NDDW
Neue Musik aus der DDR - die real existierende Welle (Teil 2)

TAG EINES LEHRLINGS IM DISNEYLAND DER PARANOIA

Palais Schaumburg war der frühere Sitz des Bundeskanzlers. Der Staatsratsvorsitzende residierte früher in einem Palast in Pankow. Doch Ost ist nicht gleich West, Schmidt ist nicht gleich Honecker und Pankow ist nicht gleich Palais Schaumburg.

Von Tim Renner und Thomas Meins

",...dann kotzt die Welt mich an/und hinterher ich sie." "...Jammern macht dümmer/jammern macht's schlimmer/als es in Wirklichkeit ist!"; Pankow, Berlin-Ost 1982. Kräftige Worte und eine schwächliche Lebensweisheit zur SED-Welt und DDR-Wirklichkeit von der kommenden Band aus dem anderen Deutschland. Pankow nennt sich die definitive, 1981 formierte Newcomer-Kombo des DDR-Rock.

Brigitte Stefan und Meridian haben eine Silbermedaille des Ministers für Kultur

DDR-Rock - wie langweilig. Die Puhdys, Karat oder Elektra haben sich mit ihrer Oma-und-Opa-Muzak im Westen nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Längst verblichene Kunst-Rock-Klischees und Verse aus Kaisers Zeiten können nicht mehr beeindrucken. Das hat man auch im Osten begriffen. Die schlappen Altvorderen verlieren allmählich den Fan- und Presseboden unter den Füßen. Höchste Zeit für eine neue Musikergeneration, wie sie die Gruppen Keks, Brigitte Stephan & Meridian und vor allem Pankow repräsentieren. Es ist also nicht nur im Untergrund der DDR etwas in Bewegung gekommen, auch auf der etablierten Musikszene machen sich Veränderungen bemerkbar. Die Gruppen, die an die Oberfläche gelangt sind, haben schon Institutionen wie die Einstufung und die Musikhochschule erfolgreich durchlaufen und Förderung durch eine Radiostation genossen. Im Gegensatz zu den Untergrund-Musikern sind die neuen etablierten Bands keine Dilettanten und weniger wagemutig, haben einiges an jugendlicher Frische verloren, können dafür aber mit Erfahrung und Ausbildung aufwarten.
Was ist an den "Neutönern" genannten Bands anders als an den alten DDR-Rockern? Pankow verstehen ihr Konzept immerhin als "bewußten Gegenpol zum überwiegend lyrischen Rockverständnis anderer Formationen". Kern des Pankow-Konzepts ist die operettenhaft aufgebaute Alltagsshow "Paule Panke". "Ein Tag aus dem Leben eines Lehrlings" ist der Untertitel, und dieser Tag, ein Freitag, wird dem Publikum in neun Songs vorgeführt, vom Aufstehen des Paule Panke um 5.03 bis zum Schlafengehen um 24.01 (also genau dann, wenn hierzulande das Nachtleben erst richtig anfängt). Diese Art von theatralischer Polit-Rock-Show ist im Westen wahrhaftig nicht der letzte Schrei, in der DDR ist das noch brandneu.
Die fünf bieder aussehenden Rockmusiker mischen alle mit beim eintönigen Tagesablauf des Paule Panke, allen voran Sänger Andre Herzberg, der den Paule auf der Bühne verkörpert. Die optische Umsetzung von Musik und Text wird durch einige wenige Requisiten unterstützt.
Paule Panke hat Probleme. Die ganz ungewöhnlichen und alltäglichen Probleme, die man als Jugendlicher, egal ob in Ost oder West, hat, und ein paar ganz spezielle dazu, die man nur in der DDR haben kann. Paule steht nicht gerne morgens früh um 5.00 auf, um ab 6.00 in der lärmigen und hektischen Werkstatt zu schaffen. Recht hat er, das ist ja auch viel zu früh, kein Wunder, daß die DDR oft so verschlafen ist.
Schon zu Beginn des Programms wird deutlich, daß Pankow die Musik in erster Linie dazu benutzt, die Texte zu unterstützen. "Wenn Paule in die Werkstatt kommt/knallt der Lärm an seine Omme" singt Andre Herzberger, und prompt setzt auch Maschinenlärm vom Band und eine Stahlpercussion (auch eine totale Neuheit in der DDR) ein. Wie das nun mal im real-sozialistischen Alltagsleben so ist, folgt am Feierabend, nach einem harten Arbeitstag, noch eine Versammlung. "Zum Feierabend gibt's noch ein Bonbon/Mann, es ist Freitag, Kollege Chef/du weißt doch, da essen wir zeitig!