Französischer Rock - käske ssäh???
Teil 2‚ Lyon Roque

Es war im Juli 1978 nach Christus, und dennoch hatte man den Eindruck, als finden von neuem römische Spiele statt: die hochsommerliche Sonne brennt auf die verschwitzte und aufgeregte Menge, die sich auf den Sitzbänken des römischen Theaters von Lyon versammelt hat. Worauf wartet man? Auf hungrige Löwen und heldenmütige Christen?

Starshooter - Lebensmittelfarbe in der Milch?

Von Elisabeth Daniere

Wahrscheinlich nicht, denn im Juli 1978 heißt Lyon schon nicht mehr "Lugdunum", die Hauptstadt Galliens, sondern Lyon, die Hauptstadt des französischen Rock'n'Roll. Und an diesem sommerlichen Nachmittag findet im römischen Theater Lyons ein französisches Rockfestival statt: Flush, Safety, Electric Callas, Ganafoul, Marie et les Garcons, Starshooter (alle aus Lyon), Telephone, Bijou (aus Paris), Little Bob Story (Le Havre), dazu als Sondergäste die Reggae-Band The Cimarons sowie Nick Lowe und Dave Edmunds. Die harmlosen Löwen dösten im Zoo von Lyon, und die bürgerlichen Christen dösten daheim von ihren Fernsehgeräten. Für sie war der Rock'n'Roll dieser Tage so dekadent wie das Römische Reich vor zweitausend Jahren.
Im Unterschied zu England und Deutschland bleibt in Frankreich und daher auch in Lyon das Wort Rock'n'Roll ein Tabu. Da es aus der angelsächsischen Kultur kommt, weigert sich das französische Volk, es in sein kulturelles Erbgut einzubeziehen. Beim Durchschnittsfranzosen weckt das Wort Assoziationen zu Rauschgift, Gewalt und Verfall der Jugend. Die Fernsehprogramme widmen der Rockmusik nicht mehr als eine halbe Stunde pro Woche. Als Weihnachtsgeschenk veranstaltete man im TV eine Diskussion über die Beatles. Und da keiner der Beatles daran teilnehmen wollte, schlug der Ansager vor, doch Brian Epstein einzuladen! Zehn Jahre nach der Trennung der Beatles gehört das Wort Rock'n'Roll noch nicht zum akzeptierten Sprachschatz der Nation. Und in Lyon, der kleinbürgerlichsten Stadt Frankreichs, ist die Situation am schlimmsten - eben darum braucht man sich nicht zu wundern, daß Lyon auch die erwählte Rock-Stadt ist.
Die zweitgrößte Stadt Frankreichs zählt eine Million Einwohner und ist nicht nur heimliche Hauptstadt des Rock. Sie ist die Großstadt der Widersprüche: Hauptstadt der Feinschmecker (gastronomie lyonnaise) mit dem weltberühmten Koch Paul Bocuse, aber auch Hauptstadt der Straßen-Kids, die die größte "Cafe-bar" der Lyoner Innenstadt zu ihrem Hauptquartier gemacht haben. Lyon ist die Hauptstadt der guten Sitten und der bürgerlichen Moral, aber gleichzeitig auch Metropole der Prostitution. Es war Hauptstadt der Seide und folglich auch die der Aufstände der Weber im 18. und 19. Jahrhundert. Es war überdies die Stadt der Resistance im 2. Weltkrieg. In diesen Tagen also ist Lyon die Stadt des Rock'n'Roll und die der tödlichen Langeweile, die der vom Bürgertum hochpriesenen Arbeitsmoral, aber auch die der Ausschweifung, die hier extrem betrieben wird, wenn die Bürger in ihren Betten schnarchen. Der Rock'n'Roll jedenfalls gehört zu dieser wollüstigen Opposition. Das einzige Rock-Lokal blieb drei Monate geöffnet, mußte dann aber schließen. Warum? Der "Rock'n'Roll Mops" (ja, so hieß der Laden wirklich!) störte den ruhigen Schlaf der Lyoner und "provozierte Straßenkämpfe und Gewalt". Die Huren sind die einzigen, die die Nacht lebendig halten, und als sie vor drei Jahren in den Streik traten, herrschte die Totenstille der Friedhöfe. Die Huren hatten damals Asyl bei den Priestern der St. Nizier Kirche gefunden und eine Abgesandte zur Regierung geschickt, um ihre Lohn- und Sozialforderungen kundzutun. Im selben Jahr tauchte auch der Rock'n'Roll aus dem Lyoner Untergrund - 1976.
Ende 1976 blüht in Paris der Punk. Schwarze Lederhosen und Sicherheitsnadeln revolutionieren die Uniform der jugendlichen Randgruppen. In Lyon sind jedoch noch Flickenjeans angesagt. In der Provinz hinkt man immer sechs bis zehn Monate hinter Paris her. Das einzige Plattengeschäft, "Musicland", in dem die Singles von Clash, Jam und den Sex Pistols zu finden sind, wird zum Treffpunkt der Eingeweihten. Abends und sonntags jedoch hat der Laden geschlossen, und die Eingeweihten, das sind Schüler, die sich eigentlich auf ihr Abitur vorbereiten sollten. Das Gymnasium ist der Hort des Punk, und beim Abschlußkonzert zum Ende des Schuljahres stellen sich die Talente vor: Starshooter und Marie et les Garcons.
Neben dieser Punk-Musik aus dem Gymnasium entwickelt sich Heavy Rock aus der Lyoner Arbeitervorstadt: Factory und Ganafoul. Lyon ist nämlich auch die Hauptstadt der chemischen Industrie. Obwohl Ganafoul in ganz Frankreich immer populärer werden, sind sie keinesfalls beispielhaft für die neue französische Rock-Welle, denn die orientieren sich an Status Quo und singen englisch. Ihre "kleinen Brüder" Killdozer, die eine Zeitlang Ganafoul nachgeahmt haben, orientieren sich inzwischen an funky music. Mal sehen, was daraus wird....
Die neue Lyoner Rockwelle, das sind also Marie et les Garcons und Starshooter. Im Jahr 1976 zeigen sich erstere stark von den Velvet Underground beeinflußt letztere von der Punk-Welle. Diese Musikrichtungen sind Belebungsmittel, die beide auf ihre Weise nutzen, um ihrem von französischer Kultur geprägten Geist eine bestimmte Richtung zu geben.

