dilettanten-Szene, fernab vom offiziellen Kulturbetrieb. Sie nennen sich zwar Punks, doch die Musik, die sie mit ihren Bands Müllstation, Wisch & Weg, Tapetenwechsel und Menschenschock machen, würde hier kein Mensch Punk nennen. Obwohl die Sex Pistols von allen als Kultband angesehen werden, scheint es richtige Pogo Bands fast nur in Ost-Berlin zu geben. Im Rest der Republik überwiegen Formationen, die man hier in die Avantgarde-Ecke stellen würde. Das wäre den Bands aber überhaupt nicht recht! Eine Gruppe wie die Müllstation, deren großes Vorbild Palais Schaumburg ist, will gar nicht dazu gerechnet werden, doch aufgrund ihrer stark begrenzten Möglichkeiten bleibt ihnen gar keine andere Wahl, als avantgardistische Musik zu machen. Teure Instrumente, Verstärker und ein richtiger Übungsraum, das ist einfach nicht drin. Die Band Müllstation muß mit dem, wie sie es selbst nennt, "einfachsten Schlagzeug der Welt auskommen". Zwei Becken und zwei selbstgezimmerte Trommeln umfaßt es, den Rest des Instrumentariums stellen sie sich aus dem Sortiment des Eislebener HO-Spielzeugladens zusammen. Das höchste der Gefühle ist die gebrauchte E-Gitarre, die man sich vom Wehrsold eines der Bandmitglieder gekauft hat. Geübt wird unfreiwillig neubautenhaft: zu sechst auf einem fünf Quadratmeter großen Dachboden.
Die Arbeitsbedingungen der Müllstation sind nicht untypisch. Mit dem Dachboden als Übungsraum sind sie sogar noch gut bedient. Andere Gruppen spielen, solange wie ihre Nachbarn das aushalten, im Wohnzimmer. Auch in Schulen bestehen keine Übungsmöglichkeiten. Die Band Wisch & Weg holte sich beim Musillehrer mit den Worten "Wollt ihr wirklich hier mit Mamis Topfdeckeln euern Krach machen", eine Abfuhr.

Obwohl Instrumente und Verstärker in der DDR selten und teuer (richtig gute kann man sowieso nur auf dem Schwarzmarkt erstehen), und die Chancen, einen richtigen Übungsraum zu bekommen, minimal sind, resignieren die Untergrundbands nicht. Man erkennt seine, wenn auch minimalen, Möglichkeiten und versucht, diese maximal auszunützen. Was unter diesen Bedingungen dann entsteht, ist verblüffend! Die Bands schaffen es, diese Mangelsituation durch viel Originalität, Fleiß und Experimentierfreude wettzumachen. Der Gruppe Müllstation gelingt es, mit dem "einfachsten" Schlagzeug, das verblüffend echte Klangbild eines Zuges entstehen zu lassen. In einem Stück, das die Band "Sando Chan" nennt, klingt es dann auch nicht so, als wäre es auf dem winzigen Dachboden, sondern in einer großen Halle eingespielt worden. Eine andere Gruppe, das Duo Menschenschock experimentierte solange mit ihrer Wandergitarre, bis sie es dann schaffte in ihrem Song "Elektrozaun", diese tatsächlich das Knistern des Zaunes nachahmen zu lassen. Alle Bands geben sich bei jedem einzelnen Stück unglaublich viel Mühe. Einen BRD-Bürger verblüfft das, denn von den hiesigen überfütterten Bands ist man das nicht gewohnt, DDR ist, wenn man trotzdem lacht!
Neben, wenn auch mit minimalen Mitteln erzeugten Raffinessen, präsentiert der Untergrund noch viel Humor. "Ich habe eine Fliegenklatsche, mit der mach' ich batsche, batsche", singt Rolfo am Ende der Menschenschock-Cassette. Unter anderen kulturpolitischen und ökonomischen Bedingungen könnte aus der DDR eine wirklich neue, gute Musik kommen (oder gerade nicht? - Red.). Schade, daß nicht alle so dastehen wie die Gruppe Tapetenwechsel. Sie haben etwas Geld, Geschick und vor allen Dingen viel Glück. Deshalb haben sie auch als einzige der Bands eine halbwegs vernünftige Ausrüstung.
Die Punks der DDR hören die Signale (Foto: Ute Henkel)
Die Gitarren und Verstärker sind selbstgebaut, Schlagzeug und Baß konnten sie sich gebraucht besorgen. Die Folge: Tapetenwechsel kommen aus ihrem Wohnzimmer raus, weil sie mit dem erweiterten Instrumentarium Tanzmusik spielen können. Erster Auftritt für Tapetenwechsel: das Abschlußfest ihrer Berufsschule, wo sie, zwischen Dichterlesungen und Volkskunstdarbietungen auftretend, begeisterte Reaktionen bei ihren Mitschülern hervorrufen. Ein Abschlußfest ist nicht bloß Fest, sondern gleichzeitig Leistungsschau. Eine Jury verteilt Preise an die besten Beiträge des bunten Abends. Der 2. Preis, zwei Tickets für das Länderspiel DDR - Italien, geht an Tapetenwechsel.
Viel bedeutet das noch nicht für Tapetenwechsel.

