Punker in der DDR |
Büscher, Wensierski an der Berliner Mauer |
DDR: Aufstand gegen die Väter
Nach 30 Jahren sozialistischer Einheitserziehung hat die DDR mit ihrer
Jugend die gleichen Probleme wie die Bundesrepublik: Aussteiger und Punker,
Umweltschützer und Friedensfreunde rebellieren gegen das System und
verunsichern die Staatspartei durch locker-alternative Existenz und -
ärger noch für die machtbewußte SED - durch Forderungen
nach einer anderen Politik. Jahrelang sammelten die West-Berliner Journalisten
Wolfgang Büscher, 32, und Peter Wensierski, 29, Eindrücke in
der ostdeutschen Subkultur. In einer SPIEGEL-Serie beschreiben sie den
Aufstand gegen die Generation der Väter: "Wenn du unten bist,
tauchst du ab."
"Wenn du unten bist, tauchst du ab"
DDR-Jugendszene: Punker und Aussteiger / Von Peter Wensierski
und Wolfgang Büscher
Sonne, Sonntagnachmittag, lazy afternoon im Ost-Berliner
Stadtbezirk Prenzlauer Berg. Vor dem "Wiener Cafe" sitzt die
Kundschaft bei Eiskaffee oder Bier, mittendrin ein Punker mit halb abrasiertem,
halb grün gefärbtem Schopf. Das zerrissene T-Shirt des jungen
Mannes trägt die Aufschrift "Chaos".
Drei Stunden später, ein paar Straßen weiter. Aus der Freiluftgaststätte
"Pratergarten" überträgt der DDR-Rundfunk live eine
Unterhaltungssendung. Biedere Bürger in Schlaghosen und mit Plastiksonnenbrille
hocken neben kahlgeschorenen Hundehalsbandträgern beim Bier. Reglos
beobachten sie, wie sich eine Kapelle und ihre Go-go-girls mühen,
Freude aufkommen zu lassen. Auch ein Schwulen-Pärchen steht dabei
und lauscht der Combo, die den Uralt-Hit "Copacabana" zum besten
gibt.
Bürgerwelt und Szenenwelt: Kein anderer Fleck in der SED-Republik
ist von diesem Gegensatz so geprägt wie das Viertel rechts und links
der Schönhauser Allee. Dort stehen an den Hauswänden nicht mehr
nur die Bekenntnisse der Fußball-Fans ("BFC Union") oder
der Rock-Gemeinde ("AC/DC"). Dort wird es auch politisch.
An den Hintereingang des 5-Bahnhofs Schönhauser Allee hat einer die
West-Berliner Hausbesetzer-Devise gemalt: "Legal, illegal, scheißegal!"
Die A sind eingekreist, natürlich die Friedensrune der Pazifisten
findet sich fast an jeder Straßenecke. Eine Wand der Gethsemane-Kirche
ist mit der Verheißung verziert worden: "Jesus lebt - Jesus
ist grün!"
Ab und an gehen staatliche Tüncher gegen die Spray-Sprüche zu
Werke. Der Namenszug der verbotenen polnischen Gewerkschaft "Solidarnosc"
auf einer Mauer am Helmholtzplatz verschwand schon nach einem Tag unter
weißem Anstrich. Und die Kachelwände am U-Bahnhof Luxemburgplatz,
die öfter mal Umwelt- und Peace-Parolen zieren, sind durch die häufige
Anwendung von Reinigungschemikalien fleckig geworden.
Bürger und Szene versuchen sich abzugrenzen, so gut es geht.
Als sich am 13. Februar 1982 zum erstenmal in der DDR 5000 Jugendliche
vor und in der Dresdener Kreuzkirche zu einem Friedensforum versammeln,
finden sich gegenüber dem Gotteshaus ältere Gäste zum Varieté
im "Café Prag" ein. Während sie bei Torte, Schnaps
und Bier Kunstturnern und Jongleuren zusehen, werden unten auf dem Altmarkt
Antikriegslieder zur Gitarre gesungen.
Punks, Kindergartenwerbung in Erfurt, betrunkener Jugendlicher
In Ost-Berlin: "Das ist die Schuld der Väter" |
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Das Ost-Berliner Kabarett "Die Distel", nach
Ansicht einer Funktionärstochter "das Amüsierkabinett der
Genossen", zeigt am 9. Mai 1983 ein Sonderprogramm zum Jahrestag
der Bücherverbrennung. Es geht familiär zu, in einer Art Talkshow
werden Veteranen des sozialistischen Kampfes vorgestellt. Die Kabarettisten
begrüßen die SED-Funktionäre im Publikum. Kaum einer unter
den Zuschauern, der nicht das Parteiabzeichen trägt.
Wer in der Pause mal um den Block geht, dem wird die Feststimmung versaut.
Meter weg vom Ort der sozialistischen Familienfeier schleppt ein Jugendlicher
sein schweres Kofferradio die Straße rauf und runter. Der Lautstärkeknopf
ist bis zum Anschlag aufgedreht, der Song des West-Rockers Udo Lindenberg
an SED-Chef Erich Honecker kommt gut zwischen den hohen Hauswänden
der Clara-Zetkin-Straße: "Du ziehst Dir doch heimlich auch
gerne mal die Lederjacke an, / und schließt Dich ein auf'm Klo und
hörst West-Radio, / hallo, Erich, kannst' mich hören..."
Die Punker, die Aussteiger, die Alternativen in der DDR ziehen sich nicht,
wie es ihre Vorgänger, die Hippies und Dissidentenzirkel taten, in
eine privatprotestlerische Kleinkultur zurück. Sie machen sich öffentlich
breit.
Die ersten Ost-Berliner Punker tauchten vor gut zwei Jahren auf. Damals,
im Frühjahr 1981, schlichen sich zwei Dutzend Kahlgeschorene noch
heimlich zu einer Fete der Evangelischen Studentengemeinde in der Invalidenstraße.
