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Die algerischen Musikszene hat einen hohen Blutzoll zahlen müssen, wie auch die Kulturszene in Algerien insgesamt. Mehrere bekannte Stars wurden in dem jahrelangen Bürgerkrieg in Algerien ermordet, wobei unklar ist, ob die Täter bei den islamistischen Terroristen oder bei den staatlichen Mörderkommandos zu suchen sind. Beide Seiten hatten Interesse an der Liquidierung von Künstlern und Journalisten, die ihnen in Quere kamen. Bekannt ist Algerien für die Rai-Musik. Ihre Geburtsstätte liegt in Oran, doch das heutige Zentrum ist Paris, wohin viele Musik geflüchtet sind. Der Raï gehört zur algerischen und nordmarokkanischen Musiktradition. Zum Teil wird er in vertrackten, ungeraden Rhythmen wie 5/8, 7/8 und 9/8 gespielt. ![]() Der Rai-Sänger Cheb Hasni (bürgerlich Hasni Chekroun) wurde am 29.9.1994 im Alter von 26 Jahren in Oran auf offener Straße von "Terroristen" ermordet, 4 Tage nach der Entführung von Matoub Lounès. Er war den Islamisten als Exponent der verhassten Rai-Musik ein Dorn im Auge. Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, daß die Täter Angehörige einer staatlichen Terroreinheit waren. Schließlich waren die Raimusiker schon lange Opfer der staatlichen Zensur. ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() Hasni, der Julio Iglesias des Rai, wurde am 1.2.1968 geboren. Sein Künstlername "Cheb" steht für jung, aber auch sexy (die Rai-Sängerinnen nennen sich oft "Chaba", was das gleiche in weiblich bedeutet) und ist damit typisch für den Stil des Rai, der die Gefühle von Jugend, Verzweiflung und Sehnsucht nach einem neuen Leben in Algerien ausdrückt. Bereits der Name Rai ist Programm: "Ya Rai" - "Ich sage meine Meinung". Auch wenn die Lieder der meisten Rai-Interpreten unpolitisch von Liebe und Alltag handeln, ist doch schon das ist der Islamischen Heilsfront (FIS) ein Dorn im Auge. 75 Prozent der Algerier sind unter 30, vor allem aus ihnen hat die FIS vor den Wahlen von 1991 ihre Anhänger rekrutiert: den Verlierern einer gescheiterten Bildungsreform und einer überstürzten Arabisierungspolitik, denen selbst der Schulabschluß nur den Zugang zu Arbeitslosigkeit und Langeweile eröffnet. Doch der "nordafrikanische Rock 'n' Roll" und seine Protagonisten waren wegen der "anrüchigen" Texte schon in den Achtzigern unter dem Regime der damaligen Einheitspartei FLN in Algerien zunächst verboten. ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() Hasni repräsentierte nicht nur die äußerst populäre Stilrichtung des Rai Love, in der sehr frei über Liebe und Sex gesungen wird, er formulierte auch politische Forderungen, was ihn sowohl zum Dorn im Auge der Islamisten als auch dem der Regierung machte. In seinem Stück "Die Geliebte sehen" heißt es: "Ich möchte die Geliebte sehen / Seid gerecht, ihr habt mich schikaniert / Ihr habt mir selbst für das Visum Steine in den Weg gelegt / Ihr habt entschieden, mich zu töten / Ich habe Lust, mich zu betrinken, um mich nicht mehr kontrollieren zu müssen / Warum das alles? Ich besitze einen gültigen Paß / Ich habe nicht die Absicht, Ärger zu machen." ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() Botschaften, die sich per Musikkassette 1992 innerhalb weniger Tage über 250.000mal verkauften und zur Folge hatten, daß "Die Geliebte sehen" vom Publikum in "Visa" umgetauft wurde. In einem anderen Song von Cheb Hasni heißt es: "Mein Schicksal ist nicht hier / Unser Land ist von einem Grollen durchzogen / Würde es hier laufen, würde ich nicht woanders hineilen... / Laßt mich gehen / Die Welt ist groß / Ich bin euer Bruder / Aber die Zukunft ist hinüber." ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() Cheb Hasni machte ein Land zum Thema, in dem Konflikte niedergehalten werden, er sang über eine blockierte Bevölkerungsmehrheit, die nur im Exil noch eine Zukunft sah. Der Mord an ihm tötete mehr als einen populären Sänger: In Algerien brachte er den Rai fast endgültig zum Verstummen, in Frankreich jedoch entstand ein neuer Musikstil: der Rai du Message, der Rai mit Botschaft. ![]() ![]() ![]() ![]() "Die Ermordung Cheb Hasnis veränderte die Texte, verwandelte die Rai-Szene in eine Protestbewegung", sagt der Schriftsteller Aziz Chouaki, der bis zu seiner Emigration im Jahre 1992 in Oran einen Musikclub betrieb: "Anfang der achtziger Jahre drehten sich die Texte des Rai lediglich um Sex, Alkohol und Freiheit. Heute existiert ein neues Bewußtsein. Und zwar aufgrund der Dinge, die im Zusammenhang mit dem Islamismus geschehen sind. Man begreift sich als Teil des Ganzen, bezieht Position."
Zum anhören: 31 Real Audios bei Radio Casablanca (Real Audio | Real Audio | Real Audio | Real Audio | Real Audio | Real Audio | Real Audio | Real Audio | Real Audio | Real Audio | Real Audio | Real Audio | Real Audio | Real Audio | Real Audio | Real Audio | Real Audio | Real Audio | Real Audio | Real Audio | Real Audio | Real Audio | Real Audio | Real Audio | Real Audio | Real Audio | Real Audio | Real Audio | Real Audio | Real Audio | Real Audio) |
© 03-01-2001 by Martin Fuchs / Mehr Tote? / Zurück zu den Lebenden?