Die französischen Schlagerstars beherrschen, ob Disco-orientiert oder nicht, noch immer die Musikszene unseres Nachbarlandes, und Mireille Mathieu ist auch jetzt noch der ewige Sonntagsgast des französischen Fernsehens. Der Tod von Elvis Presley hat anscheinend keine große Lücke hinterlassen, denn noch immer wird der Rock aus England und Amerika vorbehaltlos gefeiert.


Französischer Rock - käske ssäh???

Frankreich Ende 1978. Präsident Valerie Giscard D'Estaing steht an der Spitze des Staates. Die Bediensteten der Post, des Fernsehens, der Metro, der Müllabfuhr und die Lehrer (die Liste ist längst nicht vollständig) treten in schöner Regelmäßigkeit in den Streik.

Von Elisabeth Daniere

Doch man gewöhnt sich daran; genauso wie man sich an die Disco-Welle gewöhnt. Cerrone, France Gall, Sheila B. Devotion und Patrick Juvet sind die Namen, die einem Nicht-Franzosen bei dem Stichwort "neue französischen Musik" sofort in den Sinn kommen . - Samstagnacht-Fieber auf Französisch. - In der Diskothek "Elysees" tanzt das in fünfziger Jahre-Chic gewandete Volk zu den Klängen von GREASE oder "Miss You". Doch noch hat die Disco-Flut nicht alle französischen Musikliebhaber überschwemmt; Gallagher, Clapton und Rod Stewart locken immer noch mehrere tausend Leute in die riesigen, heiß/kalten Konzertarenen, und Clash, Blondie, Kraftwerk oder Devo gelten für viele als DIE Rockgrößen der nächsten Jahre.
Da man Frankreich vom Ausland her so oberflächlich betrachtet, muß man natürlich den Eindruck bekommen, als habe sich seit dem tragischen Tod von Claude (Clou Clou) Francois nichts verändert. Die französischen Schlagerstarts (in Frankreich seltsamerweise Variete genannt) beherrschen, ob Disco-orientiert oder nicht, noch immer die Szene, und Mireille Mathieu ist auch jetzt noch der ewige Sonntagsgast des französischen Fernsehens. Der Tod von Elvis Presley hat scheinbar keine große Lücke hinterlassen, denn noch immer wird der Rock aus England und Amerika vorbehaltlos gefeiert.
Wie kann ich unter solchen Bedingungen von den deutschen Lesern ernstgenommen werden, wenn ich das Wort vom "französischen Rock" hier aufs Tapet bringe? Doch blättert man daheim einmal wichtige Tageszeitungen wie "Le Monde" und "Liberation" durch, so stellt man fest, dass dies Blätter in den letzten Monaten dem "Rock francais" dutzende Seiten gewidmet haben. Nicht anders sieht es bei der berühmten Wochenzeitschrift "L' Express" und in dem bekannten Rock-Magazin "Rock & Folk" aus. Und natürlich auch das hiesige Radio: Französische Bands und Musiker wie Jacques Higelin, Telephone und Starshooter tummeln sich in den oberen Plätzen der heimischen Charts. Alles Namen, die in Deutschland nahezu unbekannt sind und die auch in Frankreich gerade erst dabei sind, den heimischen Markt zu erobern.