Wer in der DDR zum Popstar werden will, muß sich und seine Musik erst einmal durch Organe der staatlichen Kulturpolitik absegnen lassen. Einfach im Club um die Ecke auftreten, ein Studio mieten oder zur nächsten Plattenfirma laufen, das geht nicht. Nehmen wir an, Tapetenwechsel will hoch hinaus, berühmt werden und auch noch Geld dabei verdienen. Der Schlüssel für den Weg nach oben in die Hitparaden heißt in der DDR Einstufung. Einstufung, das ist die erste Stufe zum Aufstieg. Ohne Einstufung wird niemand zum Popstar. Jeder Bezirk der DDR verfügt über ein sich aus Ortsfunktionären, Musikjournalisten und Musikwissenschaftlern sowie prominenten Musikern zusammengesetztes Gremium, die Einstufungskommission. Die Einstufungskommission trennt die Spreu vom Weizen, trennt die ewigen Amateure von den zukünftigen Profis, entscheidet, welche Popmusik zum SED-Sozialismus paßt.
Die Kriterien für eine Einstufung sind westlich verwöhnten Popmusik-Konsumenten zunächst nur schwer begreiflich und nachvollziehbar, zumal dieses entscheidende kulturpolitische Instrument nicht immer berechenbar auf sich wandelnde Moden in Politik und Gesellschaft reagiert.
Was muß Tapetenwechsel also tun? Zunächst gut und gründlich nachdenken, dann mindestens drei Songs schreiben und ein Programm mit wenigstens zehn Songs auf die Bühne bringen und das immer wieder üben, üben. Die Einstufungskommission verlangt von jedem Bewerber ein solides, glattes Kunsthandwerk. Chance hat nur, wer ein in sich geschlossenes, durchdachtes künstlerisches Konzept vorweisen kann und jederzeit in der Lage ist, sein Programm exakt zu reproduzieren. Tapetenwechsel könnte einen Song "Alles ist Scheiße" betiteln, müßte den nächsten dann aber "Alles wird gut" nennen. Drei Akkorde pro Song wären durchaus ausreichend, wenn die Musiker ihre Griffe beherrschen und nicht umgekehrt.
Negativistische oder destruktive Lebenseinstellungen und Musizierstile haben keinen Platz in der sozialistischen Kultur. Wer behauptet, etwas sei "Scheiße", muß mit dem nächsten Atemzug auch Wege heraus aus dieser "Scheiße" weisen. Ein Konzept gilt nur dann als Konzept, wenn radikale Inhalte vermieden oder doch zumindest relativiert werden. Ein gutes Konzept ist ein ausgewogenes Konzept, immer beide Seiten der Medaille zeigend und niemals die Hoffnung verlierend, also kantenlos und berechenbar zum Wohle der Allgemeinheit wirkend (Also liberal und nicht sozialistisch - Red.).
Nehmen wir an, Tapetenwechsel nimmt die Hürde der Einstufung. Jetzt steht der Gruppe der Weg einer staatlich geförderten und behüteten Popkarriere offen. Jetzt kann Tapetenwechsel öffentlich auftreten, ein größeres Publikum erreichen und sich mit den Gagen ein besseres Equipment zulegen. Vielleicht reicht es sogar für ein Studium an der Musikhochschule oder für die Unterstützung durch den Rundfunk, beides wiederum unumgängliche Stationen für einen Plattenvertrag beim Staatslabel Amiga.