Eisige Zärtlichkeit mit Disco-Duft

Ein Arbeiter von Ganafoul...
..... und die zarte Marie
(Fotos: Elisabeth Daniere)

Marie ist blond und zierlich und verbirgt ihre Schönheit hinter einem Schlagzeug. Patrick, der Sänger, hat einen sanften, schönen und verletzlichen Augenausdruck. Die beiden anderen garcons von Marie sind unauffällig und bescheiden. 1977 sperrten sie sich tage- und nächtelang in einem Kellergewölbe ein, machten Musik und träumten von Lou Reed und Patti Smith. Im März 1978 ging ihr Traum in Erfüllung: Gleich nach dem Abitur flogen sie nach New York, um die Single "Attitudes" aufzunehmen. John Cale produzierte und spielte zudem Klavier. Er wollte, daß sie englisch sangen, aber Marie et les Garcons blieben stark und französisch. Am Tag vor ihrer Rückreise traten sie als "Paris Punk" im CBGB auf. Die New Yorker, die kamen, waren überrascht, als sie vier so schöne, zart wirkende und dennoch so "chic"e Musiker auf die Bühne kommen sahen. Ihre Musik, voll kalter Energie, fein schattiert und französisch gesäuselt, schlug das Publikum in Bann.
Am nächsten Tag landeten Marie und ihre Garcons in Paris auf dem Flughafen und traten am gleichen Abend beim Patti Smith Konzert vor 10000 Menschen auf. Patti Smith präsentierte in Paris zu Ostern ihre LP EASTER. Marie et les Garcons wurden ausgepfiffen, beschimpft und schließlich von der Bühne getrieben. Das französische Publikum war noch nicht bereit, sie zu akzeptieren.
Im Sommer darauf traten sie mit anderen französischen Rockbands auf, auch im römischen Theater von Lyon und eine Woche später in Paris im "Olympia". Als ihre Disco-Rock-Rhythmen erklingen, fliegen massenweise Bier- und Coladosen auf die Bühne. "Wir wollen kein Disco!" schreit man aus dem engstirnigen Publikum, während Marie et les Garcons ungerührt weitersingen: "Rien a dire..." Auszüge aus Disco-Titeln haben sie in ihre Songs arrangiert: "Macho Man" von den Village People und "Blood And Honey" von Amanda Lear. Provokant und frech lachen sie ihr Publikum an, sind aber dennoch verbittert. Die Kommunikation findet nicht statt. In der Presse werden sie jedoch teilweise sehr positiv beurteilt, und ihr seltsamer Sound, ihr Pastell-Image erweckt Interesse bei mehreren ausländischen Produzenten. Weil die garcons ihren Wehrdienst ableisten müssen, verschieben sich die Aufnahmen der ersten LP. Inzwischen sind sie jedoch in New York. Leider ist Marie einem Schwächeanfall zum Opfer gefallen. Sie konnte nicht mithalten, denn sie war zu zart und zierlich. Der Perkussion-Mann, der bei der letzten Bee Gees LP mitmischte, hat sie ersetzt. Marie flog nach Lyon zurück, und die drei garcons heißen jetzt Garcons. Ihre LP wird bestimmt eigentümlich genug bleiben, aber ganz sicher wird der feminine Einfluß von Marie so lange den Garcons fehlen, bis sie ihre eigene Identität gefunden haben. Ihre LP hat schon einen Titel: DIVORCE.