/Da vorne spricht einer von Kampfauftrag/Maschinenauslastung und Schicht/Paule schlafen die Füße ein/Da ist kein Ende in Sicht!" Paule mag die Betriebsversammlungen nicht. Pankow ist da mit ihm einer Meinung (und darf das von offizieller Seite auch ganz offensichtlich sein), denn sie prangern nicht Paules ablehnende Haltung, sondern seine Feigheit an. Paule, der seiner Wut über den von der Partei vorgeplanten Feierabend gerne Luft lassen würde, traut sich nicht vor den mächtigen Genossen, die da vorne große Reden schwingen. Die emanzipierte Freundin von Paul, Mathilde ("Der tägliche Produktionskampf kennt keinen Unterschied zwischen Mann und Frau"-Propagandaplakat) ist da mutiger, sie erkämpft den Arbeitskollegen den wohlverdienten Feierabend. Es geht dann musikalisch getragen und zerfahren weiter, denn als Paule nun endlich um 19.30 (er war also 13 1/2 Stunden an seinem Arbeitsplatz, und wenn Pankow mit dieser Arbeitszeit nicht übertrieben hat, dann ist der freie deutsche Gewerkschaftsbund wohl einer der schlechtesten der Welt. [Der Sozialismus kennt keinen Unterschied zwischen Arbeit und Freizeit. Daß seine Durchführung in der DDR zu wünschen übrig läßt, berechtigt nicht, seine Institutionen mit kapitalistischer Freizeitideologie zu kritisieren. - ZK der Red.]) auf dem Heimweg ist, ist er mit sich keineswegs zufrieden. Von der langen schweren Arbeit physisch und von seinem Versagen auf der Versammlung psychisch belastet, wird Paule depressiv. "Da draußen weht naß kalt der Wind/mein Lebensplan ist auch noch blind/wer bin ich schon, was kann ich denn/ein Kaspar und ein Allesfan/mal will ich das und mal von dem/und hoch die Wissensfetzen wehn/mal Rock mal Jazz mal Blasmusik/mal Deutsch mal Sport mal Politik/dann kotzt die Welt mich an/und hinterher ich sie". War es früher noch gang und gäbe, daß von DDR-Bands ein Blatt vor den Mund genommen und nur schöne Gefühle, Kitschiges oder Politisches (aber Linientreues) gesungen wurde, so schildern heute die "Neutöner" nicht nur die rosarote, reingeschleckte Welt des Sozialismus, sondern auch Depressionen und Fehler im System (aber offensichtlich mit der gleichen Pennälerlyrik ["Hoch die Wissensfetzen wehn"] wie früher - Red.). Zur Freude des Zuhörers mobilisiert Paule jedoch noch einmal seine Kräfte und geht abends in die Disco. Musikalisch ist das wohl, zumindest für westliche Ohren, der Höhepunkt des Panke Opus'. Der sonst störende, weil oft schlechte harte Soli spielende Gitarrist Jürgen Ehle spielt plötzlich, wenn auch noch etwas zaghaft, eine Disco-Gitarre, der Bassist, der auch schon vorher kurze funky Passagen in einige Stücke eingebaut hatte, legt jetzt erst richtig los, und der sehr impulsive Schlagzeuger, er soll der beste der DDR sein, wird durch eine schüchtern tuckernde Rhythmusmaschine unterstützt. Ja, so stellt man sich Ost-Disco vor! Schade nur, daß der Gesang so schlecht ist. "Disco, Disco", ist das einzige, das die Band in regelmäßigen Abständen von sich gibt. Das klingt natürlich reichlich blöde (man stelle sich mal eine Punkband vor, die andauernd nur "Punk, Punk" brüllt). Plötzlich greift eine Jahrmarktsorgel ein, läßt Erinnerungen an Godeke Ilse wach werden (ist der etwa in die DDR emigriert?) und verwandelt den ganzen Song in einen 50er-Jahre-Schlager (auch nicht schlecht), der im Gegensatz zum Disco-Part wenigstens einen wichtigen Text hat. "Abends geht Paul in die Disco/- will Mathilde wiederseh'n/Da sieht er schon von weitem/Wahnsinnsmassenschlangen steh'n (aha, nicht nur vor der Fleischerei, auch vor der Disco muß man Schlange stehen - wo bleibt da denn die Lebensqualität?). Viel Düsternis, viel Kritik, doch am Ende des Tages ist ein breiter Lichtstreifen am deutschen demokratischen Himmel zu sehen. Der-trotz-alledem-es-geht-voran-Appell von Pankow heißt: "Komm endlich aus der Knete/denn jammern macht dümmer/jammern macht's schlimmer/als es in Wirklichkeit ist/Komm aus'm Arsch!"