Die verrückten 60er

In knapp drei Jahren sind zahlreiche Rock-Gruppen aufgetaucht, die dem bis dato lächerlich klingenden Slogan "Rock made in France" plötzlich Glaubwürdigkeit verschafft haben. - Doch eigentlich gab es in Frankreich bereits vor ca. 20 Jahren eine ähnliche Rock-Bewegung, denkt man z.B. an Leute wie Johnny Hallyday, Vince Taylor, Eddy Mitchell, Les Chats Sauvages (die wilden Katzen), Les Chaussettes Noires (die schwarzen Strümpfe), Jacques Dutronc oder Francoise Hardy. All die machten hier zur selben Zeit Furore wie die Beatles und die Rolling Stones jenseits des Kanals. Und zu jener Zeit waren auch die französischen Plattenläden noch nicht mit angloamerikanischen Produkten überfüllt.
Der französische Rock jener Tage stand in hoher, doch leider kurzer Blüte, denn auch hierzulande war der alles überrollende Erfolg der Beatles nicht aufzuhalten. Kurzum, die französischen Rocker mußten sich wohl oder übel zurückziehen. Einige retteten ihre Haut dadurch, daß sie sich auf Hausmannskost, sprich Schlager, besannen. - Johnny Hallyday, Sylvie Vartan, Sheila und Claude Francois überlebten so; die anderen gerieten in Vergessenheit. Dennoch tauchen einige der Altstars auch heute wieder auf. Zwar nicht auf Platte oder auf der Bühne, sondern als Vorbilder der neuen Rock-Welle. Nicht nur, daß ihr Klamotten-Stil beim Volk wieder "in" ist, nein, selbst solche Bands wie Bijou und Starshooter spielen Uralt-Hits von Jacques Dutronc, Serge Gainsbourg oder Ronnie Bird.

Jacques Higelin...
...und Johnny Hallyday (Fotos: E.Daniere, J.-L. Rancurel)

Frischzellenkur

Doch vor allem brachte die zweite Rock-Welle, die sog. "New Wave", gerade in Frankreich vieles in Bewegung, äußerte sich in einer neuen Betrachtungsweise und schlug sich in diversen Band-Neugründungen wieder.
1976, London. Auf einmal ist das Wort "Punk" in aller Munde. Die Sex Pistols kreieren das Symbol dieser neuen Bewegung, die Sicherheitsnadel, und die Clash proben den weißen Aufstand, "White Riot".
Paris, ständig unter musikalischer Kontrolle Londons, wird über Nacht vom Punk-Fieber erfaßt. Doch der musikalische Hintergrund dieser Musik wird von der Schickeria der französischen Hauptstadt als Aufruf zu einer neuen Mode-Welle mißverstanden. Die Pariser Schneider stürzen sich natürlich sofort auf diese Lumpenmode, und die erste französische Punk-Band namens Stinky Toys wird auf den mondänen Parties der Hauptstadt herumgereicht. Alain Pacadis, Cheftheoretiker der französischen Punk-Bewegung, hat seine wöchentliche Kolumne in der linksorientierten Tageszeitung "Liberation" und wird hoffnungslos mißverstanden. Wie soll er auch älteren französischen Bürgern klarmachen, daß das Hakenkreuz, nicht als neuerliche Hinwendung zum Nationalsozialismus, sondern als dessen Verächtlichmachung zu betrachten ist.
Parallel zur Punk-Welle entwickelt sich auch eine neue Bewegung der bildenden Künste; die Illustratorengruppe Bazooka illustriert zahlreiche Zeitschriftenartikel, entwirft verrückte Plattenhüllen, die dereinst wohl im Museum der neuen Kunst gleich neben Andy Warhols Werken zu finden sein werden.

Punk Français

Der Sommer 1977 ist der Höhepunkt der Punk-Rock-Bewegung. Die Sex Pistols bringen mit "God Save The Queen" eine ganze Nation gegen sich auf, und das erste Punk-Festival findet - seltsamerweise - in Frankreich statt, denn die britische Regierung hat mittlerweile jedwede Punk-Veranstaltung untersagt. Mont-de-Marsan, ein kleines Kaff, mitten im tiefsten Frankreich. Wir schreiben den Monat August, und dieser Sommer ist selbst hier außergewöhnlich heiß. Die Presse ist voll mit Berichten über dieses Festival, man läßt die Leser wissen, daß die friedlichen Hippies verstorben seien und nun eine neue, schreckliche Gefahr die Welt bedrohe: Punks!
Doch weitaus interessanter ist die Tatsache, daß auf diesem Festival auch viele französische Bands auftreten, ohne mitleidig belächelt zu werden. Gruppen wie Asphalt Jungle, Shakin' Street, Lou's (eine reine Mädchenband), Little Bob Story, Marie et les Garcons und Bijou finden den gleichen Anklang wie die ebenfalls vertretenen Clash, Damned, Eddie and the Hot Rods, Doctor Feelgood, Jam oder Lou Reed.

