Leserbriefe
DER SPIEGEL 8/1978
BRIEFE
Jedem sein Laufgitter
(Nr. 4/1978, SPIEGEL-Titel "Punk - Kultur aus den Slums: brutal
und häßlich")
Nun sollten die etablierten SPIEGEL-Leser aber mal ordentlich das Fürchten
lernen. Zufrieden werden jene, die das Titelblatt noch befremdet hat,
dann doch abends ins Bett gesunken sein. Das System funktioniert also
doch noch - trotz Arbeitslosigkeit und Wirtschaftssorgen. Man gebe jedem
sein Laufgitter und hält so seine Straßen sauber, verhindert
somit, daß die jungen Leute noch weiter gehen.
Berlin
BERND HARTIG
Das "Punk" der Punk-Mode stammt nicht aus dem England vergangener
Jahrhunderte und hat nichts mit Huren und schimmligem Brot zu tun. Jeder
naive speaker wird Ihnen bestätigen können, daß heute
nur die aus dem US-Slang stammende Bedeutung allgemein bekannt und für
die Bezeichnung der Mode verantwortlich ist: petty hoodlum, etwa kleiner
Halunke, elender Dreckskerl. Anstatt im Oxford English Dictionary nachzuschlagen,
hätten Sie besser einen Kojak im Original sehen müssen.
Hamburg
FREDERIC A. FRIEDEL
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Punk-Rocker in New York, Sänger der "Tubes":
"Entsetzen packte mich" |
Ich entsinne mich an den Spruch, der im konservativen England der dreißiger
Jahre die Runde machte:
I don't Iike the Family Stein:
There's Gert, there's Ep and there's Ein:
Gert's poems are punk,
Ep's statues are junk,
And nobody understands Ein*.
Scharten (Österreich)
EVA BORNEMANN
Das scheint mir für unsere Bewußtseins-Entwicklung schädlicher
als Pornographie im Kindergarten.
z. Z. Hamburg
HELLMUTH GUTSMUTHS
Da ich im vorigen Sommer selbst in London war und somit die Anfänge
des Punk-Rocks zum Teil miterlebt habe, muß ich sagen, daß
es zwar einerseits etwas wirklich Abstoßendes, andererseits aber
auch etwas Faszinierendes an sich hat. Aber gerade nur dieses Außergewöhnliche
und nicht Kritik an sozialen Mißständen zieht Jugendliche in
Deutschland an; um wahre Hintergründe dieser Welle kümmert man
sich weniger, und an dieser brutalen Show mit ihrer besonderen Note setzt
auch die totale Vermarktung des Punks an.
Es ist klar, daß man auch mit außergewöhnlicher Häßlichkeit
Aufsehen erregen kann, aber warum muß man denn nun auch noch das
wenige Schöne, das es auf dieser Welt gibt, ablehnen?
Lübeck
REGINE SCHLATOW
Schülerin, 18 Jahre
Besonders gut fand ich die Darstellung des sozialen Hintergrunds, denn
"What can a poor boy do, except to play in a rock'n'roll band"
(Street Fighting Man - Mick Jagger). Schulstreß, Jugendarbeitslosigkeit
und so weiter können entweder Depressionen und Duckmäusertum
(wie in Deutschland) oder Aggression und Kampf gegen das Establishment
in Rockmusik und Politik (wie in England) erzeugen. Man sollte sich fragen,
was lebensbejahender ist, trotz Textzeilen wie "Gib mir Tod..."
Bielefeld
MICHAEL BRAUER
Herrlich bezeichnend, wer sich umgehend den programmierten Ekel ans Revers
pappte: Bübchen und Saisonmatratzen zwischen Kitz und Ritz.
Göttingen
BERND MATHEJA
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Aus einem Comic der "Washington Post" "Halbstarker
oder Rotzlöffel" |
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Punk-Fan in New York "Was ist lebensbejahender?" |
Im dominierenden Bereich des englischen Sprachraums, den Vereinigten
Staaten, heißt "punk" zumindest seit einigen Jahrzehnten
soviel wie Halbstarker oder Rotzlöffel, um einen Ausdruck meiner
schwäbischen Heimat zu verwenden. Im englischen wie im deutschen
Wort schwingen Bedeutung wie jugendlich, aufsässig und verkommen
mit. Das läßt sich leicht belegen, so etwa in dem beigefügten
Ausschnitt aus dem Comic strip "Steve Roper & Mike Nomad"
aus der "Washington Post", in dem Mike Nomad Hilfe gegen zwei
junge Kidnapper herbeiruft.
Paris
H. MARTIN KÖLLE
While reading the article I noticed a translation of the quote "Kick
out the jams, motherfuckers!" that could have very negative consequences
to it. Your magazine translated the word "motherfuckers" as
"Arschloecher", which is most certainly incorrect. By following
my request I feel that DER SPIEGEL could help towards a better understanding
between Germans and English speaking people.