Mitglied von Gaukler - DDR-Fool-Punks

Pankow, das ist nicht nur dieses in sich geschlossene Rockspektakel, das sind auch Hits wie "Inge Pawelczyk" und "Egal". Wenn man die Musik betrachtet, sind wohl auch diese beiden Stücke, obwohl mit Details wie der bereits erwähnten Orgelspielweise, einem sehr engagiert gespielten Schlagzeug und einem selten auftauchenden Funky-Bass versehen, nicht sehr interessant. Trotzdem sollte man sich die beiden Songs, die im September dieses Jahres parallel bei der Amiga und der RCA (für die BRD) erscheinen werden, ruhig einmal anhören, denn auch hinter ihnen steht ein für die DDR sehr interessantes, weil für dortige Verhältnisse revolutionäres Konzept. Wie auch bei Millionen anderer Songs geht es hier um Liebe, jedoch nicht schön umschrieben, sondern sehr direkt. "Egal" beschreibt die ersten Liebeserlebnisse eines Jungen, "Inge Pawelczyk" propagiert eine oft kritisierte Sexualmoral.
Natürlich kamen die Musiker der Neutöner-Bands nicht aus dem Nichts. Fast jeder DDR-Musiker muß viele Stationen durchlaufen, bei einer Menge Bands mitspielen, bevor er bekannt wird, daher ist das Durchschnittsalter von Pankow, 25-26 Jahre, für dortige Verhältnisse auch relativ gering. Die Bandmitglieder von Pankow spielten früher bei Prinzip, 4 PS (zwei eher biederen Bands) und bei den Gauklern, bevor sie erst zur Gruppe von Veronica Fischer und dann zu der heutigen (Begleit)Band wurden. Die Gaukler galten als die erste "New Wave" Band der DDR. Im Programm der 1979 gegründeten Gruppe waren Songs von Madness, Ian Dury und der "Superboy" von Nina Hagen, für den die Band dann auch prompt Aufführungsverbot bekam. Auch Keks spielten von West Bands nach. "My Way" von den Sex Pistols, "Sex & Drugs & Rock'n'Roll" von Ian Dury, Lieder von Police, sowie ein Stück von Freddy Quinn in einer Pogo-Version haben sie in ihrem Programm. Keks, die die bei den DDR-Punks beliebteste Band zu sein scheinen, bieten auch die härteste Bühnenshow. "Keks spielen hauptsächlich vor Schülern, kein Wunder, denn die Band ist ja selbst nicht aus dem Schülerstadium herausgekommen", heißt es in kompetenten Kreisen in der DDR zu deren Losgeh-Rock Im Gegensatz zu Keks wirkt Pankow eher schulmeisterlich. Die Musik ist zwar relativ einfach, aber auch sauber und korrekt arrangiert. Die Funktion der Musik liegt bei Pankow in erster Linie darin, die Texte, das wichtigste und wohl für die DDR in ihrer Direktheit fortschrittlichste Element des Programms, zu untermalen. Hier wird nicht fröhlich bis dümmlich, wie bei Keks, drauflosgerockt, sondern überlegt Musik gemacht. Auch Brigitte Stefan und Meridian machen überlegt Musik, doch bei dieser Gruppe scheint das Überlegen in erster Linie darin zu bestehen, wie man am besten Ideal und die Neonbabies nachahmt. Der absolute musikalische Höhepunkt der DDR war sicher die Single "Ich bin da gar nicht pingelig" von Nina Hagen (die beste Platte, die sie wohl jemals gemacht hat), schön arrangierter Schlagerpop. Die DDR hätte sie nie aus ihrer Umzäunung herauslassen sollen, wer weiß, was dann aus ihr geworden wäre... (es geht übrigens das Gerücht um, daß Alfred Hilsberg bereit wäre, gegen diese Single sein Zick-Zack-Label einzutauschen).

