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            Büscher, Wensierski an der Berliner Mauer  | 
         
       
      DDR: Aufstand gegen die Väter
      Nach 30 Jahren sozialistischer Einheitserziehung hat die DDR mit ihrer 
        Jugend die gleichen Probleme wie die Bundesrepublik: Aussteiger und Punker, 
        Umweltschützer und Friedensfreunde rebellieren gegen das System und 
        verunsichern die Staatspartei durch locker-alternative Existenz und - 
        ärger noch für die machtbewußte SED - durch Forderungen 
        nach einer anderen Politik. Jahrelang sammelten die West-Berliner Journalisten 
        Wolfgang Büscher, 32, und Peter Wensierski, 29, Eindrücke in 
        der ostdeutschen Subkultur. In einer SPIEGEL-Serie beschreiben sie den 
        Aufstand gegen die Generation der Väter: "Wenn du unten bist, 
        tauchst du ab." 
       
       "Wenn du unten bist, tauchst du ab"
      DDR-Jugendszene: Punker und Aussteiger / Von Peter Wensierski 
        und Wolfgang Büscher 
       
      Sonne, Sonntagnachmittag, lazy afternoon im Ost-Berliner 
        Stadtbezirk Prenzlauer Berg. Vor dem "Wiener Cafe" sitzt die 
        Kundschaft bei Eiskaffee oder Bier, mittendrin ein Punker mit halb abrasiertem, 
        halb grün gefärbtem Schopf. Das zerrissene T-Shirt des jungen 
        Mannes trägt die Aufschrift "Chaos". 
        Drei Stunden später, ein paar Straßen weiter. Aus der Freiluftgaststätte 
        "Pratergarten" überträgt der DDR-Rundfunk live eine 
        Unterhaltungssendung. Biedere Bürger in Schlaghosen und mit Plastiksonnenbrille 
        hocken neben kahlgeschorenen Hundehalsbandträgern beim Bier. Reglos 
        beobachten sie, wie sich eine Kapelle und ihre Go-go-girls mühen, 
        Freude aufkommen zu lassen. Auch ein Schwulen-Pärchen steht dabei 
        und lauscht der Combo, die den Uralt-Hit "Copacabana" zum besten 
        gibt. 
        Bürgerwelt und Szenenwelt: Kein anderer Fleck in der SED-Republik 
        ist von diesem Gegensatz so geprägt wie das Viertel rechts und links 
        der Schönhauser Allee. Dort stehen an den Hauswänden nicht mehr 
        nur die Bekenntnisse der Fußball-Fans ("BFC Union") oder 
        der Rock-Gemeinde ("AC/DC"). Dort wird es auch politisch. 
        An den Hintereingang des 5-Bahnhofs Schönhauser Allee hat einer die 
        West-Berliner Hausbesetzer-Devise gemalt: "Legal, illegal, scheißegal!" 
        Die A sind eingekreist, natürlich  die Friedensrune der Pazifisten 
        findet sich fast an jeder Straßenecke. Eine Wand der Gethsemane-Kirche 
        ist mit der Verheißung verziert worden: "Jesus lebt - Jesus 
        ist grün!" 
        Ab und an gehen staatliche Tüncher gegen die Spray-Sprüche zu 
        Werke. Der Namenszug der verbotenen polnischen Gewerkschaft "Solidarnosc" 
        auf einer Mauer am Helmholtzplatz verschwand schon nach einem Tag unter 
        weißem Anstrich. Und die Kachelwände am U-Bahnhof Luxemburgplatz, 
        die öfter mal Umwelt- und Peace-Parolen zieren, sind durch die häufige 
        Anwendung von Reinigungschemikalien fleckig geworden. 
        Bürger und Szene versuchen sich abzugrenzen, so gut es geht. 
        Als sich am 13. Februar 1982 zum erstenmal in der DDR 5000 Jugendliche 
        vor und in der Dresdener Kreuzkirche zu einem Friedensforum versammeln, 
        finden sich gegenüber dem Gotteshaus ältere Gäste zum Varieté 
        im "Café Prag" ein. Während sie bei Torte, Schnaps 
        und Bier Kunstturnern und Jongleuren zusehen, werden unten auf dem Altmarkt 
        Antikriegslieder zur Gitarre gesungen. 
       
         
            
            Punks, Kindergartenwerbung in Erfurt, betrunkener Jugendlicher 
            In Ost-Berlin: "Das ist die Schuld der Väter"  | 
         
         
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      Das Ost-Berliner Kabarett "Die Distel", nach 
        Ansicht einer Funktionärstochter "das Amüsierkabinett der 
        Genossen", zeigt am 9. Mai 1983 ein Sonderprogramm zum Jahrestag 
        der Bücherverbrennung. Es geht familiär zu, in einer Art Talkshow 
        werden Veteranen des sozialistischen Kampfes vorgestellt. Die Kabarettisten 
        begrüßen die SED-Funktionäre im Publikum. Kaum einer unter 
        den Zuschauern, der nicht das Parteiabzeichen trägt. 
        Wer in der Pause mal um den Block geht, dem wird die Feststimmung versaut. 
        Meter weg vom Ort der sozialistischen Familienfeier schleppt ein Jugendlicher 
        sein schweres Kofferradio die Straße rauf und runter. Der Lautstärkeknopf 
        ist bis zum Anschlag aufgedreht, der Song des West-Rockers Udo Lindenberg 
        an SED-Chef Erich Honecker kommt gut zwischen den hohen Hauswänden 
        der Clara-Zetkin-Straße: "Du ziehst Dir doch heimlich auch 
        gerne mal die Lederjacke an, / und schließt Dich ein auf'm Klo und 
        hörst West-Radio, / hallo, Erich, kannst' mich hören..." 
        Die Punker, die Aussteiger, die Alternativen in der DDR ziehen sich nicht, 
        wie es ihre Vorgänger, die Hippies und Dissidentenzirkel taten, in 
        eine privatprotestlerische Kleinkultur zurück. Sie machen sich öffentlich 
        breit. 
        Die ersten Ost-Berliner Punker tauchten vor gut zwei Jahren auf. Damals, 
        im Frühjahr 1981, schlichen sich zwei Dutzend Kahlgeschorene noch 
        heimlich zu einer Fete der Evangelischen Studentengemeinde in der Invalidenstraße. 
        Wenn ein Wartburg der Volkspolizei langsam vorbeipatrouillierte, huschten 
        sie hinter die nächste Litfaßsäule oder verzogen sich 
        ins Gebüsch. Eine Band spielte auf dem Fest Punkmusik: Keiner der 
        Veranstalter hatte sie so richtig gekannt, sonst wäre die Gruppe 
        wohl nicht eingeladen worden. 
        Sommer 1983 in einem Hinterhof in der Schliemannstraße, Bezirk Prenzlauer 
        Berg. Es ist Betrieb an diesem Samstagabend. In ein paar Stunden soll 
        die Gruppe "Vorbildliche Planerfüllung" aus Gera aufspielen. 
        Bis dahin musiziert eine unbekannte Fünf-Mann-Band. Als Bühne 
        dient ein Sperrmüll- und Trümmerberg im dritten Hinterhof. 
        Von dem Text, den der Sänger mit der Schweißerbrille herausschreit, 
        sind nur Fetzen zu verstehen: "Schnee fällt aus Benzinkanistern 
        über dieses todlangweilige Land." Die anderen vier fallen immer 
        wieder in den Refrain ein: "Das ist die Schuld der Väter! Das 
        ist die Schuld der Väter!" Bis schließlich einer der Gäste 
        über ein Verstärkerkabel stolpert und der Strom wegbleibt.
      