Wenn ein Wartburg der Volkspolizei langsam vorbeipatrouillierte, huschten
sie hinter die nächste Litfaßsäule oder verzogen sich
ins Gebüsch. Eine Band spielte auf dem Fest Punkmusik: Keiner der
Veranstalter hatte sie so richtig gekannt, sonst wäre die Gruppe
wohl nicht eingeladen worden.
Sommer 1983 in einem Hinterhof in der Schliemannstraße, Bezirk Prenzlauer
Berg. Es ist Betrieb an diesem Samstagabend. In ein paar Stunden soll
die Gruppe "Vorbildliche Planerfüllung" aus Gera aufspielen.
Bis dahin musiziert eine unbekannte Fünf-Mann-Band. Als Bühne
dient ein Sperrmüll- und Trümmerberg im dritten Hinterhof.
Von dem Text, den der Sänger mit der Schweißerbrille herausschreit,
sind nur Fetzen zu verstehen: "Schnee fällt aus Benzinkanistern
über dieses todlangweilige Land." Die anderen vier fallen immer
wieder in den Refrain ein: "Das ist die Schuld der Väter! Das
ist die Schuld der Väter!" Bis schließlich einer der Gäste
über ein Verstärkerkabel stolpert und der Strom wegbleibt.
"One Way" und "Wutanfall"
Wie Polizei und Staatssicherheit (Stasi) gelegentlich gegen
Punk-Feten vorgehen, schildert ein Jugendlicher aus Leipzig*:
Am 17. Juli 1982 trafen sich in Leipzig etwa 400
bis 500 Freaks und Punks, um auf einem privaten Grundstück
ein Fest zu feiern. Sie kamen aus Erfurt, Halle, Magdeburg, Berlin,
Karl-Marx-Stadt, Dresden und Leipzig, um die Punkbands "Wutanfall"
"Keim Schleim" und "Unerwünscht", die Bluesgruppen
"Onkel Huck" und "One Way" und Liedermacher
zu hören, um Theater zu sehen. Alles Leute, die öffentlich
nur in Kirchen zu Wort kommen. Mittags war ein Kinderfest geplant.
Doch am 16. Juli wurde das Fest von der Stasi und den Bullen verboten.
Obwohl Feiern in Wohnungen und auf privatem Gelände nicht angemeldet
und genehmigt werden müssen, erklärten die Bullen das
Fest für genehmigungspflichtig. Am 17. Juli waren dann an den
Straßen rund um das Grundstück massig Bullentaxen, Zivilisten,
die alles zu leiten schienen, und ein Überfallkommando. Die
meisten Punks und Freaks (etwa 250) hatten sich in der Wohnung eines
Punks getroffen und zogen zum Grundstück, als sich Bullen und
Stasi provozierend vor dem Haus aufbauten.
Dort angelangt, wurde gleich von den Bullen, welche den Eingang
zum Grundstück blockierten, mit Gewalt gedroht, falls sie Passanten
belästigen würden (eine ältere Radfahrerin war abgestiegen,
um ihr Rad durch die Leute zu schieben). Alle merkten, daß
es die Bullen auf einen Zusammenstoß anlegten, auf den sie
sich gut vorbereitet hatten.
Vielen Leipzigern war aber der 28. März 1981 noch gut in Erinnerung,
als über hundert Freaks ein leerstehendes Abrißhaus besetzt
hatten, um darin ungestört und unbeschränkt eine Rockpalastfete
zu feiern. Damals wollten Stasi und Bullen im Schutze der Dunkelheit
ein Exempel statuieren.
Sie säumten das Haus mit sieben Überfallkommandos und
nahmen 94 fest. Danach folgte stundenlanges Stehen vor einer Mauer
mit Händen im Genick, anschließend Verhöre. Alle
Frauen mußten sich im Keller ausziehen. Fast alle mußten
Geldstrafen in Höhe von 75 bis 300 Mark bezahlen.
Deshalb wollten es die Leute nicht auf eine Kraftprobe ankommen
lassen und zogen es vor, an den Kanal (Badegewässer am Rande
der Stadt) zu fahren. Nach einiger Zeit teilten sich dort viele
in kleinere Gruppen und gingen zu verschiedenen Feten.
Wir hoffen, wenn wir beim nächstenmal wieder am Feiern gehindert
werden, daß wir eine Kraftprobe nicht scheuen müssen.
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Punker-Fest In Leipzig: "Ringsum massig Bullentaxen"
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Auch der DDR-Rundfunk beginnt sich vorsichtig auf neue
Töne einzustellen. Regelmäßig stellt der Jugendfunk Amateurgruppen
vor, mit Texten wie: "Ich sitz' vor der Glotze/schütte Schnaps
in mich rein", oder: "Zerrissen wie diese Zeit/geh' ich auf
dem schmalen Grat zwischen Bitterkeit' und nie was riskieren'."
Heute gehören Punker zum Straßenbild, nicht nur in Ost-Berliner
Vierteln wie Prenzlauer Berg, sondern auch in Dresden, Halle und anderswo.
Bands wie "Keks" aus Ost-Berlin und "Juckreiz" aus
Thüringen liefern ihnen die Musik. Und wenn es auch bloß Wasserfarbe
ist, die sie zum Haarefärben kaufen können - Spaß macht
es doch: Jede HO-Kaufhalle und jedes Bekleidungsgeschäft ist ein
punkiges Einkaufsparadies.
Denn eine Subkultur, die sich unmodern und antimodisch gibt, die den nostalgischen
Tick für die Nierentisch-Epoche pflegt, braucht im anderen Deutschland
nicht lange nach geeignetem Ambiente zu suchen: Für die Punks ist
die Rückreise in die fünfziger Jahre kurz, weil deren Ästhetik
in der DDR von heute noch immer allgegenwärtig ist.