Pankow hatte mit "Egal" und "Inge Pawelczyk" Hits, lange bevor diese auf Platte erschienen. Das ist kein kurioser Ausnahmefall, sondern durchaus so üblich, denn um das Vinyl herzustellen, aus dem man die Platten preßt, braucht man Rohstoffe, in erster Linie Erdöl, dieses muß man aber mit harten Devisen bezahlen. Die Amiga, das für Pop, Rock, Jazz und Schlagermusik zuständige Label der einzigen Schallplattenfirma der Republik, der VEB Deutsche Schallplatte, bekommt aber für alle Schallplatten, die sie verkauft, nur den EVP (Einheitlichen Verkaufs-Preis) von 16,10 der auf dem internationalen Markt fast wertlosen DDR-Mark. Die Folge ist klar, jede Schallplatte, egal, wie oft sie sich verkauft, ist für die Amiga ein Verlustgeschäft. Deshalb veröffentlicht die Amiga ausgesprochen wenig Platten (im Schnitt zwei im Monat) und die auch nur in viel zu geringen Auflagen. Durch diese fast totale Handlungsunfähigkeit der Amiga ist das Radio gezwungen, neue Gruppen zu entdecken und Aufnahmen von bereits bestehenden zu publizieren. Wenn dem DDR-Rundfünk eine Band interessant erscheint, wird er von dieser erstmal einen Live-Mitschnitt machen und senden. Aufgrund von Zuschauerresonanz oder starkem Interesse von Redakteuren wird vom Radio später dann eine Studioaufnahme produziert, diese muß dann einem Gremium gefallen, um für die Hitparade vorgeschlagen zu werden. Erst wenn der Song dann in den Charts auf einen der ganz vorderen Plätze gelangt ist, tritt die Amiga auf die Gruppe zu. Daran liegt es auch, daß die Gaukler in ihrem zweijährigen Bestehen nur einen Song (und den auch nur auf einem Sampler) veröffentlichen konnte. Keks, die sogar schon eine längst vergriffene Single publiziert haben, müssen auf das Erscheinen ihrer lange geplanten LP wohl mindestens genauso lange warten wie Pankow auf die Veröffentlichung ihres Panke-Werkes. Allzu großen finanziellen Erfolg kann eine DDR-Band mit einer Platte auch nicht erwarten. Jeder Mitspieler bekommt pro aufgenommenes Stück nur eine Pauschale von 400 Mark, egal wie oft die Platte nun verkauft wird. Die Gebühren für die Aufführung im Radio stecken, wie im Westen, natürlich nur die Komponisten ein. Hungern müssen erfolgreiche DDR-Musiker trotzdem nicht, sie leben von der wesentlich besser als in der BRD ausgebauten staatlichen Förderung.
Es ist wirklich nicht leicht, in der DDR Rockstar zu werden, es ist aber auch nicht leicht, sich für neue DDR-Musik zu interessieren. Platten, so weit es die überhaupt gibt, sind im Nu vergriffen. Was bleibt, ist DDR-Radio zu hören oder DDR Fernsehen zu gucken (es soll im Fernsehen bald eine Sendung über neue DDR-Musik starten). Bei DDR-Besuchen sollte man die Ohren offenhalten, denn von Konzerten hört man meist nur über Mundpropaganda. Doch um in die DDR zu reisen, sollte man gute Nerven und eine gewisse Unbefangenheit haben. Die Unbefangenheit braucht man, um mit allem, was man dort erleben wird, überhaupt etwas anfangen zu können, denn die DDR und die BRD sind wohl weiter voneinander entfernt, als Liechtenstein und Angola, und Nerven braucht man halt in einem Land, dessen treffendste Charakterisierung das von Chris Lunch kreierte "Disneyland der Paranoia "ist.

(Quelle: Sounds 9/82)


Fresse / Information Overload