         
           
            "One Way" und "Wutanfall"
            Wie Polizei und Staatssicherheit (Stasi) gelegentlich gegen 
              Punk-Feten vorgehen, schildert ein Jugendlicher aus Leipzig*:  
            Am 17. Juli 1982 trafen sich in Leipzig etwa 400 
              bis 500 Freaks und Punks, um auf einem privaten Grundstück 
              ein Fest zu feiern. Sie kamen aus Erfurt, Halle, Magdeburg, Berlin, 
              Karl-Marx-Stadt, Dresden und Leipzig, um die Punkbands "Wutanfall" 
              "Keim Schleim" und "Unerwünscht", die Bluesgruppen 
              "Onkel Huck" und "One Way" und Liedermacher 
              zu hören, um Theater zu sehen. Alles Leute, die öffentlich 
              nur in Kirchen zu Wort kommen. Mittags war ein Kinderfest geplant. 
              Doch am 16. Juli wurde das Fest von der Stasi und den Bullen verboten. 
              Obwohl Feiern in Wohnungen und auf privatem Gelände nicht angemeldet 
              und genehmigt werden müssen, erklärten die Bullen das 
              Fest für genehmigungspflichtig. Am 17. Juli waren dann an den 
              Straßen rund um das Grundstück massig Bullentaxen, Zivilisten, 
              die alles zu leiten schienen, und ein Überfallkommando. Die 
              meisten Punks und Freaks (etwa 250) hatten sich in der Wohnung eines 
              Punks getroffen und zogen zum Grundstück, als sich Bullen und 
              Stasi provozierend vor dem Haus aufbauten. 
              Dort angelangt, wurde gleich von den Bullen, welche den Eingang 
              zum Grundstück blockierten, mit Gewalt gedroht, falls sie Passanten 
              belästigen würden (eine ältere Radfahrerin war abgestiegen, 
              um ihr Rad durch die Leute zu schieben). Alle merkten, daß 
              es die Bullen auf einen Zusammenstoß anlegten, auf den sie 
              sich gut vorbereitet hatten. 
              Vielen Leipzigern war aber der 28. März 1981 noch gut in Erinnerung, 
              als über hundert Freaks ein leerstehendes Abrißhaus besetzt 
              hatten, um darin ungestört und unbeschränkt eine Rockpalastfete 
              zu feiern. Damals wollten Stasi und Bullen im Schutze der Dunkelheit 
              ein Exempel statuieren. 
              Sie säumten das Haus mit sieben Überfallkommandos und 
              nahmen 94 fest. Danach folgte stundenlanges Stehen vor einer Mauer 
              mit Händen im Genick, anschließend Verhöre. Alle 
              Frauen mußten sich im Keller ausziehen. Fast alle mußten 
              Geldstrafen in Höhe von 75 bis 300 Mark bezahlen. 
              Deshalb wollten es die Leute nicht auf eine Kraftprobe ankommen 
              lassen und zogen es vor, an den Kanal (Badegewässer am Rande 
              der Stadt) zu fahren. Nach einiger Zeit teilten sich dort viele 
              in kleinere Gruppen und gingen zu verschiedenen Feten. 
              Wir hoffen, wenn wir beim nächstenmal wieder am Feiern gehindert 
              werden, daß wir eine Kraftprobe nicht scheuen müssen. 
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            Punker-Fest In Leipzig: "Ringsum massig Bullentaxen" 
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      Auch der DDR-Rundfunk beginnt sich vorsichtig auf neue 
        Töne einzustellen. Regelmäßig stellt der Jugendfunk Amateurgruppen 
        vor, mit Texten wie: "Ich sitz' vor der Glotze/schütte Schnaps 
        in mich rein", oder: "Zerrissen wie diese Zeit/geh' ich auf 
        dem schmalen Grat zwischen Bitterkeit' und nie was riskieren'." 
        Heute gehören Punker zum Straßenbild, nicht nur in Ost-Berliner 
        Vierteln wie Prenzlauer Berg, sondern auch in Dresden, Halle und anderswo. 
        Bands wie "Keks" aus Ost-Berlin und "Juckreiz" aus 
        Thüringen liefern ihnen die Musik. Und wenn es auch bloß Wasserfarbe 
        ist, die sie zum Haarefärben kaufen können - Spaß macht 
        es doch: Jede HO-Kaufhalle und jedes Bekleidungsgeschäft ist ein 
        punkiges Einkaufsparadies. 
        Denn eine Subkultur, die sich unmodern und antimodisch gibt, die den nostalgischen 
        Tick für die Nierentisch-Epoche pflegt, braucht im anderen Deutschland 
        nicht lange nach geeignetem Ambiente zu suchen: Für die Punks ist 
        die Rückreise in die fünfziger Jahre kurz, weil deren Ästhetik 
        in der DDR von heute noch immer allgegenwärtig ist. 
        Die Kleidung der Bürger, die Einrichtung der Wohnzimmer, die schrillen 
        Farben der Trabant-Autos ("Trabis"), die sterilen Mitropa-Gaststätten, 
        die Waschpulver-Kartons und Fertigsuppen-Schachteln könnten von westlichen 
        New-Wave-Designern gestylt worden sein: real existierender Punk im sozialistischen 
        Deutschland. 
        Gern greift deshalb die West-Berliner Szene seit Jahren auf die tiefgefrorenen 
        Fifties vor der Haustür zurück: In der Bleibtreustraße 
        bietet Laden an Laden die Plaste-Klamotten nach DDR-Machart an, der abgelegenste 
        heißt "Intershop". Rockgruppen im Westteil der Stadt nennen 
        sich "Interzone"  "White Russia" oder "Leningrad 
        Sandwich". Und die Mauer ist längst zur Reklamewand für 
        Rockkonzerte und Plattencover geworden. 
        Jenseits der Mauer hat der Spaß schnell ein Ende. Ost-Punks, die 
        sich für das West-Berliner Szeneblatt "Tip" und das Hamburger 
        Links-Blatt "Konkret" hatten ablichten lassen, landeten hinter 
        Gittern. Sie haben keine Fürsprecher: So wie in den sechziger Jahren 
        den Langhaarigen, so schlägt heute den Geschorenen der Mißmut 
        des DDR-Normalbürgers entgegen. 
        In einer thüringischen Kleinstadt (30 000 Einwohner) lud ein Mitglied 
        der kirchlichen "Jungen Gemeinde" die dort bestehende Gruppe 
        von fünf Punks in die elterliche Ausflugsgaststätte ein. Als 
        der Vater, ein selbständiger Wirt, zwei Irokesenköpfe erblickte, 
        verlor er die Fassung - die beiden mußten durstig wieder abziehen. 
        Empörte Bürger werden auch mal handgreiflich. Bei der Volkspolizei 
        findet ein Punker keine Hilfe: Vielleicht ist ja der Beamte, an den er 
        sich wendet, derselbe, der ihn gestern wegen "asozialen Verhaltens" 
        vom Marktplatz oder aus einer Kneipe vertrieben hat. 
        Vor allem die Transportpolizei tut sich hervor. In Halle, Potsdam, Leipzig 
        und anderswo wurden grell gefärbte Jugendliche mit Punkausrüstung 
        sistiert: Wer verreisen wollte, durfte den Bahnhof nicht betreten, wer 
        ankam, wurde nicht hinausgelassen. 
        Schlechte Karten haben Punker erst recht in der Schule und auf der Lehrstelle: 
        In die Zeugnisse schreiben Lehrer und Meister nicht nur Fachzensuren, 
        sondern auch ausführliche Beurteilungen über die Persönlichkeit. 
        Auch wenn sich einer entschließt, die grüne Haarfarbe rauszuwaschen 
        und das Hundehalsband an den Nagel zu hängen, bleibt das Blatt in 
        seiner Kaderakte ein ganzes staatsbürgerliches Leben lang. 
       