Die Kleidung der Bürger, die Einrichtung der Wohnzimmer, die schrillen
Farben der Trabant-Autos ("Trabis"), die sterilen Mitropa-Gaststätten,
die Waschpulver-Kartons und Fertigsuppen-Schachteln könnten von westlichen
New-Wave-Designern gestylt worden sein: real existierender Punk im sozialistischen
Deutschland.
Gern greift deshalb die West-Berliner Szene seit Jahren auf die tiefgefrorenen
Fifties vor der Haustür zurück: In der Bleibtreustraße
bietet Laden an Laden die Plaste-Klamotten nach DDR-Machart an, der abgelegenste
heißt "Intershop". Rockgruppen im Westteil der Stadt nennen
sich "Interzone" "White Russia" oder "Leningrad
Sandwich". Und die Mauer ist längst zur Reklamewand für
Rockkonzerte und Plattencover geworden.
Jenseits der Mauer hat der Spaß schnell ein Ende. Ost-Punks, die
sich für das West-Berliner Szeneblatt "Tip" und das Hamburger
Links-Blatt "Konkret" hatten ablichten lassen, landeten hinter
Gittern. Sie haben keine Fürsprecher: So wie in den sechziger Jahren
den Langhaarigen, so schlägt heute den Geschorenen der Mißmut
des DDR-Normalbürgers entgegen.
In einer thüringischen Kleinstadt (30 000 Einwohner) lud ein Mitglied
der kirchlichen "Jungen Gemeinde" die dort bestehende Gruppe
von fünf Punks in die elterliche Ausflugsgaststätte ein. Als
der Vater, ein selbständiger Wirt, zwei Irokesenköpfe erblickte,
verlor er die Fassung - die beiden mußten durstig wieder abziehen.
Empörte Bürger werden auch mal handgreiflich. Bei der Volkspolizei
findet ein Punker keine Hilfe: Vielleicht ist ja der Beamte, an den er
sich wendet, derselbe, der ihn gestern wegen "asozialen Verhaltens"
vom Marktplatz oder aus einer Kneipe vertrieben hat.
Vor allem die Transportpolizei tut sich hervor. In Halle, Potsdam, Leipzig
und anderswo wurden grell gefärbte Jugendliche mit Punkausrüstung
sistiert: Wer verreisen wollte, durfte den Bahnhof nicht betreten, wer
ankam, wurde nicht hinausgelassen.
Schlechte Karten haben Punker erst recht in der Schule und auf der Lehrstelle:
In die Zeugnisse schreiben Lehrer und Meister nicht nur Fachzensuren,
sondern auch ausführliche Beurteilungen über die Persönlichkeit.
Auch wenn sich einer entschließt, die grüne Haarfarbe rauszuwaschen
und das Hundehalsband an den Nagel zu hängen, bleibt das Blatt in
seiner Kaderakte ein ganzes staatsbürgerliches Leben lang.
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Kontrolle in Ost-Berlin, Spray-Parolen "Legal, illegal,
scheißegal" |
Und doch lassen sie sich das bittersüße Gefühl
nicht vermiesen, Bürgerschreck zu sein, aufzufallen im Einheitsgrau,
den Staat zu verhohnepiepeln. Auf der Suche nach zünftigem Outfit
haben die DDRPunker all die staatlichen Abzeichen für gutes Lernen,
die Banner für besondere Kollektivleistungen, die kleinen rot-goldenen
Embleme zum 30. Jahrestag der DDR-Gründung und die Medaillen zum
Tag der deutsch-sowjetischen Freundschaft entdeckt. Zwischen den Buttons
von West-Freunden mit Anarcho-Parolen, dem Bekenntnis zur Rockgruppe "Sex
Pistols" oder der Aufforderung "Piss off" findet sich auf
den Jacken vieler DDR-Punker das gesammelte Blech der sozialistischen
Leistungsgesellschaft.
Wer so den Staat und seine "Freie Deutsche Jugend" (FDJ) verhöhnt,
landet schnell auf dem Revier. Verhör auf der Polizeiwache in Magdeburg:
"Was unterstehen Sie sich, solche Abzeichen zu tragen?"
"Die hab' ich mal bei der FDJ gekriegt."
"So verkommen, wie Sie herumlaufen, ist das eine Provokation, eine
Verunglimpfung des Staates und des Jugendverbandes."
Solche "Gespräche" mit Respektspersonen sind dem DDR-Jugendlichen
vertraut. Wer von der Norm abweicht, gerät in die Mühle.
"Gespräche" kommen etwa auf Jugendliche zu, die einen Platz
an der Erweiterten Oberschule, dem Gymnasium der DDR, haben wollen und
sich nicht gleich freiwillig für drei Jahre Dienst in der Nationalen
Volksarmee (NVA) verpflichten. Gespräche mit Jugendoffizieren, Gespräche
mit Lehrern, Gespräche mit der FDJ-Leitung der Schule, Gespräche
mit dem Direktor, Gespräche mit allen zusammen. Beide Seiten wissen,
daß solche Termine nicht der Wahrheitsfindung dienen, die Gesprächspartner
tauschen nur vorgestanzte Argumente aus.
Jugendliche Nonkonformisten sehen sich obendrein mit einem neuen Problem
konfrontiert. Früher drohte der Staat damit, ihnen die Karriere im
Sozialismus zu versauen. Nun müssen viele damit rechnen, daß
ihnen der Staat die Zukunft gar nicht mehr sichern kann: In der DDR, bisher
von Mangel an Arbeitskräften geplagt, stehen die ersten Arbeitslosen
auf den Fluren der Arbeitsämter bei den Stadtbezirksverwaltungen.