Illustration: Serge Clerc

Nouvelle Vague

Herbst 1977. Die Artikel über das Mont-de-Marsan-Festival lassen sogar in den Chefetagen des Showbiz aufhorchen. - "Kann es sein, daß diese Musik etwa soviel Geld wie unsere Schlager einbringen kann?", fragen sich die Großkopfeten der französischen Musik-Mafia, die nun natürlich befürchten, daß ihnen da was durch die Lappen gehen könnte. Der Herbst '77 wird folgendem die fruchtbarste Jahreszeit für die neuen französischen Bands - es hagelt geradezu Verträge. Fast alle Gruppen nehmen Platten auf, doch die französische Musikpresse steigt (noch) nicht auf das Geschehen vor ihrer Haustür ein. Die Journalisten sind mißtrauisch. Mit Recht, denn bis dato hatten lediglich zwei französische Rock-Bands einigen Erfolg: Ange und Magma. Beide Bands entstanden anfang der siebziger Jahre und spielen auch heute noch ihre "Space-Music", ohne sich im Geringsten darum zu kümmern, was um sie herum vorgeht. Zwar sind sie auch heute noch in Frankreich sehr beliebt, doch daß sie die neue Welle beeinflußt hätten, kann man nicht behaupten.
Frühling '78. Die Rock-Presse scheint mit ihrer Zurückhaltung, Punk-Bands betreffend, richtig gelegen zu haben, denn bereits jetzt sind viele Gruppen in Vergessenheit geraten. Mögen sie zwar noch hin und wieder auftreten, so haben sich dennoch nur ein paar wenige Bands durchsetzen können. Und siehe da, es sind vorwiegend Gruppen, die sich mehr und mehr vom Punk-Rock entfernt und ihre eigene musikalische Identität gefunden haben. Telephone, Bijou, Starshooter, Ganafoul, Little Bob Story, Marie et les Garcons und Trust sind diejenigen, die übrigblieben. Telephone verkauft in knapp einem Jahr über 100000 Platten und Starshooter halten sich gar drei Tage lang auf Platz Eins der Rundfunk-Charts. - Vor Travolta!

Bevor ich nun ausführlicher über all diese Bands berichte, möchte ich schnell noch etwas über den Background der französischen Musik-Szene erzählen: Wenn ich hier Frankreich sage, meine ich in erster Linie Paris, denn das Land ist nicht nur politisch, sondern auch
kulturell zentralisiert. Und obwohl die meisten Bands aus der Provinz kommen (Little Bob Story z.B. aus Le Havre, Ganafoul, Starshooter und Marie et les Garcons aus Lyon), kann man eigentlich nur bei Paris von einer wirklichen "Rock-Szene" sprechen.