      
         
            
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            Kontrolle in Ost-Berlin, Spray-Parolen "Legal, illegal, 
            scheißegal"  | 
         
       
      Und doch lassen sie sich das bittersüße Gefühl 
        nicht vermiesen, Bürgerschreck zu sein, aufzufallen im Einheitsgrau, 
        den Staat zu verhohnepiepeln. Auf der Suche nach zünftigem Outfit 
        haben die DDRPunker all die staatlichen Abzeichen für gutes Lernen, 
        die Banner für besondere Kollektivleistungen, die kleinen rot-goldenen 
        Embleme zum 30. Jahrestag der DDR-Gründung und die Medaillen zum 
        Tag der deutsch-sowjetischen Freundschaft entdeckt. Zwischen den Buttons 
        von West-Freunden mit Anarcho-Parolen, dem Bekenntnis zur Rockgruppe "Sex 
        Pistols" oder der Aufforderung "Piss off" findet sich auf 
        den Jacken vieler DDR-Punker das gesammelte Blech der sozialistischen 
        Leistungsgesellschaft. 
        Wer so den Staat und seine "Freie Deutsche Jugend" (FDJ) verhöhnt, 
        landet schnell auf dem Revier. Verhör auf der Polizeiwache in Magdeburg: 
        "Was unterstehen Sie sich, solche Abzeichen zu tragen?" 
        "Die hab' ich mal bei der FDJ gekriegt." 
        "So verkommen, wie Sie herumlaufen, ist das eine Provokation, eine 
        Verunglimpfung des Staates und des Jugendverbandes." 
        Solche "Gespräche" mit Respektspersonen sind dem DDR-Jugendlichen 
        vertraut. Wer von der Norm abweicht, gerät in die Mühle. 
        "Gespräche" kommen etwa auf Jugendliche zu, die einen Platz 
        an der Erweiterten Oberschule, dem Gymnasium der DDR, haben wollen und 
        sich nicht gleich freiwillig für drei Jahre Dienst in der Nationalen 
        Volksarmee (NVA) verpflichten. Gespräche mit Jugendoffizieren, Gespräche 
        mit Lehrern, Gespräche mit der FDJ-Leitung der Schule, Gespräche 
        mit dem Direktor, Gespräche mit allen zusammen. Beide Seiten wissen, 
        daß solche Termine nicht der Wahrheitsfindung dienen, die Gesprächspartner 
        tauschen nur vorgestanzte Argumente aus. 
        Jugendliche Nonkonformisten sehen sich obendrein mit einem neuen Problem 
        konfrontiert. Früher drohte der Staat damit, ihnen die Karriere im 
        Sozialismus zu versauen. Nun müssen viele damit rechnen, daß 
        ihnen der Staat die Zukunft gar nicht mehr sichern kann: In der DDR, bisher 
        von Mangel an Arbeitskräften geplagt, stehen die ersten Arbeitslosen 
        auf den Fluren der Arbeitsämter bei den Stadtbezirksverwaltungen. 
        Ein Ost-Berliner Elektriker, der seit einem halben Jahr auf Stellensuche 
        ist: "Bei uns im Fernsehen bringen sie manchmal so Reportagen aus 
        dem Westen: Arbeitsamt morgens um achte, schlotter, frier, Thermoskanne. 
        Und zum Reporter sagen sie dann: Ja, ich komme jetzt schon seit einem 
        Jahr hierher. Daran mußte ich denken, wie ich neulich morgens um 
        achte beim Arbeitsamt von meinem Stadtbezirk in der Reihe stand." 
        Die Arbeitsämter haben neuerdings sogar an zwei statt, wie voriges 
        Jahr, an einem Tag in der Woche auf. Die "Arbeitssuchenden", 
        so der offizielle Begriff, erhalten acht Mark pro Tag an Unterstützung. 
      