Ironie und Lebensmittelfarben

Starshooter sind vier junge Männer zwischen 19 und 21: Kent Hutchitson, der Sänger und Gitarrist, ist nebenbei Comic-Zeichner. Phil Pressing sitzt am Schlagzeug, Jello spielt Gitarre, und Mickey, der jüngste, bedient den Baß. 1977 werden Starshooter von der französischen Musikpresse zu den Punk-Bands gezählt. Sie verfügen über Energie und Aggressivität von Punks, weichen aber in Lebens- und Denkweise von deren "Ideologie" ab: sie lieben künstliche Farbstoffe in Lebensmitteln und die moderne Konsumgesellschaft allgemein. Sie behaupten, nur Milch und Orangensaft zu trinken, und bestehen darauf, Rock'n'Roll könne ohne Rauschgift und Alkohol entstehen. Sie setzen Hygiene gegen den Mythos des Rock und ironisieren in Anspielung auf Lou Reeds "Sweet Jane" in ihrem Song: "Hygiene": "Wenn ich ein Mädchen geküßt habe... putze ich mir schnell die Zähne. Und nachdem ich Liebe gemacht habe.... nehme ich ein Schaumbad... Hygiene..." Starshooter wollen in der Welt des Rock'n'Roll Verwirrung stiften. Sie provozieren, stiften an zum Ungehorsam, aber immer mit Ironie, so daß das Publikum nie so recht weiß, wie's wohl gemeint ist.
Im Dezember 1977 legen sich Starshooter mit den Beatles an. Mit ihrer zweiten Single, "Get Baque", vergreifen sie sich als erste an einem Heiligtum: "Wir haben die Nase voll von den Beatles und ihrer Scheiß-Musik, die kaum noch die Midinetten zum Tanzen bringt. Ihre Musik ist Waschlauge für die Supermärkte, wir haben sie satt, sie müssen krepieren... get baque, get baque, get baque..." Aber die Reaktion darauf ist stark: Im Funk wird die Platte während einer Sendung zerbrochen, und der Beatles-Verlag in England strengt einen Prozeß an. Die Platte wird dem Markt entzogen. Aber Starshooters provokantes Spiel wird immer erfolgreicher.
Ilustration: Kent Hutchitson (Starshooter)
Im Juli 1978, beim Abend der französischen New Wave im Pariser "Olympia", erreicht ihre ironische Idolisierung der Gewalt den Höhepunkt. 3000 Punks drängen immer näher an die Bühne. Starshooter tragen Mao-chinesische und sowjet-russische T-Shirts. Ihre Songs sind hart und kantig, gleichzeitig aber voller Schattierungen, ihre Texte französisch. "Macho", ein Sang, der sich über Feministinnen lustig macht, bietet folgenden Gag: Ein wunderschönes Mädchen im schwarzen Kleid kommt auf die Bühne und beginnt zu Starshooters frauenfeindlichen Gesangszeilen zu tanzen und sich auszuziehen. Vor sechstausend gierigen Augen enthüllt sie eine nackte Brust und verschwindet am Schluß des Songs. Wer wußte schon, daß der/die wunderschöne Marie-France ein(e) Trans-sexuelle(r) war? Starshooter spielten weiter und forderten das Publikum unterschwellig zur Gewalttätigkeit. Am Ende sind 300 Sessel zerbrochen. Die Starshooter laufen in die Garderoben, weil die Saalschützer ihnen die Schädel einschlagen wollen. Im "Olympia", wo sonst die braven Chansonetten und Chansoniers gastieren, hatte man dergleichen noch nie erlebt.
Starshooter wollen aber keineswegs Gewalt, sondern die Pop-Revolution. Im Funk zeigt man plötzlich großes Interesse an ihrer Musik, ihrer Energie, ihrer Frische und Eigentümlichkeit, an ihrem ebenso bitteren wie subtilen Humor, ihrer Ironie, mit der sie die Jugend locken. Im Oktober kamen Starshooter mit "Batsy Party" in die Charts, und im Dezember kippen sie damit Travolta vom Platz 1 bei "Europe 1". Auf der MIDEM 79 in Cannes werden Starshooter zum besten Newcomer der französischen Rock-Szene gewählt.
Die vier Starshooter sind vor allem unverschämt. Ihre frühreife Popularität ist aber-witzig und frech. Selbst ihr Erfolg ist eine Herausforderung.
Es ist zehn Uhr abends. "Batsy Party" läuft im Radio. Die Lyoner Bürger schalten ab und legen sich schlafen. Morgen werden sie die Petition gegen die Wiedereröffnung des "Rock'n'Roll Mops" unterschreiben.

Diskografie

Marie et les Garcons
"Attitudes", Sky Records, Rien A Dire" EMI-Pathe Marconi
Starshooter
"Pinup Blonde"/,,Quelle Crise Baby", EMI, "Get Baque", EMI, "Batsy Party", EMI, STARSHOOTER, EMI
Ganafoul
SATURDAY NIGHT, Crypto, FULL SPEED AHEAD, Crypto, RCA

(Quelle: Sounds 3/79)


Fresse / Information Overload