Die Praxis der Einstufung ist eine mindestens zweischneidige Angelegenheit. Auch ostdeutsche Experten gestehen zu, daß sie der auch in der DDR notwendigen Erneuerung der Kulturlandschaft nicht immer zuträglich ist. Junge und unverdorbene Musiker und Gruppen, die sich mit neuen Tönen an die Öffentlichkeit wagen, haben praktisch keine Chance, die Einstufungsprozedur zu überstehen. Spontane, stark emotionale und weniger kalkulierte musikalische Ausdrucksformen verkümmern in den eigenen vier Wänden. Wer es schafft, die Einstufung zu erlangen und weiter am Ball zu bleiben, hat eine gesicherte Musikerlaufbahn vor sich. Die DDR ist nicht daran interessiert, ein Heer arbeitsloser und schlecht ausgebildeter Rockmusiker zu produzieren. Die Kulturpolitik der DDR betrachtet die Rockmusik als Durchgangsstadium und Versuchsfeld für ihre Nachwuchsmusiker. Wer sich mit 20 entscheidet, Profi zu werden, soll später nach abgeschlossener und teurer Ausbildung seinen eigentlichen Platz im Tanz- und Unterhaltungsorchester oder im Symphonieorchester einnehmen.
Die staatliche Musik-Selektion hat nicht nur politische, sondern auch ernstzunehmende ökonomische Gründe. Die Musik ist eine Ware, genauso wie Fleisch oder Bier. Der Konsument hat für sein gutes Geld Anspruch auf gute Ware. Verdorbenes Fleisch und saures Bier sind Konsumentenbetrug. Die DDR kann es sich nicht leisten, schlechte Ware zu produzieren. Sie muß mit ihren knappen Resourcen und Devisen gezielt und wohlüberlegt wirtschaften. Vinyl und Papier sind nicht gerade reichlich bzw. zu teuer. Die DDR kann es sich nicht leisten, massenhaft Schallplatten zu produzieren und zu pressen. Diese Situation erzwingt eine Auswahl; die Ware Musik muß sich einer kritischen Prüfung unterziehen, um Gutes von Schlechtem zu trennen.
Den DDR-Punks, die uns schon mit ihrer Musik verblüfften, gelang es, uns noch ein zweites Mal zu erstaunen. "Sag mal, wann gibt's denn die zweite DAS IST SCHÖNHEIT Doppel-LP der Hamburger Kunsthochschule?" oder "Wann geht Saal 4 für die erste LP ins Studio?" fragte uns der erst 15jährige Rialto Müllmann, der Kopf der Müllstation, der das Zeug hätte, zum Andreas Dorau der DDR zu werden. Während die unglaublich freundlichen Punks ein Bier nach dem anderen besorgten, wurden von ihnen, die noch nie ein SOUNDS, "Spex" oder irgendein Fanzine in der Hand gehabt haben, weitere bohrende Fragen gestellt. Teilweise wußten wir die Antworten selbst nicht und die letzten heißen Neuigkeiten, die wir zu bieten hatten, wurde, wie jede Information aus dem West-Radio, wißbegierig aufgesogen. Die haben alle soviel Daten und Hintergründe gesammelt, daß sie mühelos bei einem InsiderTalk im A.w.g., Risiko oder Ratinger Hof mithalten könnten.
Das Ende unseres Ost-Berlin-Treffs mit Punks aus der ganzen DDR erinnerte stark an ähnliche Treffen in der BRD in den Jahren '76 - '80. Die Polizei kam und nahm auf dem Alexanderplatz alle vorübergehend fest.

(Quelle: Sounds 8/82)


Fresse / Information Overload