        
           
            "Diese unheimlich dreckige Stadt" 
            Über Hausbesetzungen in Leipzig und sein Leben als Aussteiger 
              berichtet der 20iähnge Harry*: 
            Im Frühjahr 1982 wollte ich von Sangerhausen 
              im Harz nach Leipzig ziehen. Hinter mir: eine verkrachte Lehre wegen 
              Waffenverweigerung bei der vormilitärischen Ausbildung, vom 
              Abi geflogen, Krach mit den Erzeugern, Durchschlagen mit 'nem Zimmer 
              bei 'nem Kumpel und 120 Mark im Monat. 
              Trotz alledem oder gerade dadurch noch die Ideale von Peace und 
              Love im Kopf - Opposition überhaupt, gegen alles Konservative 
              und so. Ende Februar hatte ich die Lehre beendet. Plötzlich 
              'ne Karte von Mozart und Bruno, die Leute, zu denen ich ziehen wollte: 
              "Wir werden geräumt." Ein einmaliger Akt - zumindest 
              in der Größenordnung. In einer Straße waren dreizehn 
              Wohnungen besetzt. Kommen und Gehen, Feten, Musik, lange Haare... 
              Die offizielle Rechtfertigung der Behörden: Die Häuser 
              stehen auf Abbruch. Die inoffizielle: zu große Anhäufung 
              progressiver Leute mit staatsfeindlichen Interessen. 
              Wir wunderten uns sehr, denn alle bekamen eine Wohnung, natürlich 
              in Häusern mit gesitteten Spießern. Da hat man die Leute 
              besser unter Kontrolle. Außer zweien, denn Tanja und Jule 
              sind auserkoren, um an ihnen ein Exempel zu statuieren. Tanja wird 
              trotz Arbeitsverhältnis gekündigt und nach Bad Düben 
              zwangsverwiesen, weil dort ihre Eltern wohnen. Beide hatten die 
              angebotenen nassen Wohnungen nicht genommen. 
              Ich zieh' trotzdem nach Leipzig zu Bruno, der 'ne Einraum-Wohnung 
              mit feuchten Wänden bekommen hat. Dort lern' ich dann Tanja 
              näher kennen, die natürlich mächtig am Ende ist. 
              Und dort wohnen wir nun, Bruno, Tanja, Mozart und ich. Bruno geht 
              als einziger arbeiten und stinkt entsprechend auf uns ab. 
              Ich renn' wie ein Bekloppter nach Arbeit rum. Nichts zu machen. 
              Als gelernter Elektriker höre ich nur immer wieder die Worte, 
              "gehn Sie mal zurück in die Produktion. Als Elektriker 
              werden Sie gebraucht. Sie als junger Mann müssen doch Ihre 
              Arbeitskraft voll auslasten", und so weiter. Dieser ewige Kreislauf, 
              dieses Reinpressen in Proletennormen, nur nicht denken, Arbeiten 
              und Konsumieren sind angesagt. Wer das kennt, so einen Achtdreiviertel-Stunden-Tag 
              in der Fabrik, der weiß, wie es ist, wenn man nach Hause kommt 
              und nicht mehr den Elan hat, sich ein Buch zu greifen oder wegzugehen. 
              Aber noch hatte ich genug Zeit, mich mit allem möglichen zu 
              beschäftigen. Langsam auch vergessen die Zeit, wo ich mit Liebe 
              die Weit revolutionieren wollte. Die Ost-Freak-Zeiten als Woodstocknachläufer 
              mündeten in individuellen Radikalismus und Nihilismus. Ich 
              las anderes, versuchte mir auf allen möglichen Wegen Bücher 
              zu beschaffen, die dem Staat unerwünscht waren. Trotzki, Stalin, 
              Marcuse, Sartre, Anarchie ganz oben. Her mit Bomben und Maschinenpistolen, 
              zeigt's den Staatskapitalisten. Ab in den Underground - so jedenfalls 
              träumten meine Kumpels und ich. 
              Tanja und ich hatten inzwischen eine Wohnung aufgerissen. Wir zogen 
              dort schwarz ein. Unsere Wohnung wurde allmählich Anlaufpunkt. 
              Wir quatschten viel und lange. 
              Entscheidend waren eigentlich immer solche spontanen Feten. Ich 
              war dann mit Tanja auch irgendwie auseinander, wir wohnten zwar 
              noch zusammen, aber gelaufen ist halt nix mehr. Mir selbst ging's 
              immer beschissener, ohne Job, kein Geld. Dazu Depressionen und die 
              Angst, festgenagelt zu werden - dieser Verfolgungswahn vor den Bullen 
              und der Stasi, denn Nichtarbeiten ist ja strafbar und asozial. 
              Aber weiter ging's trotzdem. Ich trampte ziemlich viel rum, Leute 
              besuchen und so. Dann wieder in Leipzig, schaust deine Klamotten 
              nach, was du verkaufen kannst, um über die Runden zu kommen. 
              Mit der Zeit ging mir dieses Nichtarbeiten ganz schön auf die 
              Nerven. Du stehst früh auf, schießt los, um dir was zu 
              essen und zu rauchen zu besorgen. Und abends irgendwohin, in den 
              Jazzkeller oder zu Leuten. 
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                | Abbruchhäuser in der DDR: "Her mit Bomben 
                  und Maschinenpistolen, zeigt's den Staatskapitalisten, ab in 
                  den Untergrund" | 
               