Ein Ost-Berliner Elektriker, der seit einem halben Jahr auf Stellensuche
ist: "Bei uns im Fernsehen bringen sie manchmal so Reportagen aus
dem Westen: Arbeitsamt morgens um achte, schlotter, frier, Thermoskanne.
Und zum Reporter sagen sie dann: Ja, ich komme jetzt schon seit einem
Jahr hierher. Daran mußte ich denken, wie ich neulich morgens um
achte beim Arbeitsamt von meinem Stadtbezirk in der Reihe stand."
Die Arbeitsämter haben neuerdings sogar an zwei statt, wie voriges
Jahr, an einem Tag in der Woche auf. Die "Arbeitssuchenden",
so der offizielle Begriff, erhalten acht Mark pro Tag an Unterstützung.
"Diese unheimlich dreckige Stadt"
Über Hausbesetzungen in Leipzig und sein Leben als Aussteiger
berichtet der 20iähnge Harry*:
Im Frühjahr 1982 wollte ich von Sangerhausen
im Harz nach Leipzig ziehen. Hinter mir: eine verkrachte Lehre wegen
Waffenverweigerung bei der vormilitärischen Ausbildung, vom
Abi geflogen, Krach mit den Erzeugern, Durchschlagen mit 'nem Zimmer
bei 'nem Kumpel und 120 Mark im Monat.
Trotz alledem oder gerade dadurch noch die Ideale von Peace und
Love im Kopf - Opposition überhaupt, gegen alles Konservative
und so. Ende Februar hatte ich die Lehre beendet. Plötzlich
'ne Karte von Mozart und Bruno, die Leute, zu denen ich ziehen wollte:
"Wir werden geräumt." Ein einmaliger Akt - zumindest
in der Größenordnung. In einer Straße waren dreizehn
Wohnungen besetzt. Kommen und Gehen, Feten, Musik, lange Haare...
Die offizielle Rechtfertigung der Behörden: Die Häuser
stehen auf Abbruch. Die inoffizielle: zu große Anhäufung
progressiver Leute mit staatsfeindlichen Interessen.
Wir wunderten uns sehr, denn alle bekamen eine Wohnung, natürlich
in Häusern mit gesitteten Spießern. Da hat man die Leute
besser unter Kontrolle. Außer zweien, denn Tanja und Jule
sind auserkoren, um an ihnen ein Exempel zu statuieren. Tanja wird
trotz Arbeitsverhältnis gekündigt und nach Bad Düben
zwangsverwiesen, weil dort ihre Eltern wohnen. Beide hatten die
angebotenen nassen Wohnungen nicht genommen.
Ich zieh' trotzdem nach Leipzig zu Bruno, der 'ne Einraum-Wohnung
mit feuchten Wänden bekommen hat. Dort lern' ich dann Tanja
näher kennen, die natürlich mächtig am Ende ist.
Und dort wohnen wir nun, Bruno, Tanja, Mozart und ich. Bruno geht
als einziger arbeiten und stinkt entsprechend auf uns ab.
Ich renn' wie ein Bekloppter nach Arbeit rum. Nichts zu machen.
Als gelernter Elektriker höre ich nur immer wieder die Worte,
"gehn Sie mal zurück in die Produktion. Als Elektriker
werden Sie gebraucht. Sie als junger Mann müssen doch Ihre
Arbeitskraft voll auslasten", und so weiter. Dieser ewige Kreislauf,
dieses Reinpressen in Proletennormen, nur nicht denken, Arbeiten
und Konsumieren sind angesagt. Wer das kennt, so einen Achtdreiviertel-Stunden-Tag
in der Fabrik, der weiß, wie es ist, wenn man nach Hause kommt
und nicht mehr den Elan hat, sich ein Buch zu greifen oder wegzugehen.
Aber noch hatte ich genug Zeit, mich mit allem möglichen zu
beschäftigen. Langsam auch vergessen die Zeit, wo ich mit Liebe
die Weit revolutionieren wollte. Die Ost-Freak-Zeiten als Woodstocknachläufer
mündeten in individuellen Radikalismus und Nihilismus. Ich
las anderes, versuchte mir auf allen möglichen Wegen Bücher
zu beschaffen, die dem Staat unerwünscht waren. Trotzki, Stalin,
Marcuse, Sartre, Anarchie ganz oben. Her mit Bomben und Maschinenpistolen,
zeigt's den Staatskapitalisten. Ab in den Underground - so jedenfalls
träumten meine Kumpels und ich.
Tanja und ich hatten inzwischen eine Wohnung aufgerissen. Wir zogen
dort schwarz ein. Unsere Wohnung wurde allmählich Anlaufpunkt.
Wir quatschten viel und lange.
Entscheidend waren eigentlich immer solche spontanen Feten. Ich
war dann mit Tanja auch irgendwie auseinander, wir wohnten zwar
noch zusammen, aber gelaufen ist halt nix mehr. Mir selbst ging's
immer beschissener, ohne Job, kein Geld. Dazu Depressionen und die
Angst, festgenagelt zu werden - dieser Verfolgungswahn vor den Bullen
und der Stasi, denn Nichtarbeiten ist ja strafbar und asozial.
Aber weiter ging's trotzdem. Ich trampte ziemlich viel rum, Leute
besuchen und so. Dann wieder in Leipzig, schaust deine Klamotten
nach, was du verkaufen kannst, um über die Runden zu kommen.
Mit der Zeit ging mir dieses Nichtarbeiten ganz schön auf die
Nerven. Du stehst früh auf, schießt los, um dir was zu
essen und zu rauchen zu besorgen. Und abends irgendwohin, in den
Jazzkeller oder zu Leuten.
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Abbruchhäuser in der DDR: "Her mit Bomben
und Maschinenpistolen, zeigt's den Staatskapitalisten, ab in
den Untergrund" |
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Dann endlich klappte es mit einem Job - als Aufsicht im Museum.
