|  
       Die französischen Schlagerstars beherrschen, ob Disco-orientiert oder nicht, noch immer die Musikszene unseres Nachbarlandes, und Mireille Mathieu ist auch jetzt noch der ewige Sonntagsgast des französischen Fernsehens. Der Tod von Elvis Presley hat anscheinend keine große Lücke hinterlassen, denn noch immer wird der Rock aus England und Amerika vorbehaltlos gefeiert. 
       | 
  
![]()  | 
        
Von Elisabeth Daniere
Doch man gewöhnt sich daran; genauso wie man sich an die Disco-Welle 
        gewöhnt. Cerrone, France Gall, Sheila B. Devotion und Patrick Juvet 
        sind die Namen, die einem Nicht-Franzosen bei dem Stichwort "neue 
        französischen Musik" sofort in den Sinn kommen . - Samstagnacht-Fieber 
        auf Französisch. - In der Diskothek "Elysees" tanzt das 
        in fünfziger Jahre-Chic gewandete Volk zu den Klängen von GREASE 
        oder "Miss You". Doch noch hat die Disco-Flut nicht alle französischen 
        Musikliebhaber überschwemmt; Gallagher, Clapton und Rod Stewart locken 
        immer noch mehrere tausend Leute in die riesigen, heiß/kalten Konzertarenen, 
        und Clash, Blondie, Kraftwerk oder Devo gelten für viele als DIE 
        Rockgrößen der nächsten Jahre.
        Da man Frankreich vom Ausland her so oberflächlich betrachtet, muß 
        man natürlich den Eindruck bekommen, als habe sich seit dem tragischen 
        Tod von Claude (Clou Clou) Francois nichts verändert. Die französischen 
        Schlagerstarts (in Frankreich seltsamerweise Variete genannt) beherrschen, 
        ob Disco-orientiert oder nicht, noch immer die Szene, und Mireille Mathieu 
        ist auch jetzt noch der ewige Sonntagsgast des französischen Fernsehens. 
        Der Tod von Elvis Presley hat scheinbar keine große Lücke hinterlassen, 
        denn noch immer wird der Rock aus England und Amerika vorbehaltlos gefeiert.
        Wie kann ich unter solchen Bedingungen von den deutschen Lesern ernstgenommen 
        werden, wenn ich das Wort vom "französischen Rock" hier 
        aufs Tapet bringe? Doch blättert man daheim einmal wichtige Tageszeitungen 
        wie "Le Monde" und "Liberation" durch, so stellt man 
        fest, dass dies Blätter in den letzten Monaten dem "Rock francais" 
        dutzende Seiten gewidmet haben. Nicht anders sieht es bei der berühmten 
        Wochenzeitschrift "L' Express" und in dem bekannten Rock-Magazin 
        "Rock & Folk" aus. Und natürlich auch das hiesige Radio: 
        Französische Bands und Musiker wie Jacques Higelin, Telephone und 
        Starshooter tummeln sich in den oberen Plätzen der heimischen Charts. 
        Alles Namen, die in Deutschland nahezu unbekannt sind und die auch in 
        Frankreich gerade erst dabei sind, den heimischen Markt zu erobern.
Die verrückten 60er
In knapp drei Jahren sind zahlreiche Rock-Gruppen aufgetaucht, die dem 
        bis dato lächerlich klingenden Slogan "Rock made in France" 
        plötzlich Glaubwürdigkeit verschafft haben. - Doch eigentlich 
        gab es in Frankreich bereits vor ca. 20 Jahren eine ähnliche Rock-Bewegung, 
        denkt man z.B. an Leute wie Johnny Hallyday, Vince Taylor, Eddy Mitchell, 
        Les Chats Sauvages (die wilden Katzen), Les Chaussettes Noires (die schwarzen 
        Strümpfe), Jacques Dutronc oder Francoise Hardy. All die machten 
        hier zur selben Zeit Furore wie die Beatles und die Rolling Stones jenseits 
        des Kanals. Und zu jener Zeit waren auch die französischen Plattenläden 
        noch nicht mit angloamerikanischen Produkten überfüllt.
        Der französische Rock jener Tage stand in hoher, doch leider kurzer 
        Blüte, denn auch hierzulande war der alles überrollende Erfolg 
        der Beatles nicht aufzuhalten. Kurzum, die französischen Rocker mußten 
        sich wohl oder übel zurückziehen. Einige retteten ihre Haut 
        dadurch, daß sie sich auf Hausmannskost, sprich Schlager, besannen. 
        - Johnny Hallyday, Sylvie Vartan, Sheila und Claude Francois überlebten 
        so; die anderen gerieten in Vergessenheit. Dennoch tauchen einige der 
        Altstars auch heute wieder auf. Zwar nicht auf Platte oder auf der Bühne, 
        sondern als Vorbilder der neuen Rock-Welle. Nicht nur, daß ihr Klamotten-Stil 
        beim Volk wieder "in" ist, nein, selbst solche Bands wie Bijou 
        und Starshooter spielen Uralt-Hits von Jacques Dutronc, Serge Gainsbourg 
        oder Ronnie Bird.
![]()  | 
        