             
            
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          Dann endlich klappte es mit einem Job - als Aufsicht im Museum. 
            Endlich diese Angst los, doch noch einzufahren. Aber just danach bekamen 
            wir einen Räumungsbescheid. Da sie wohl nicht wußten, wohin 
            mit uns, wiesen die uns vom Amt 'ne Wohnung zu, und das, obwohl kurz 
            vorher im selben Viertel 'ne Kommune von den Bullen geräumt worden 
            war. 
            Wir waren echt happy über die neue Bude, obwohl uns gesagt wurde, 
            wir müßten jeder dreihundert Mark Ordnungsstrafe zahlen. 
            Unbefugtes Wohnen in einer Wohnung! 
            Am Anfang kamen wir mit den Leuten im Haus recht gut zurecht. Die 
            dachten, wir wären ein junges Paar oder so. Aber so nach und 
            nach änderte sich deren Verhalten. Spätestens, als wir den 
            Flur knallgrün und türkis strichen. Das checkten sie dann 
            nicht mehr. 
            Dann kam für mich der Hammer: 12. August, Einberufungsüberprüfung. 
            Verdammte Scheiße, das hatte mir noch gefehlt. Ich war total 
            am Ende. Nachdem die letzte Zeit so glimpflich verlaufen war, jetzt 
            dieser Tiefschlag. Armee. Das war mein Trauma. Der Alp. Ich hatte 
            natürlich einen unheimlichen Schiß vor dieser Musterung. 
            Als ich dann vorgeladen war, ging mir ganz schön die Muffe. Ich 
            erzählte irgendwelchen Mist, freireligiös und so weiter 
            und machte einen Antrag auf Bausoldat. Die Tage vor dem Einberufungstermin 
            war ich nur noch ein Schatten meiner selbst. Jedesmal Angst - der 
            Blick in den Briefkasten, der blaue Brief. Aber er kam nicht. Da war 
            ich natürlich total oben. Endlich wieder ein kleiner Lichtblick. 
            Dann pochte auch schon der Winter an die Tür. Wir hatten natürlich 
            keine Kohlen. Die ersten kalten Wochen kamen wir mit Borgen über 
            die Runden. Zu Leuten in der Nähe und mit 'nem Rucksack voller 
            Kohlen wieder zurück. 
            Im November war ich dann auch viel in Berlin. Leipzig kotzte mich 
            total an - diese unheimlich dreckige Stadt, und vor allem diese Hinterwäldler-Spießer. 
            Wegen 'nem Ring im Ohr ist man da gleich angemacht worden. Allerdings 
            gab uns das den Zusammenhalt, einfach, daß die Beziehungen zu 
            den anderen Leuten eigentlich viel enger waren, bedingt durch die 
            graue Masse und das System. 
            Es gab natürlich auch Diskrepanzen zwischen uns. Da war eigentlich, 
            was mich am meisten belastete, dieser Klatsch und Tratsch, bedingt 
            durch die kleine, große Stadt. Über hundert Ecken erfuhr 
            man dann, was man mal irgendwo mehr oder weniger Belangloses gesagt 
            hatte. Ich nehme mich da nicht aus. 
            Da war zum Beispiel die Sache mit Tanja, eines der beschämendsten 
            Dinge, die ich mir je geleistet habe. Durch ein paar dumme Erlebnisse 
            mit den Bullen in direkter Folge aufeinander - es war Anfang Dezember 
            - hatte ich einen ziemlichen Frust und Verfolgungswahn. Überall 
            sah ich Spitzel, achtete auf die abnormsten Details bei den Leuten, 
            die auf solche Tätigkeiten hinweisen konnten. 
            Bei Tanja kam da so einiges zusammen, meine Phantasie hatte keine 
            Grenzen mehr, ich steigerte mich immer mehr hinein. Tanja war tierisch 
            neugierig, ich bildete mir ein, sie durchkramte mein Zimmer, die Ordnungsstrafe 
            für die Wohnung kam auch nicht mehr, und so weiter. Ich erzählte 
            nur ein paar Freunden meine Befürchtungen, vielleicht, um zu 
            hören, daß sie sie nicht teilen würden, und mit der 
            Hoffnung, mir das alles auszureden. 
            Aber es kam, wie es kommen mußte. Einer hielt die Klappe nicht, 
            der Kreis schloß sich, und Tanja erfuhr von allem. Klar, daß 
            sie total fertig war. Es kam zu 'ner Aussprache zwischen uns beiden, 
            ich fühlte mich ziemlich mies. Schließlich hatte ich das 
            alles verzapft! Aber sie nahm mir das gar nicht übel, und irgendwann 
            war die Sache dann auch vergessen. Es wäre nicht das erste Mal 
            gewesen, daß Leute durch solche Denunziationen fertiggemacht 
            worden wären oder zum Strick gegriffen hätten. 
            Hier in Leipzig gibt's noch ein altes Haus, in dem mehrere Leute wohnen 
            und das wohl auf Abriß steht. Die haben dort viel gemacht, Rohre 
            und Leitungen verlegt und wohnen halt ganz allein drin. So was finde 
            ich echt verschärft. Da gibt's zwar auch das übliche Chaos 
            und auch Konflikte, aber eigentlich ist das für Leipzig die absolute 
            Sahne! Vielleicht gehe ich, wenn mir der Job zum Halse raushängt, 
            doch nach Berlin. Da gibt's 'ne Menge dufter Typen, ich hätte 
            Lust, da mal so was aufzuziehen. | 
         