Endlich diese Angst los, doch noch einzufahren. Aber just danach bekamen
wir einen Räumungsbescheid. Da sie wohl nicht wußten, wohin
mit uns, wiesen die uns vom Amt 'ne Wohnung zu, und das, obwohl kurz
vorher im selben Viertel 'ne Kommune von den Bullen geräumt worden
war.
Wir waren echt happy über die neue Bude, obwohl uns gesagt wurde,
wir müßten jeder dreihundert Mark Ordnungsstrafe zahlen.
Unbefugtes Wohnen in einer Wohnung!
Am Anfang kamen wir mit den Leuten im Haus recht gut zurecht. Die
dachten, wir wären ein junges Paar oder so. Aber so nach und
nach änderte sich deren Verhalten. Spätestens, als wir den
Flur knallgrün und türkis strichen. Das checkten sie dann
nicht mehr.
Dann kam für mich der Hammer: 12. August, Einberufungsüberprüfung.
Verdammte Scheiße, das hatte mir noch gefehlt. Ich war total
am Ende. Nachdem die letzte Zeit so glimpflich verlaufen war, jetzt
dieser Tiefschlag. Armee. Das war mein Trauma. Der Alp. Ich hatte
natürlich einen unheimlichen Schiß vor dieser Musterung.
Als ich dann vorgeladen war, ging mir ganz schön die Muffe. Ich
erzählte irgendwelchen Mist, freireligiös und so weiter
und machte einen Antrag auf Bausoldat. Die Tage vor dem Einberufungstermin
war ich nur noch ein Schatten meiner selbst. Jedesmal Angst - der
Blick in den Briefkasten, der blaue Brief. Aber er kam nicht. Da war
ich natürlich total oben. Endlich wieder ein kleiner Lichtblick.
Dann pochte auch schon der Winter an die Tür. Wir hatten natürlich
keine Kohlen. Die ersten kalten Wochen kamen wir mit Borgen über
die Runden. Zu Leuten in der Nähe und mit 'nem Rucksack voller
Kohlen wieder zurück.
Im November war ich dann auch viel in Berlin. Leipzig kotzte mich
total an - diese unheimlich dreckige Stadt, und vor allem diese Hinterwäldler-Spießer.
Wegen 'nem Ring im Ohr ist man da gleich angemacht worden. Allerdings
gab uns das den Zusammenhalt, einfach, daß die Beziehungen zu
den anderen Leuten eigentlich viel enger waren, bedingt durch die
graue Masse und das System.
Es gab natürlich auch Diskrepanzen zwischen uns. Da war eigentlich,
was mich am meisten belastete, dieser Klatsch und Tratsch, bedingt
durch die kleine, große Stadt. Über hundert Ecken erfuhr
man dann, was man mal irgendwo mehr oder weniger Belangloses gesagt
hatte. Ich nehme mich da nicht aus.
Da war zum Beispiel die Sache mit Tanja, eines der beschämendsten
Dinge, die ich mir je geleistet habe. Durch ein paar dumme Erlebnisse
mit den Bullen in direkter Folge aufeinander - es war Anfang Dezember
- hatte ich einen ziemlichen Frust und Verfolgungswahn. Überall
sah ich Spitzel, achtete auf die abnormsten Details bei den Leuten,
die auf solche Tätigkeiten hinweisen konnten.
Bei Tanja kam da so einiges zusammen, meine Phantasie hatte keine
Grenzen mehr, ich steigerte mich immer mehr hinein. Tanja war tierisch
neugierig, ich bildete mir ein, sie durchkramte mein Zimmer, die Ordnungsstrafe
für die Wohnung kam auch nicht mehr, und so weiter. Ich erzählte
nur ein paar Freunden meine Befürchtungen, vielleicht, um zu
hören, daß sie sie nicht teilen würden, und mit der
Hoffnung, mir das alles auszureden.
Aber es kam, wie es kommen mußte. Einer hielt die Klappe nicht,
der Kreis schloß sich, und Tanja erfuhr von allem. Klar, daß
sie total fertig war. Es kam zu 'ner Aussprache zwischen uns beiden,
ich fühlte mich ziemlich mies. Schließlich hatte ich das
alles verzapft! Aber sie nahm mir das gar nicht übel, und irgendwann
war die Sache dann auch vergessen. Es wäre nicht das erste Mal
gewesen, daß Leute durch solche Denunziationen fertiggemacht
worden wären oder zum Strick gegriffen hätten.
Hier in Leipzig gibt's noch ein altes Haus, in dem mehrere Leute wohnen
und das wohl auf Abriß steht. Die haben dort viel gemacht, Rohre
und Leitungen verlegt und wohnen halt ganz allein drin. So was finde
ich echt verschärft. Da gibt's zwar auch das übliche Chaos
und auch Konflikte, aber eigentlich ist das für Leipzig die absolute
Sahne! Vielleicht gehe ich, wenn mir der Job zum Halse raushängt,
doch nach Berlin. Da gibt's 'ne Menge dufter Typen, ich hätte
Lust, da mal so was aufzuziehen. |
Zwar sind nach sozialistischem Arbeitsrecht Massenentlassungen
nicht möglich. Doch Werktätige, die etwa wegen Suff am Arbeitsplatz
früher Disziplinarstrafen erhielten, werden heute auch schon mal
gefeuert. Und wer selber in der Hoffnung kündigt, er werde jederzeit
einen neuen, ja besseren Job bekommen, der kann nun sein blaues Wunder
erleben.