Mons (Belgien)
MISS CAROL D. SCHROEDER
Das Schlimme an dieser Sache ist aber, daß nun junge Leute das
Wort "motherfuck" in ihren Wortschatz aufnehmen, in der irrigen
Meinung, daß es sich um das mehr oder weniger harmlose "Arschloch"
handelt. Das könnte ihnen aber wirklich sehr großen Ärger
bringen. In Texas hat man deswegen schon Leute niedergeschossen.
Köln
JACQUES MEYER
Handelsvertreter
Gesellschaftskritik? Ich will nur das Lied "1977" Von den "Clash"
erwähnen. Meine deutsche Übersetzung lautet:
1977: Ich hoffe In den Himmel zu kommen, zu lange warte ich schon beim
Arbeitsamt, ich bekomme nirgendwo einen Job.
1977: Messer im Londoner West 11, MG's in Knightsbridge, schade, daß
ich nicht als Reicher geboren bin.
Vorsicht Fremder! Maskier dein Gesicht!
1977: hat keine Beatles, Rolling Stones oder Elvis mehr.
Köln
MARTIN WATSON
University of Nottingham, England
z. Z. Universität Köln
Die ganzen motherfuckers von der Punk-Szene sind doch letztlich nur ein
Produkt der "Bild"-Zeitungs- und Landserheftchen- (und ihrer
ausländischen Gegenstücke) Generation.
Pervers ist nur, daß sich die Punker die Fresse gegenseitig einschlagen,
anstatt ihren Zorn gegen jene zu richten, die ihn verbrochen haben. Aber
wahrscheinlich haben Punker ihr Gehirn durch den Darm schon ins Porzellan
fallen lassen.
Reutlingen
MARTIN ZWERENZ
Ich habe den Zug verpaßt; schon damals mit den Rockern habe ich
meinen Einsatz verschlafen. Keine Lumpen oder Lederkittel, keine eingetrümmerten
Schaufenster, keine Hundekette, mit der man das Weib durch die Straßen
führt. Was bin ich doch für ein Waisenknäblein! Bleibt
mir nur der Trost, daß ich noch keiner alten Frau vor die Füße
gespuckt habe!
Hechingen (Bad.-Württ.)
OLAF RUFE
Industriekaufmannslehrllng
Das Entsetzen, das mich packte, als ich las, wie die Punks über
Liebe und Nachkommenschaft denken und dichten, wird nicht beseitigt durch
die Tatsache, daß sie so gut vermarktet werden! Ich frage mich,
was hat diese jungen Menschen dazu gebracht, so zu fühlen, und wie
könnte man ihnen helfen. Darauf hat auch der SPIEGEL mit seiner klugen
Schreibe keine Antwort - ich auch nicht!
Bremen
RUFUS ULRICH KELLER
Dominikaner-Pater
"Was ist das Neue, Tolle am Punk?"
Die angeblichen Punk-Opas "MC 5" waren zeitweise gut
Freund mit John Sinclair (für Punks wahrscheinlich ein "alter
Wichser" mit "zuviel Scheiße im Cockpit") und
hofften wohl tatsächlich auf die "Revolution" (Punks
glauben an gar nichts!). Ihr Kampfruf "kick out the jams, motherfuckers!"
ist auf Platte übrigens nicht zu bewundern. Die Plattenfirrna
erreichte die Änderung in "Brothers and Sisters"
(eher frißt ein Punk seine "Titten" oder sonst was!).
Ferner werden die Punks nie solche echten Leistungen erbringen wie
die Velvets oder Iggy Pop mit den Stooges. Punks beeindruckt so
was wie Aussagekraft nicht, weshalb es abwegig ist, Iggy als eine
Art Idol der Punks darzustellen. Musikalische Inkompetenz wie bei
"MC 5" macht noch keine Punkgruppe!
Inwiefern die "Stranglers" und die "Damned"
zur "Destruktion alles Hergebrachten aufrufen" geht ebenfalls,
zumindest aus ihren Texten und Aussprüchen, nicht so recht
hervor. Die "Damned" singen von der "Neuen Rose in
der Stadt" (Na, wie wär's, Herr Heck?), und die "Stranglers"
hacken seit Jahren auf dem schwachen Geschlecht, den "nice
nigs" herum. Der Titel "Keine Helden mehr" ist irreführend.
Auch hier wieder nur die Mär von den "heroes", die
doch ganz toll was abziehen könnten, aber nein: "They
watched the women..."
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Stiv Bators von den "Dead Boys" "I
need Iove' versteht doch keiner" |
Wenn Cornelius Cardew den "imperialistischen" Einfluß
im Punk also ausgerechnet bei den "Clash" nachzuweisen versucht,
ist er auf dem Holzweg. Vielleicht kriegt er mal "Rocket to Russia"
von den "Rarnones" in die Finger. Da hat er wirklich was
zu beißen.