       
      Zwar sind nach sozialistischem Arbeitsrecht Massenentlassungen 
        nicht möglich. Doch Werktätige, die etwa wegen Suff am Arbeitsplatz 
        früher Disziplinarstrafen erhielten, werden heute auch schon mal 
        gefeuert. Und wer selber in der Hoffnung kündigt, er werde jederzeit 
        einen neuen, ja besseren Job bekommen, der kann nun sein blaues Wunder 
        erleben. 
        Die Schilder mit der Aufschrift "Wir stellen ein. . ." die früher 
        an fast jedem DDR-Betrieb aushingen, sind selten geworden. Kein Wunder: 
        Im Stahlwerk Henningsdorf etwa sind Schmelzöfen erkaltet, weil die 
        Rohstoffe fehlen. Und im Ost-Berliner Kabelwerk Oberspree mangelt es an 
        Kupfer, viele Werktätige fegen seit Monaten nur noch die Hallen. 
        In Henningsdorf wurde ein Einstellungsstopp vorläufig wieder aufgehoben. 
        "Es sollte auf jeden Fall vermieden werden", so ein Arbeiter, 
        "daß es ein Gerede über Arbeitslosigkeit gibt." 
        Intern redet man offener: Man müsse sich, so der Sekretär der 
        Parteigruppe in der Redaktion einer Fachzeitschrift, wohl oder übel 
        "darauf einstellen, so eine Art Arbeitssuchendenheer zu haben". 
        Die theoretische Parteipresse aber behandelt das alles als Problem bei 
        der Umsetzung von Arbeitskräften im Zuge der sozialistischen Rationalisierung. 
        So sehen es auch nach wie vor die Wirtschaftsleiter: Sie müssen ja 
        die eigentlich arbeitslosen Werktätigen von Abteilung zu Abteilung 
        oder von Betrieb zu Betrieb verschieben. 
        Dennoch summieren sich die Einzelfälle zur sozialen Größe; 
        Zahlen kursieren: In Schwerin sollen es 2000 Arbeitslose sein, in Ost-Berlin 
        gar 30 000. Solche Schätzungen mögen übertrieben sein. 
        Doch der Druck auf die Arbeitsplätze schlägt durch auf die Ausbildungssituation 
        der Jugendlichen. 
        Polizeiwache in Ost-Berlin: Im Vernehmungszimmer sitzen sich unter dem 
        gerahmten Porträt von Erich Honecker ein Punker und ein Polizist 
        gegenüber. Der Beamte väterlich zu dem Photographen-Lehrling: 
        "Menschenskind, seien Sie doch froh, daß Sie überhaupt 
        noch eine Ausbildung bekommen. Die nächste Generation hat es da viel 
        schwerer als ihr, das können Sie mir glauben." 
        Junge Leute sehen ihre Chancen auf eine Bildungskarriere schwinden. "Die 
        sind nicht mehr so wie noch vor ein paar Jahren", hat eine Frau aus 
        der Ost-Berliner kirchlichen Jugendarbeit beobachtet, "Abitur und 
        so steht nicht mehr an erster Stelle. Sie haben wohl das Gefühl, 
        daß es das alles nicht wert ist. Daß lebenslängliche 
        Anpassung sich gar nicht lohnt." 
        Das spüren auch die, die sich schon um einen Studienplatz beworben 
        haben; einer erzählt: "Ich habe ein sehr gutes Abitur und wollte 
        Medizin studieren. Nachdem ich mich auch noch auf drei Jahre für 
        die Armee verpflichtet hatte, dachte ich, jetzt ist alles klar. Wäre 
        es ja früher auch gewesen. Jetzt bekomme ich zu hören, ich sei 
        ja gesellschaftlich nicht besonders aktiv. Mit anderen Worten: Ohne Parteimitgliedschaft 
        läuft das nicht mehr." 
        Als Ausweichstudiengänge wurden dem verhinderten Mediziner Marxismus-Leninismus, 
        Betriebswirtschaft oder eine Ingenieurschule angeboten. Wer früher 
        unbedingt studieren wollte, konnte immer noch zu den Pädagogen gehen, 
        wenn sonst gar nichts mehr lief. Auch dieser Notnagel aber ist nun ausverkauft. 
        Eine alte Logik kippt: Je höher die Wurst gehängt wurde, desto 
        eifriger schnappten die Jugendlichen früher danach. Heute winken 
        viele nur noch ab. 
        Sie möchten nicht so werden wie die Älteren, die sie als lebendige 
        Beispiele vor Augen haben - den Bruder, der nun Lehrer ist und sich immer 
        verdrücken muß, wenn West-Besuch kommt; die Freundin aus der 
        kirchlichen Friedensgruppe, die sich unter Tränen vom Pastor verabschiedet: 
        Sie habe jetzt einen Studienplatz, den wolle sie so gern, und in der Gruppe 
        würde sie auch gern weiterarbeiten, aber es gehe eben nur eins von 
        beidem. 
        Auch an den Eltern, besonders wenn sie im Sozialismus Erfolg hatten, mögen 
        sich viele nicht mehr orientieren. Unter Punkern und Pazifisten in der 
        DDR finden sich zahlreiche Söhne und Töchter hoher Funktionäre. 
        "Es sind Mumien", kritisiert ein Diplomatensohn aus Potsdam, 
        der zur Zeit als Fensterputzer arbeitet, seine Eltern. Und ein 19jähriger 
        Punker sieht seine Karriere-Eltern so: "Das Spießbürgerliche 
        hat mich angekotzt. Ich bin gegen das Deutschsein. Der Deutsche ist für 
        mich ein Kleinbürger und ein Spießer von Natur aus. Mich stört 
        dieses ganze Getue, diese Maske, die da ist, die. keiner abnimmt." 
        Die 22jährige Tochter eines hochgestellten SED-Funktionärs will 
        nur noch raus: nach Paris, nach Rom, der Ausreiseantrag ist gestellt. 
        Weil sie von ihrer Malerei nicht leben kann, jobbt sie drei Tage in der 
        Woche bei einem alten Zahnarzt. Der gestreßte Vater tut ihr leid: 
        "Leute wie er, die tatsächlich praktische Verantwortung haben, 
        also nicht bloß Ideologie ablassen, sind die ärmsten Schweine. 
        Sie kennen die Probleme und können doch nichts ändern. Wenn 
        du ganz unten bist, tauchst du ab, und wenn du Nummer eins oder zwei bist, 
        schwebst du drüber." 
       