|  
             Jacques Higelin... 
           | 
        
![]()  | 
        
|  
             ...und Johnny Hallyday (Fotos: E.Daniere, J.-L. 
              Rancurel) 
           | 
        
Frischzellenkur
Doch vor allem brachte die zweite Rock-Welle, die sog. "New Wave", 
        gerade in Frankreich vieles in Bewegung, äußerte sich in einer 
        neuen Betrachtungsweise und schlug sich in diversen Band-Neugründungen 
        wieder.
        1976, London. Auf einmal ist das Wort "Punk" in aller Munde. 
        Die Sex Pistols kreieren das Symbol dieser neuen Bewegung, die Sicherheitsnadel, 
        und die Clash proben den weißen Aufstand, "White Riot".
        Paris, ständig unter musikalischer Kontrolle Londons, wird über 
        Nacht vom Punk-Fieber erfaßt. Doch der musikalische Hintergrund 
        dieser Musik wird von der Schickeria der französischen Hauptstadt 
        als Aufruf zu einer neuen Mode-Welle mißverstanden. Die Pariser 
        Schneider stürzen sich natürlich sofort auf diese Lumpenmode, 
        und die erste französische Punk-Band namens Stinky Toys wird auf 
        den mondänen Parties der Hauptstadt herumgereicht. Alain Pacadis, 
        Cheftheoretiker der französischen Punk-Bewegung, hat seine wöchentliche 
        Kolumne in der linksorientierten Tageszeitung "Liberation" und 
        wird hoffnungslos mißverstanden. Wie soll er auch älteren französischen 
        Bürgern klarmachen, daß das Hakenkreuz, nicht als neuerliche 
        Hinwendung zum Nationalsozialismus, sondern als dessen Verächtlichmachung 
        zu betrachten ist.
        Parallel zur Punk-Welle entwickelt sich auch eine neue Bewegung der bildenden 
        Künste; die Illustratorengruppe Bazooka illustriert zahlreiche Zeitschriftenartikel, 
        entwirft verrückte Plattenhüllen, die dereinst wohl im Museum 
        der neuen Kunst gleich neben Andy Warhols Werken zu finden sein werden.
Punk Français
Der Sommer 1977 ist der Höhepunkt der Punk-Rock-Bewegung. Die Sex 
        Pistols bringen mit "God Save The Queen" eine ganze Nation gegen 
        sich auf, und das erste Punk-Festival findet - seltsamerweise - in Frankreich 
        statt, denn die britische Regierung hat mittlerweile jedwede Punk-Veranstaltung 
        untersagt. Mont-de-Marsan, ein kleines Kaff, mitten im tiefsten Frankreich. 
        Wir schreiben den Monat August, und dieser Sommer ist selbst hier außergewöhnlich 
        heiß. Die Presse ist voll mit Berichten über dieses Festival, 
        man läßt die Leser wissen, daß die friedlichen Hippies 
        verstorben seien und nun eine neue, schreckliche Gefahr die Welt bedrohe: 
        Punks!
        Doch weitaus interessanter ist die Tatsache, daß auf diesem Festival 
        auch viele französische Bands auftreten, ohne mitleidig belächelt 
        zu werden. Gruppen wie Asphalt Jungle, Shakin' Street, Lou's (eine reine 
        Mädchenband), Little Bob Story, Marie et les Garcons und Bijou finden 
        den gleichen Anklang wie die ebenfalls vertretenen Clash, Damned, Eddie 
        and the Hot Rods, Doctor Feelgood, Jam oder Lou Reed.
![]()  | 
        