Die Schilder mit der Aufschrift "Wir stellen ein. . ." die früher
an fast jedem DDR-Betrieb aushingen, sind selten geworden. Kein Wunder:
Im Stahlwerk Henningsdorf etwa sind Schmelzöfen erkaltet, weil die
Rohstoffe fehlen. Und im Ost-Berliner Kabelwerk Oberspree mangelt es an
Kupfer, viele Werktätige fegen seit Monaten nur noch die Hallen.
In Henningsdorf wurde ein Einstellungsstopp vorläufig wieder aufgehoben.
"Es sollte auf jeden Fall vermieden werden", so ein Arbeiter,
"daß es ein Gerede über Arbeitslosigkeit gibt."
Intern redet man offener: Man müsse sich, so der Sekretär der
Parteigruppe in der Redaktion einer Fachzeitschrift, wohl oder übel
"darauf einstellen, so eine Art Arbeitssuchendenheer zu haben".
Die theoretische Parteipresse aber behandelt das alles als Problem bei
der Umsetzung von Arbeitskräften im Zuge der sozialistischen Rationalisierung.
So sehen es auch nach wie vor die Wirtschaftsleiter: Sie müssen ja
die eigentlich arbeitslosen Werktätigen von Abteilung zu Abteilung
oder von Betrieb zu Betrieb verschieben.
Dennoch summieren sich die Einzelfälle zur sozialen Größe;
Zahlen kursieren: In Schwerin sollen es 2000 Arbeitslose sein, in Ost-Berlin
gar 30 000. Solche Schätzungen mögen übertrieben sein.
Doch der Druck auf die Arbeitsplätze schlägt durch auf die Ausbildungssituation
der Jugendlichen.
Polizeiwache in Ost-Berlin: Im Vernehmungszimmer sitzen sich unter dem
gerahmten Porträt von Erich Honecker ein Punker und ein Polizist
gegenüber. Der Beamte väterlich zu dem Photographen-Lehrling:
"Menschenskind, seien Sie doch froh, daß Sie überhaupt
noch eine Ausbildung bekommen. Die nächste Generation hat es da viel
schwerer als ihr, das können Sie mir glauben."
Junge Leute sehen ihre Chancen auf eine Bildungskarriere schwinden. "Die
sind nicht mehr so wie noch vor ein paar Jahren", hat eine Frau aus
der Ost-Berliner kirchlichen Jugendarbeit beobachtet, "Abitur und
so steht nicht mehr an erster Stelle. Sie haben wohl das Gefühl,
daß es das alles nicht wert ist. Daß lebenslängliche
Anpassung sich gar nicht lohnt."
Das spüren auch die, die sich schon um einen Studienplatz beworben
haben; einer erzählt: "Ich habe ein sehr gutes Abitur und wollte
Medizin studieren. Nachdem ich mich auch noch auf drei Jahre für
die Armee verpflichtet hatte, dachte ich, jetzt ist alles klar. Wäre
es ja früher auch gewesen. Jetzt bekomme ich zu hören, ich sei
ja gesellschaftlich nicht besonders aktiv. Mit anderen Worten: Ohne Parteimitgliedschaft
läuft das nicht mehr."
Als Ausweichstudiengänge wurden dem verhinderten Mediziner Marxismus-Leninismus,
Betriebswirtschaft oder eine Ingenieurschule angeboten. Wer früher
unbedingt studieren wollte, konnte immer noch zu den Pädagogen gehen,
wenn sonst gar nichts mehr lief. Auch dieser Notnagel aber ist nun ausverkauft.
Eine alte Logik kippt: Je höher die Wurst gehängt wurde, desto
eifriger schnappten die Jugendlichen früher danach. Heute winken
viele nur noch ab.
Sie möchten nicht so werden wie die Älteren, die sie als lebendige
Beispiele vor Augen haben - den Bruder, der nun Lehrer ist und sich immer
verdrücken muß, wenn West-Besuch kommt; die Freundin aus der
kirchlichen Friedensgruppe, die sich unter Tränen vom Pastor verabschiedet:
Sie habe jetzt einen Studienplatz, den wolle sie so gern, und in der Gruppe
würde sie auch gern weiterarbeiten, aber es gehe eben nur eins von
beidem.
Auch an den Eltern, besonders wenn sie im Sozialismus Erfolg hatten, mögen
sich viele nicht mehr orientieren. Unter Punkern und Pazifisten in der
DDR finden sich zahlreiche Söhne und Töchter hoher Funktionäre.
"Es sind Mumien", kritisiert ein Diplomatensohn aus Potsdam,
der zur Zeit als Fensterputzer arbeitet, seine Eltern. Und ein 19jähriger
Punker sieht seine Karriere-Eltern so: "Das Spießbürgerliche
hat mich angekotzt. Ich bin gegen das Deutschsein. Der Deutsche ist für
mich ein Kleinbürger und ein Spießer von Natur aus. Mich stört
dieses ganze Getue, diese Maske, die da ist, die. keiner abnimmt."
Die 22jährige Tochter eines hochgestellten SED-Funktionärs will
nur noch raus: nach Paris, nach Rom, der Ausreiseantrag ist gestellt.
Weil sie von ihrer Malerei nicht leben kann, jobbt sie drei Tage in der
Woche bei einem alten Zahnarzt. Der gestreßte Vater tut ihr leid:
"Leute wie er, die tatsächlich praktische Verantwortung haben,
also nicht bloß Ideologie ablassen, sind die ärmsten Schweine.
Sie kennen die Probleme und können doch nichts ändern. Wenn
du ganz unten bist, tauchst du ab, und wenn du Nummer eins oder zwei bist,
schwebst du drüber."