         
            
            Ostdeutsche Wohnkultur: Leben in der Nische | 
         
       
      Die junge Frau sagt es ohne Anteilnahme. Die Kaste, in 
        der ihre Eltern leben, die Oberklasse der DDR, ist nicht ihre Welt. Seit 
        Jahren schon bietet ihr das Milieu der privaten Kunstausstellungen und 
        Debattierzirkel ein neues Zuhause, das sie in ihrer Familie nie gefunden 
        hat: "Glaubst du vielleicht, ich weiß mehr als du, was die 
        untereinander reden, was bei denen abläuft? Ich sah meinem Vater 
        immer bloß an, wie entnervt er war, wenn er irgendwann fünf 
        Stunden nach Dienstschluß in seinem Dienst-Volvo nach Hause gefahren 
        wurde. Erzählt wurde nie was, Kommunikation kaputt - auch andersherum." 
        Deshalb versuchen die verlorenen Kinder der Machtelite ihre kleinen fluchten, 
        entdecken Kunst und Philosophie, Kirche und Religion. Sie schlagen sich 
        durch mit Jobs bei Privatbetrieben, bei der Kirche, als Friedhofsgärtner, 
        Müllfahrer oder Putzfrau. 
        Auch diese Jugendlichen verkriechen sich, wie ihre Eltern, in Nischen 
        der sozialistischen Gesellschaft. Doch während die Jungen auf diese 
        Weise ein anderes Leben vorführen wollen, brauchen die Älteren 
        ihre Nischen - das Wochenendhaus, das Familienleben, den Freundeskreis 
        - um von den Strapazen ihrer öffentlichen Rolle auszuspannen. 
      
         
            
            Ostdeutsche Aussteiger Protest gegen Spießer und Mumien 
             | 
         
       
      Ganz entspannt im Hier und Jetzt der Arbeiter-und-Bauern-Republik 
        lebt sich es auch, wenn man genug trinkt. Da hat die DDR bald Weltniveau 
        erreicht - ähnlich wie bei Ehescheidung, Selbstmorden oder Umweltverschmutzung. 
        Damit es in den Nischen schön gemütlich bleibt, greifen immer 
        mehr Bürger zur Flasche. 
        Die Lage schilderte ein Infostand beim Dresdner Kirchentag im Juni: "In 
        einer Stadt von 30000 Einwohnern gibt es 600 ärztlich erfaßte 
        Alkoholkranke (DDR-Durchschnittszahlen). Umgerechnet auf 
        Dresden bedeutet das demnach 10 000! Die Dunkelziffer ist noch größer." 
        Bei einer Befragung männlicher Jugendlicher zwischen 14 und 18 Jahren 
        durch die "Arbeitsgemeinschaft für die Abwehr der Suchtgefahr" 
        gab nur ein Viertel an, überhaupt keinen Alkohol zu trinken. Knapp 
        die Hälfte tankt den Stoff an jedem Wochenende. Am liebsten trinkt 
        man in der Familie oder im Freundeskreis. Aber in den nach Feierabend 
        entvölkerten Straßen von Rostock, Erfurt oder Halle ist das 
        Problem nicht zu übersehen: Belebt werden die Bürgersteige dann 
        meist nur noch von Angetrunkenen. 
        Die SED hat inzwischen Anti-Suff-Kampagnen gestartet, um den volkswirtschaftlichen 
        Schaden einzudämmen. Die Psychiatrien in den staatlichen Krankenhäusern 
        sind überfüllt. In den Nervenkliniken der Bezirke trifft man 
        sich zur früher im Sozialismus verpönten Gruppentherapie nach 
        westlichem Muster. 
        "Das sind die Kosten für diese ewige Schizophrenie, das ständige 
        Doppelleben", sagt ein bekannter Filmemacher, um gleich anschließend 
        seine Gäste zu fragen: "Einen nehm' wir doch noch?" 
      
         
            
            Konzertbesucher in Ost-Berlin**: Auffallen im Einheitsgrau | 
         
       
      Wie diese Nischenmentalität funktioniert, hat die 
        frühere Redakteurin des Ost-Berliner Kulturblatts "Sonntag", 
        Irene Böhme**, beschrieben. Mit "vier abgegriffenen Münzen" 
        vergleicht sie die "sozialistischen Spielregeln": 
        - der graue Markt, auf dem privat ein großer Teil der materiellen 
        Versorgung geregelt wird; 
        - der klassengerechte "Stammbaum", der beim sozialen Aufstieg 
        mitentscheidet; 
        - die von Partei und Volk hochgeschätzte "Bildung", Vorbedingung 
        für den Karrierestart; 
        - die vorzeigbare "Gesinnung". 
        Diese Normen waren einmal ein Fortschritt, waren überschaubare Instrumente 
        gegen die Willkür des Stalinismus. Den aber kennen die Kids von heute 
        nicht mehr aus eigener Erfahrung. Sie reiben sich an dem, was danach gewachsen 
        ist, sie verachten "die Maske, die keiner abnimmt" - Kommunikation 
        kaputt. 
        Die Erfahrung, sich in der Öffentlichkeit ewig maskieren zu müssen, 
        ist ihnen allen gemeinsam - dem pazifistischen Schüler und dem rotzigen 
        Punker, dem frommen Jung-Gemeindler und dem alternativen Töpfer, 
        dem Liedermacher und dem subkulturellen Literaten. 
        Die Schule ist eine Maschine, die Politik ist eine Maschine und die Karriere 
        auch. Wer sie richtig zu bedienen weiß, wer Irene Böhmes "abgegriffene 
        Münzen" in die richtigen Schlitze steckt, der bekommt, was er 
        braucht. Und manchmal einen ordentlichen Zuschlag. Lebenstüchtig 
        ist, wer die realsozialistische Grundregel beherrscht: Sag dem Staat, 
        was er hören will, und greif dir, was du kriegen kannst. 
        Wenn es einen gemeinsamen Nenner gibt für die unterschiedlichen Formen 
        des Protests, für das Rumoren in der DDR-Jugend, dann ist es das 
        Unbehagen an diesem Doppelleben. 
        Die FDJ verbreitet, in der 1982 erschienenen Broschüre "Aus 
        erster Hand. Junge Leute in der DDR", einen solchen Generationskonflikt 
        gebe es nicht. Die SED-Jugendorganisation hat damit sogar, wenn auch unbeabsichtigt, 
        recht: Die Verschiebung der gesellschaftlichen Wertvorstellungen gibt 
        mehr Zündstoff her als für einen nur kurzlebigen Streit zwischen 
        jung und alt.
      