Die bekannten Fernsehflüche der "Sex Pistols" sollen
übrigens erst nach "Kille-Kille"-Provokationen und
Aufforderungen des Studio-Teams gefallen sein. Die, sich widersprechenden,
Artikel über die Pistols-Schweinereien am Flughafen sollte
man auch nicht zu ernst nehmen. Skandale werden halt selten, jedenfalls
die, die das U.K. noch erschüttern.
Was ist denn nun das Neue, Tolle am Punk? Daß er die Kids
aus den Mülltonnen auf die Bühne holt? Das ist doch nichts
Neues! "Anstöße" für die Rockmusik sind
vom Punk auch kaum zu erwarten. Es ist nicht mal wünschenswert,
daß er die genauso dämliche, vollkommen zu Recht oft
attackierte "Disco"scheiße "hinwegfegt".
Die Musikindustrie wird auch den Punk integrieren, ein bißchen
langsamer vielleicht. Und die Punker werden verrecken, ein bißchen
schneller wahrscheinlich. Na ja, it's only rock'n'roIl.
Am traurigsten aber ist die "Um Gottes Willen"-Haltung
der tragenden Generation. Sie beweist damit einmal mehr, daß
sie es nicht für nötig hält - oder nicht in der Lage
dazu ist - sich mit den Problemen der Jugend konstruktiv auseinanderzusetzen.
Wenn zum Beispiel die "Dead Boys" "I need love"
singen, versteht sie eben auch jetzt noch keiner.
Dann ist man lieber "Pretty vacant".
Kirchhundem (Nrdrh.-Westf.)
BORIS NAUJOKAT
Schüler
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Wertloses Zeug
(Nr. 4/1978, SPIEGEL-Titel "Punk - Kultur aus den Slums: brutal und
hä8lich", Nr. 8/1978, Leserbriefe)
Verbale Übersetzungen verfehlen oft den genauen Sinngehalt. In Art
und Weise benehmen sich Sprachen nicht duplikativ zueinander. Der Originalbegriff:
"punk", der sich von "spunk" (Zunder, Lunte, Zündschwamm;
umgangssprachlich übertragen: Mut, Mumm; mutig, feurig, hitzig, schneidig)
ableitet und so eigentlich eine Kontraktion von "spunk" bildet,
gewinnt im Slang-Gebrauch eine andere Bedeutung. Der Bezug des Slang-Wortes
"punk" lehnt sich nicht allein an "wertlos (würdelos)",
wichtig hierzu ist die regierende Sinnverbindung zu "vortäuschen"
oder "vorgeben zu sein". "Punk" ist dann nicht nur:
- "der Anfänger" (Grünschnabel), sondern jener, "dem
es obenauf an Grips fehlt";
- "der Halbstarke", sondern jener, der sich als Vollstarker
brüstet;
- "der verkommene Jugendliche", sondern jener, "der sich
einbildet, ein erfahrener (hoodlum) Strolch/Vagabund zu sein". Etc.
Das Slang-Wort "punk" bezieht sich in diesem Sinne auch materiell
auf "wertloses" oder "wirkungsloses" Zeug, um das
viel Wind gemacht wird. (Im Gegensatz zu dem mehr offensichtlichen "junk",
"trash", "rubbish" in gleicher Sinnanwendung.) "Punk-medicine"
= Allerweltsheilmittel. Und so ist "punk out" nicht allein im
Sinne von "feige sein" zu verstehen, sondern dazu unter dem
Tenor: "vorher große Töne spucken, doch wenn's drauf ankommt,
die Kurve kratzen" - "angeben wie 'ne Tüte wilder Bienen,
doch nicht Manns genug sein, wenn's knallt". Wichtigster Sinngehalt
des Slang-Wortes "punk" wäre so der Bezug zur bewußt
unaufrichtigen Selbstbewertung oder Vortäuschung in der Absicht,
damit (gewinnträchtig) zu beeindrucken. Gewiß ist die Anwendung
von Begriffen über die Zeit dem Wandel unterworfen und mag Sinnverschärfungen,
-schwächungen oder -änderungen folgen oder sich im Bezug beschränken,
erweitern oder spezialisieren (eben und besonders durch "punks"
als Fremdwort mißverstanden angewendet). Jedoch dürfte die
"charakterliche Qualität" des Slang-Begriffes "punk"
etwa dem obenerwähnten entsprechen.
New York
GERHARD P. HARTMANN
(Quelle: DER SPIEGEL 10/1978) - Zurück
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* Die Angesprochenen sind die Autorin Gertrude Stein, der Bildhauer Jacob
Epstein und der Wissenschaftler Albert Einstein.
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