|  
             Illustration: Serge Clerc 
           | 
        
![]()  | 
        
![]()  | 
        
Nouvelle Vague
Herbst 1977. Die Artikel über das Mont-de-Marsan-Festival lassen 
        sogar in den Chefetagen des Showbiz aufhorchen. - "Kann es sein, 
        daß diese Musik etwa soviel Geld wie unsere Schlager einbringen 
        kann?", fragen sich die Großkopfeten der französischen 
        Musik-Mafia, die nun natürlich befürchten, daß ihnen da 
        was durch die Lappen gehen könnte. Der Herbst '77 wird folgendem 
        die fruchtbarste Jahreszeit für die neuen französischen Bands 
        - es hagelt geradezu Verträge. Fast alle Gruppen nehmen Platten auf, 
        doch die französische Musikpresse steigt (noch) nicht auf das Geschehen 
        vor ihrer Haustür ein. Die Journalisten sind mißtrauisch. Mit 
        Recht, denn bis dato hatten lediglich zwei französische Rock-Bands 
        einigen Erfolg: Ange und Magma. Beide Bands entstanden anfang der siebziger 
        Jahre und spielen auch heute noch ihre "Space-Music", ohne sich 
        im Geringsten darum zu kümmern, was um sie herum vorgeht. Zwar sind 
        sie auch heute noch in Frankreich sehr beliebt, doch daß sie die 
        neue Welle beeinflußt hätten, kann man nicht behaupten.
        Frühling '78. Die Rock-Presse scheint mit ihrer Zurückhaltung, 
        Punk-Bands betreffend, richtig gelegen zu haben, denn bereits jetzt sind 
        viele Gruppen in Vergessenheit geraten. Mögen sie zwar noch hin und 
        wieder auftreten, so haben sich dennoch nur ein paar wenige Bands durchsetzen 
        können. Und siehe da, es sind vorwiegend Gruppen, die sich mehr und 
        mehr vom Punk-Rock entfernt und ihre eigene musikalische Identität 
        gefunden haben. Telephone, Bijou, Starshooter, Ganafoul, Little Bob Story, 
        Marie et les Garcons und Trust sind diejenigen, die übrigblieben. 
        Telephone verkauft in knapp einem Jahr über 100000 Platten und Starshooter 
        halten sich gar drei Tage lang auf Platz Eins der Rundfunk-Charts. - Vor 
        Travolta!
Bevor ich nun ausführlicher über all diese Bands berichte, 
        möchte ich schnell noch etwas über den Background der 
        französischen Musik-Szene erzählen: Wenn ich hier Frankreich 
        sage, meine ich in erster Linie Paris, denn das Land ist nicht nur politisch, 
        sondern auch
        kulturell zentralisiert. Und obwohl die meisten Bands aus der Provinz 
        kommen (Little Bob Story z.B. aus Le Havre, Ganafoul, Starshooter und 
        Marie et les Garcons aus Lyon), kann man eigentlich nur bei Paris von 
        einer wirklichen "Rock-Szene" sprechen.
Pariser Spaziergang
        Wer vor etwa einem Jahr in Paris war, hat mit Sicherheit allerorten Punk-Graffiti 
        entdecken können, doch seit dem letzten Wahlkampf, bei dem alle Mauern 
        mit Plakaten bepflastert wurden, sind die meisten Inschriften verschwunden. 
        Und heute, da sich die Sex Pistols aufgelöst haben, sieht man auch 
        das Wörtchen "Punk" immer seltener - das Gekritzel hat 
        sich französiert. Das Wort "Telephone" z.B. findet man 
        nun nicht nur auf den modernistischen Chrom-Häuschen, sondern häufig 
        auch auf Schulmauern - kein Wunder, Telephone sind z.Zt. die populärste 
        Gruppe Frankreichs. Der Spruch "Bijou aime les filles" (Bijou 
        liebt die Mädchen) ist eine Anspielung auf die zwei LPs von Bijou, 
        denn diese Band spielt bevorzugt Liebesliedchen. Und was den Slogan "Starshooter, 
        c'est de la merde!" (Starshooter ist Scheiße) anbelangt, so 
        stammt der von der Gruppe selbst; wohl um jedem eventuellen Angriff vorzubeugen.
        U-Bahnstationen "Republique" und "Bastille". Hier 