         
            
            Rockkonzert am Prenzlauer Berg: "Schnee fällt auf 
            dieses todlangweilige Land' | 
         
       
      Zwar ziehen die meisten Familien die Notbremse, seitdem 
        die Kinder massenhaft die Termine der Christenjugend frequentieren, rücken 
        verängstigte Mütter und saure Väter den Pfarrern und Gemeindearbeitern 
        auf die Bude. "Seit mein Sohn zu Ihrer Jungen Gemeinde geht, Herr 
        Pfarrer, hat er dauernd Ärger mit seinem Staatsbürgerkundelehrer", 
        klagt ein Vater. Und eine Mutter kündigt an: "Wenn das nicht 
        aufhört mit Ihren Politabenden, verbiete ich meiner Bettina, weiter 
        da hinzugehen." 
        Doch was da rumort, treibt auch manchen Alten um: Das Unbehagen der Jungen 
        steckt an, der Bazillus macht auch vor Schrankwänden nicht halt. 
        Ein Wohnzimmer in Weimar. Die erste Kiste Radeberger Pils ist schon leer, 
        allmählich fallen die Meinungshüllen. Die Gastgeberin hat Sorgen. 
        Ihr Mann, ein geachtetes und gutbezahltes Glied der Gesellschaft, sei 
        verrückt geworden: "Zur Reservistenübung will er nicht 
        einrücken, stellt euch mal vor, was das heißt!" 
        Vor zwei Jahren war er noch hingegangen, maulend zwar wie alle, aber doch 
        selbstverständlich wie alle. Nun sitzt er auf dem Sofa und betrachtet 
        milde lächelnd seine hysterische Frau und die erschrockene Freundesrunde. 
        Ja, er denke da an so ein paar amerikanische Filme, da sei das beschrieben, 
        wie ihm zumute sei: "Irgendwann sagt ein Mann nein'. Stellt 
        sich gegen alle anderen und geht seinen Weg." 
        Sicher, er könnte auch weitermachen wie bisher. Der Einkauf im Exquisit-Shop 
        ist immer drin, er liebt sein Hobby, fährt zweimal pro Jahr "anständig 
        in Urlaub". Die Frau ergänzt: "Und jetzt haben sie ihm 
        auch noch geflüstert, daß er bei der Reserveübung im Sommer 
        einen ganz bequemen Job haben kann!" 
        Und nun das, ein Verweigerer in der Familie. Die Gastgeberin blickt sich 
        hilfesuchend um: "Sagt ihr doch was, ist das nicht Wahnsinn?" 
        Vor einer Stunde hatte sie noch ganz anders geredet, als ein junger Pfarrer 
        in der Runde für Veränderung in kleinen Schritten plädierte. 
        Ein Onkel, so erzählte der Geistliche, habe sich in seinem Betrieb 
        als überzeugter Christ standhaft geweigert, der Partei beizutreten, 
        auch dem Druck des Kaderleiters habe er widerstanden. Die Kollegen hätten 
        das schließlich geschluckt. Wenn bloß einer mal Haltung zeige, 
        so der Pfarrer, dann könne das viel bewegen. 
        Dem Hausherrn hatte die Geschichte gefallen, die Gastgeberin aber hatte 
        dem Theologen vorgehalten: "Woher du bloß deine ewige Geduld 
        nimmst", nein, das bringe sie nicht fertig, so könne gar nichts 
        vorangehen. 
        Als es dann um ihren eigenen Mann, den Reservedienst-Verweigerer, geht, 
        ist es vorbei mit den starken Worten. 
        Das ist es, was DDR-Jugendliche abstößt von der älteren 
        Generation: das Nebeneinander von griesgrämiger Dauernörgelei 
        im privaten Kreis und tadellosem Wohlverhalten in der Öffentlichkeit. 
        Die Alten haben den Jungen wenig gegeben, worauf sie stolz sein könnten. 
        Die in Westneid und Opportunismus erstickte Selbstachtung wollen sie sich 
        jetzt zurückholen. 
        Die meisten, die sich öffentlich als Bürgerschreck, Umweltschützer 
        oder Pazifisten, als Diener oder als junge Christen bekennen, bezeichnen 
        sich demonstrativ als DDR-Bürger. West-Voyeure mögen sie nicht 
        besonders, und außer Landes zu gehen empfinden sie meist als Schande 
        - egal ob freiwillig oder gezwungen. Die aus Ost-Berlin, Jena und andernorts 
        Ausgebürgerten, die jetzt in West-Berlin leben, fühlen sich 
        als Exilanten und trauern zwar nicht ihrem Staat, wohl aber ihrem Land 
        nach. 
        Die Ost-Berliner Rockgruppe "Pankow" antwortete auf die Frage, 
        ob sie mit ihren rotzigen Texten wie "Komm aus dem Arsch" die 
        Gleichaltrigen zum Aussteigen oder zum Einsteigen bewegen wolle, mit einer 
        Umwertung dieser westlichen Begriffe: "Es gibt bei uns einen Hang 
        vieler Leute, wie du sagst, auszusteigen. Aber nicht in dem Sinne, wie 
        es im Westen ist: also nicht arbeiten gehen. Die Leute hier steigen aus, 
        indem sie sich privatisieren, indem sie den Job machen, da sind, ihn erfüllen 
        und dann nach Hause gehen, und dann geht ihre Welt los samt Fernseher 
        und Freizeithobbys. Das hat auch seine Ursachen. Wir finden das unheimlich 
        bedrückend, daß sich zu wenig Leute verantwortlich fühlen, 
        wie sie leben, und Mut haben, gegen das, was sie stört, vorzugehen 
        und einfach aktiver leben." 
        Die Aussteiger - das sind all die Normalen. 
      * Aus der Textsammlung: "VEB Nachwuchs. Jugend in der DDR". 
        Rororo, Reinbek bei Hamburg; 1983; 9.80 Mark. 
        ** Im August 1983, beim Punk-Konzert im Ost-Berliner Bezirk Prenzlauer 
        Berg. 
        *** Irene Böhme, "Die da drüben". Rotbuch Verlag, 
        Berlin; 126 Seiten; neun Mark. 
       
      (Quelle: DER SPIEGEL 40/1983) 
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