Pariser Spaziergang
Wer vor etwa einem Jahr in Paris war, hat mit Sicherheit allerorten Punk-Graffiti entdecken können, doch seit dem letzten Wahlkampf, bei dem alle Mauern mit Plakaten bepflastert wurden, sind die meisten Inschriften verschwunden. Und heute, da sich die Sex Pistols aufgelöst haben, sieht man auch das Wörtchen "Punk" immer seltener - das Gekritzel hat sich französiert. Das Wort "Telephone" z.B. findet man nun nicht nur auf den modernistischen Chrom-Häuschen, sondern häufig auch auf Schulmauern - kein Wunder, Telephone sind z.Zt. die populärste Gruppe Frankreichs. Der Spruch "Bijou aime les filles" (Bijou liebt die Mädchen) ist eine Anspielung auf die zwei LPs von Bijou, denn diese Band spielt bevorzugt Liebesliedchen. Und was den Slogan "Starshooter, c'est de la merde!" (Starshooter ist Scheiße) anbelangt, so stammt der von der Gruppe selbst; wohl um jedem eventuellen Angriff vorzubeugen.
U-Bahnstationen "Republique" und "Bastille". Hier sind wir in einem Stadtviertel, das auch heute noch an die französische Revolution denken läßt; nicht nur der Stationsnamen wegen, sondern vor allem wegen der dort herrschenden Gewalt und Brutalität. Bei Einbruch der Dämmerung ist dies Viertel in der Hand der Straßenkids - Lederjacken, schwere Motorräder und in den Taschen die obligatorischen Messer. Unglücklicher Zufall: 1977 war hier mit dem Club "Le Gibus" auch das Zentrum der Pariser Punks. Und wer den großen Haß kennt, den Rocker und Punks aufeinander haben, der kann sich denken, daß es nicht ratsam war, dort mit Sicherheitsnadeln und Rasierklingen geschmückt herumzustolzieren. Wie gesagt, "Le Gibus" war das Mekka der Punks, und auch heute treten in diesem Club die neuen französischen und englischen Bands auf. Außerdem ist "Le Gibus" für seine relaxte Atmosphäre und die exzellente Pizza bekannt.
U-Balhnstation "Richelieu-Drouot"; ein Viertel mit teuren Schuhläden, großen Cafes und labberigen Hamburgern (ja selbst die Franzosen haben Herrn McDonalds kulinarischen Segnungen nicht widerstehen können). Und genau hier finden wir "Le Golf Drouot". In den sechziger Jahren war der "Golf" der Hort der Pariser Rock-Szene. Hier trafen sich in- und ausländische Rock-Stars; Johnny Hallyday und Jaques Dutronc wurden hier berühmt, und David Bowie spielte hier anno '64 mehrere Tage. Im "Golf Drouot" hat sich seit rund 20 Jahren absolut nichts geändert, d.h., der Laden ist lediglich älter und gammeliger geworden. Dennoch ist es immer noch der einzige Ort, in dem unbekannte Rock-Bands auftreten können.
Zweihundert Meter weiter, Mitternacht. Eine tres chic gewandete Menge steht vor dem "Palace" Schlange; dieser Club ist besonders durch sein Publikum signifikant dafür, wie der Punk in Paris zum puren Snobismus heruntergekommen ist. Hier trifft man die Schauspieler, die Rundfunkleute, die Pariser Schneider, die Mannequins, kurzum in jeder Beziehung das "Beste", das Paris diesbezüglich zu bieten hat. Gelegentlich sichtet man auch schon mal einen Musikjournalisten, vorausgesetzt er hat eine Freikarte gekriegt. Doch trotz all der Schickeria kann man hier für rund 70 Francs (ca. 30 DM) jeden Abend gute Bands und Solisten hören: Robert Palmer, Steel Pulse, The Cars, Peter Tosh, Millie Jackson, Tal Mahal usw. usw. All das in einer Höhle aus purpurrotem. Samt, mit Lüstern an der Decke, Balkons und Logen ringsrum und von Laserstrahlen erleuchtet. Wahrhaft psychedelisch!
U-Bahnstation "Opera". Natürlich ist die Pariser Oper gleich nebenan; aber auch das "Olymp", der sprichwörtliche Olymp der französischen Schlager-Größen. Doch lassen wir diese Herrschaften lieber unter sich und werfen stattdessen einen Blick ins "Le Rose Bonbon", einen kleinen Club, der vor wenigen Monaten seine Pforten öffnete. Nomen est omen, der ganze Laden präsentiert sich selbstredend ganz in Rosa. Selbst der Diskjockey hat sich farblich angepaßt; er trägt ein Paar Beinkleider aus rosa Kunststoff. Und hier kann man wahrhaft rosa Nächte erleben: jeden Abend tritt eine andere neue Rock-Band auf. Hier ist der Treffpunkt für alle Fans, die schon jetzt gebannt auf das Jahr 1980 warten, hier muß man bei einem Paris-Besuch unbedingt hin! Und mit dieser Stippvisite ist unser Pariser Spaziergang vorerst beendet.
Fortsetzung folgt

(Quelle: Sounds 2/79)


Fresse / Information Overload