Ostdeutsche Wohnkultur: Leben in der Nische |
Die junge Frau sagt es ohne Anteilnahme. Die Kaste, in
der ihre Eltern leben, die Oberklasse der DDR, ist nicht ihre Welt. Seit
Jahren schon bietet ihr das Milieu der privaten Kunstausstellungen und
Debattierzirkel ein neues Zuhause, das sie in ihrer Familie nie gefunden
hat: "Glaubst du vielleicht, ich weiß mehr als du, was die
untereinander reden, was bei denen abläuft? Ich sah meinem Vater
immer bloß an, wie entnervt er war, wenn er irgendwann fünf
Stunden nach Dienstschluß in seinem Dienst-Volvo nach Hause gefahren
wurde. Erzählt wurde nie was, Kommunikation kaputt - auch andersherum."
Deshalb versuchen die verlorenen Kinder der Machtelite ihre kleinen fluchten,
entdecken Kunst und Philosophie, Kirche und Religion. Sie schlagen sich
durch mit Jobs bei Privatbetrieben, bei der Kirche, als Friedhofsgärtner,
Müllfahrer oder Putzfrau.
Auch diese Jugendlichen verkriechen sich, wie ihre Eltern, in Nischen
der sozialistischen Gesellschaft. Doch während die Jungen auf diese
Weise ein anderes Leben vorführen wollen, brauchen die Älteren
ihre Nischen - das Wochenendhaus, das Familienleben, den Freundeskreis
- um von den Strapazen ihrer öffentlichen Rolle auszuspannen.
Ostdeutsche Aussteiger Protest gegen Spießer und Mumien
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Ganz entspannt im Hier und Jetzt der Arbeiter-und-Bauern-Republik
lebt sich es auch, wenn man genug trinkt. Da hat die DDR bald Weltniveau
erreicht - ähnlich wie bei Ehescheidung, Selbstmorden oder Umweltverschmutzung.
Damit es in den Nischen schön gemütlich bleibt, greifen immer
mehr Bürger zur Flasche.
Die Lage schilderte ein Infostand beim Dresdner Kirchentag im Juni: "In
einer Stadt von 30000 Einwohnern gibt es 600 ärztlich erfaßte
Alkoholkranke (DDR-Durchschnittszahlen). Umgerechnet auf
Dresden bedeutet das demnach 10 000! Die Dunkelziffer ist noch größer."
Bei einer Befragung männlicher Jugendlicher zwischen 14 und 18 Jahren
durch die "Arbeitsgemeinschaft für die Abwehr der Suchtgefahr"
gab nur ein Viertel an, überhaupt keinen Alkohol zu trinken. Knapp
die Hälfte tankt den Stoff an jedem Wochenende. Am liebsten trinkt
man in der Familie oder im Freundeskreis. Aber in den nach Feierabend
entvölkerten Straßen von Rostock, Erfurt oder Halle ist das
Problem nicht zu übersehen: Belebt werden die Bürgersteige dann
meist nur noch von Angetrunkenen.
Die SED hat inzwischen Anti-Suff-Kampagnen gestartet, um den volkswirtschaftlichen
Schaden einzudämmen. Die Psychiatrien in den staatlichen Krankenhäusern
sind überfüllt. In den Nervenkliniken der Bezirke trifft man
sich zur früher im Sozialismus verpönten Gruppentherapie nach
westlichem Muster.
"Das sind die Kosten für diese ewige Schizophrenie, das ständige
Doppelleben", sagt ein bekannter Filmemacher, um gleich anschließend
seine Gäste zu fragen: "Einen nehm' wir doch noch?"
Konzertbesucher in Ost-Berlin**: Auffallen im Einheitsgrau |
Wie diese Nischenmentalität funktioniert, hat die
frühere Redakteurin des Ost-Berliner Kulturblatts "Sonntag",
Irene Böhme**, beschrieben. Mit "vier abgegriffenen Münzen"
vergleicht sie die "sozialistischen Spielregeln":
- der graue Markt, auf dem privat ein großer Teil der materiellen
Versorgung geregelt wird;
- der klassengerechte "Stammbaum", der beim sozialen Aufstieg
mitentscheidet;
- die von Partei und Volk hochgeschätzte "Bildung", Vorbedingung
für den Karrierestart;
- die vorzeigbare "Gesinnung".
Diese Normen waren einmal ein Fortschritt, waren überschaubare Instrumente
gegen die Willkür des Stalinismus. Den aber kennen die Kids von heute
nicht mehr aus eigener Erfahrung. Sie reiben sich an dem, was danach gewachsen
ist, sie verachten "die Maske, die keiner abnimmt" - Kommunikation
kaputt.
Die Erfahrung, sich in der Öffentlichkeit ewig maskieren zu müssen,
ist ihnen allen gemeinsam - dem pazifistischen Schüler und dem rotzigen
Punker, dem frommen Jung-Gemeindler und dem alternativen Töpfer,
dem Liedermacher und dem subkulturellen Literaten.
Die Schule ist eine Maschine, die Politik ist eine Maschine und die Karriere
auch. Wer sie richtig zu bedienen weiß, wer Irene Böhmes "abgegriffene
Münzen" in die richtigen Schlitze steckt, der bekommt, was er
braucht. Und manchmal einen ordentlichen Zuschlag. Lebenstüchtig
ist, wer die realsozialistische Grundregel beherrscht: Sag dem Staat,
was er hören will, und greif dir, was du kriegen kannst.
Wenn es einen gemeinsamen Nenner gibt für die unterschiedlichen Formen
des Protests, für das Rumoren in der DDR-Jugend, dann ist es das
Unbehagen an diesem Doppelleben.
Die FDJ verbreitet, in der 1982 erschienenen Broschüre "Aus
erster Hand. Junge Leute in der DDR", einen solchen Generationskonflikt
gebe es nicht. Die SED-Jugendorganisation hat damit sogar, wenn auch unbeabsichtigt,
recht: Die Verschiebung der gesellschaftlichen Wertvorstellungen gibt
mehr Zündstoff her als für einen nur kurzlebigen Streit zwischen
jung und alt.