        sind wir in einem Stadtviertel, das auch heute noch an die französische 
        Revolution denken läßt; nicht nur der Stationsnamen wegen, 
        sondern vor allem wegen der dort herrschenden Gewalt und Brutalität. 
        Bei Einbruch der Dämmerung ist dies Viertel in der Hand der Straßenkids 
        - Lederjacken, schwere Motorräder und in den Taschen die obligatorischen 
        Messer. Unglücklicher Zufall: 1977 war hier mit dem Club "Le 
        Gibus" auch das Zentrum der Pariser Punks. Und wer den großen 
        Haß kennt, den Rocker und Punks aufeinander haben, der kann sich 
        denken, daß es nicht ratsam war, dort mit Sicherheitsnadeln und 
        Rasierklingen geschmückt herumzustolzieren. Wie gesagt, "Le 
        Gibus" war das Mekka der Punks, und auch heute treten in diesem Club 
        die neuen französischen und englischen Bands auf. Außerdem 
        ist "Le Gibus" für seine relaxte Atmosphäre und die 
        exzellente Pizza bekannt.
        U-Balhnstation "Richelieu-Drouot"; ein Viertel mit teuren Schuhläden, 
        großen Cafes und labberigen Hamburgern (ja selbst die Franzosen 
        haben Herrn McDonalds kulinarischen Segnungen nicht widerstehen können). 
        Und genau hier finden wir "Le Golf Drouot". In den sechziger 
        Jahren war der "Golf" der Hort der Pariser Rock-Szene. Hier 
        trafen sich in- und ausländische Rock-Stars; Johnny Hallyday und 
        Jaques Dutronc wurden hier berühmt, und David Bowie spielte hier 
        anno '64 mehrere Tage. Im "Golf Drouot" hat sich seit rund 20 
        Jahren absolut nichts geändert, d.h., der Laden ist lediglich älter 
        und gammeliger geworden. Dennoch ist es immer noch der einzige Ort, in 
        dem unbekannte Rock-Bands auftreten können.
        Zweihundert Meter weiter, Mitternacht. Eine tres chic gewandete 
        Menge steht vor dem "Palace" Schlange; dieser Club ist besonders 
        durch sein Publikum signifikant dafür, wie der Punk in Paris zum 
        puren Snobismus heruntergekommen ist. Hier trifft man die Schauspieler, 
        die Rundfunkleute, die Pariser Schneider, die Mannequins, 
        kurzum in jeder Beziehung das "Beste", das Paris diesbezüglich 
        zu bieten hat. Gelegentlich sichtet man auch schon mal einen Musikjournalisten, 
        vorausgesetzt er hat eine Freikarte gekriegt. Doch trotz all der Schickeria 
        kann man hier für rund 70 Francs (ca. 30 DM) jeden Abend gute Bands 
        und Solisten hören: Robert Palmer, Steel Pulse, The Cars, Peter Tosh, 
        Millie Jackson, Tal Mahal usw. usw. All das in einer Höhle aus purpurrotem. 
        Samt, mit Lüstern an der Decke, Balkons und Logen ringsrum und von 
        Laserstrahlen erleuchtet. Wahrhaft psychedelisch!
        
U-Bahnstation 
        "Opera". Natürlich ist die Pariser Oper gleich nebenan; 
        aber auch das "Olymp", der sprichwörtliche Olymp der französischen 
        Schlager-Größen. Doch lassen wir diese Herrschaften lieber 
        unter sich und werfen stattdessen einen Blick ins "Le Rose Bonbon", 
        einen kleinen Club, der vor wenigen Monaten seine Pforten öffnete. 
        Nomen est omen, der ganze Laden präsentiert sich selbstredend ganz 
        in Rosa. Selbst der Diskjockey hat sich farblich angepaßt; er trägt 
        ein Paar Beinkleider aus rosa Kunststoff. Und hier kann man wahrhaft rosa 
        Nächte erleben: jeden Abend tritt eine andere neue Rock-Band auf. 
        Hier ist der Treffpunkt für alle Fans, die schon jetzt gebannt auf 
        das Jahr 1980 warten, hier muß man bei einem Paris-Besuch unbedingt 
        hin! Und mit dieser Stippvisite ist unser Pariser Spaziergang vorerst 
        beendet.
        Fortsetzung folgt
(Quelle: Sounds 2/79)