Rockkonzert am Prenzlauer Berg: "Schnee fällt auf
dieses todlangweilige Land' |
Zwar ziehen die meisten Familien die Notbremse, seitdem
die Kinder massenhaft die Termine der Christenjugend frequentieren, rücken
verängstigte Mütter und saure Väter den Pfarrern und Gemeindearbeitern
auf die Bude. "Seit mein Sohn zu Ihrer Jungen Gemeinde geht, Herr
Pfarrer, hat er dauernd Ärger mit seinem Staatsbürgerkundelehrer",
klagt ein Vater. Und eine Mutter kündigt an: "Wenn das nicht
aufhört mit Ihren Politabenden, verbiete ich meiner Bettina, weiter
da hinzugehen."
Doch was da rumort, treibt auch manchen Alten um: Das Unbehagen der Jungen
steckt an, der Bazillus macht auch vor Schrankwänden nicht halt.
Ein Wohnzimmer in Weimar. Die erste Kiste Radeberger Pils ist schon leer,
allmählich fallen die Meinungshüllen. Die Gastgeberin hat Sorgen.
Ihr Mann, ein geachtetes und gutbezahltes Glied der Gesellschaft, sei
verrückt geworden: "Zur Reservistenübung will er nicht
einrücken, stellt euch mal vor, was das heißt!"
Vor zwei Jahren war er noch hingegangen, maulend zwar wie alle, aber doch
selbstverständlich wie alle. Nun sitzt er auf dem Sofa und betrachtet
milde lächelnd seine hysterische Frau und die erschrockene Freundesrunde.
Ja, er denke da an so ein paar amerikanische Filme, da sei das beschrieben,
wie ihm zumute sei: "Irgendwann sagt ein Mann nein'. Stellt
sich gegen alle anderen und geht seinen Weg."
Sicher, er könnte auch weitermachen wie bisher. Der Einkauf im Exquisit-Shop
ist immer drin, er liebt sein Hobby, fährt zweimal pro Jahr "anständig
in Urlaub". Die Frau ergänzt: "Und jetzt haben sie ihm
auch noch geflüstert, daß er bei der Reserveübung im Sommer
einen ganz bequemen Job haben kann!"
Und nun das, ein Verweigerer in der Familie. Die Gastgeberin blickt sich
hilfesuchend um: "Sagt ihr doch was, ist das nicht Wahnsinn?"
Vor einer Stunde hatte sie noch ganz anders geredet, als ein junger Pfarrer
in der Runde für Veränderung in kleinen Schritten plädierte.
Ein Onkel, so erzählte der Geistliche, habe sich in seinem Betrieb
als überzeugter Christ standhaft geweigert, der Partei beizutreten,
auch dem Druck des Kaderleiters habe er widerstanden. Die Kollegen hätten
das schließlich geschluckt. Wenn bloß einer mal Haltung zeige,
so der Pfarrer, dann könne das viel bewegen.
Dem Hausherrn hatte die Geschichte gefallen, die Gastgeberin aber hatte
dem Theologen vorgehalten: "Woher du bloß deine ewige Geduld
nimmst", nein, das bringe sie nicht fertig, so könne gar nichts
vorangehen.
Als es dann um ihren eigenen Mann, den Reservedienst-Verweigerer, geht,
ist es vorbei mit den starken Worten.
Das ist es, was DDR-Jugendliche abstößt von der älteren
Generation: das Nebeneinander von griesgrämiger Dauernörgelei
im privaten Kreis und tadellosem Wohlverhalten in der Öffentlichkeit.
Die Alten haben den Jungen wenig gegeben, worauf sie stolz sein könnten.
Die in Westneid und Opportunismus erstickte Selbstachtung wollen sie sich
jetzt zurückholen.
Die meisten, die sich öffentlich als Bürgerschreck, Umweltschützer
oder Pazifisten, als Diener oder als junge Christen bekennen, bezeichnen
sich demonstrativ als DDR-Bürger. West-Voyeure mögen sie nicht
besonders, und außer Landes zu gehen empfinden sie meist als Schande
- egal ob freiwillig oder gezwungen. Die aus Ost-Berlin, Jena und andernorts
Ausgebürgerten, die jetzt in West-Berlin leben, fühlen sich
als Exilanten und trauern zwar nicht ihrem Staat, wohl aber ihrem Land
nach.
Die Ost-Berliner Rockgruppe "Pankow" antwortete auf die Frage,
ob sie mit ihren rotzigen Texten wie "Komm aus dem Arsch" die
Gleichaltrigen zum Aussteigen oder zum Einsteigen bewegen wolle, mit einer
Umwertung dieser westlichen Begriffe: "Es gibt bei uns einen Hang
vieler Leute, wie du sagst, auszusteigen. Aber nicht in dem Sinne, wie
es im Westen ist: also nicht arbeiten gehen. Die Leute hier steigen aus,
indem sie sich privatisieren, indem sie den Job machen, da sind, ihn erfüllen
und dann nach Hause gehen, und dann geht ihre Welt los samt Fernseher
und Freizeithobbys. Das hat auch seine Ursachen. Wir finden das unheimlich
bedrückend, daß sich zu wenig Leute verantwortlich fühlen,
wie sie leben, und Mut haben, gegen das, was sie stört, vorzugehen
und einfach aktiver leben."
Die Aussteiger - das sind all die Normalen.
* Aus der Textsammlung: "VEB Nachwuchs. Jugend in der DDR".
Rororo, Reinbek bei Hamburg; 1983; 9.80 Mark.
** Im August 1983, beim Punk-Konzert im Ost-Berliner Bezirk Prenzlauer
Berg.
*** Irene Böhme, "Die da drüben". Rotbuch Verlag,
Berlin; 126 Seiten; neun Mark.
(Quelle: DER SPIEGEL 40/1983)
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