Erik Satie, Selbstportrait

ERIK SATIE
Saties Relevanz steht überhaupt nicht zur Diskussion. Er ist einfach unentbehrlich.
John Cage

"Erik Satie ist der Musiker von Sâr Péladan und Rose + Croix. Er ist völlig verrückt. Er hat überhaupt noch nichts geleistet!" So qualifizierte Emile Pessard, Dozent am Pariser Konservatorium, Satie in einem Brief an die Académie des Beaux Arts. Wie Pessard hatte sich Satie, der sich nichts sehnlicher wünschte als Anerkennung, um einen vakanten Posten an diesem Institut beworben. Entgegen der Behauptung Pessards hatte Satie zu dieser Zeit bereits einen wichtigen Teil seines Oeuvres vollendet, darunter die ‘Sarabandes’, ‘Gymnopédies’ und die ersten fünf ‘Gnossiennes’: die Basis seiner heutigen Berühmtheit. Zu dieser Zeit ging die Anerkennung seines widerborstigen Genies allerdings nicht über das literarische Café ‘Le Chat Noir’ und die Gesellschaft Rose + Croix von Sâr Péladan hinaus.

Satie wird, heute wie damals, vor allem als Clown, als ‘blagueur‘ (Witzbold) angesehen. Schuld hieran ist nicht zuletzt der Komponist selber, der seine ihm eigene, charmante Ironie geradezu als Markenzeichen führte. Diese Selbstdarstellung des Komponisten überschattet allerdings die wirkliche Bedeutung des scharfsinnigen Chronisten des Pariser ‘fin de siècle‘.

Eric Alfred Leslie Satie wurde im Jahre 1866 geboren. Nach dem Tode seiner Mutter Jane Leslie Anton im Jahre 1876 besuchte er ein Internat in seinem Geburtsort Honfleur. Satie War alles andere als ein guter Schüler: nur im Fach Gesang wird sein Name in positivem Sinne erwähnt. Von 1976 an erhielt Erik Satie (das ‘c‘ in seinem Vornamen veränderte er im Alter von einundzwanzig Jahren in ein ‘k‘) Musikunterricht von dem Organisten Vinot, der in seinem Schüler die Liebe zum Gregorianischen Gesang erweckte. Saties Stiefmutter Eugénie Barnetsche‘ eine Musiklehrerin und Komponistin von Salonstücken, erkannte die musikalische Begabung ihres Stiefsohnes und meldete ihn im Jahre 1879 beim Conservatoire National de Musique et de Déclamation an. Nach einem erfolglosen Studium - verschiedene Prüfungsausschüsse fanden ihn faul und mittelmäßig und nannten sein Klavierspiel miserabel - verließ er dieses Institut 1886 zwar ohne Abschluss, dafür erfüllt mit Hass gegen die ‘vulgäre‘ Kunst die hier gelehrt wurde.

Als Reaktion auf diese frustrierene Periode meldete Satie sich freiwillig zum Militär. Obwohl ergenügend Zeit fand um Romane von Gustave Flaubert und Joseph Aimé Péladan (dem späteren Sâr) zu lesen, erkannte er seinen Schritt schon bald als Irrtum. Die einzige reale Möglichkeit, vorzeitig aus dem militärischen Dienst entlassen zu werden, bestand darin, krank zu werden. Nachdem Satie während einer kalten Winternacht mit bloßem Oberkörper im Freien herumgelaufen war bekam er eine Bronchitis, auf Grund derer er zwar tatsächlich aus dem Militär entlassen wurde, die ihm aber zeitlebens schwer zu schaffen machte. Nach seiner offiziellen Entlassung aus dem Militär suchte Satie sein Heil zwischen den Pariser Bohémiens. Er wurde Stammgast im ‘Le Chat Noir‘, dem wohl berühmtesten der Pariser literarischen Cafés, wo er sehr bald zum lebenden Inventar gehörte. Er begann ein Air von Frömmigkeit um sich hin zu verbreiten, hielt Reden über Religion und kleidete sich ärmlich, was ihm den Beinamen ‘Monsieur Pauvre‘ eintrug. Endlich hatte Satie seine Rolle gefunden: der komponierende Exzentriker.

Als ‘guten‘ Komponisten im Sinne der klassischen westeuropäischen Musik kann man Satie sicherlich nicht bezeichnen. Dies wird bereits in einem Allegro fragment aus dem Jahre 1884, der frühsten bekannten Skizze von Saties Hand, deutlich. Auch ’Valse ballet op. 62’(!) und ’Fantaisie-valse’ (1885) verraten Saties Probleme mit den seit zwei Jahrhunderten vorherrschenden Kompositionstechniken abendländischer Musik, der Variationstechnik und der Entwicklungstechnik. Die soeben erwähnten Kompositionen wurden im Jahre 1885 durch Zutun von Saties Vater Musikverleger und Komponist von leichter Musik, in der Zeitschrift ‘La Musique des Familles’ veröffentlicht. Sie sind im selben Salonstil geschrieben, in dem sein Vater und seine Stiefmutter ihre Chansons zu schreiben pflegten.

Satie, der weder vorbelastet war von Wagnerscher Tradition, noch beeinflusst durch den gerade aufblühenden französischen Nationalstil mit César Franck an der Spitze, machte von der Not eine Tugend und verblüffte im Jahre 1887 seine Zuhörer im ’Le Chat Noir‘ mit vier ’Ogives’ (gotische Spitzbögen) und den im selben Jahr entstandenen ‘Sarabandes’. Die vier ’Ogives’ stammten aus dem Jahre 1886 und waren stark von seinen Studien der gregorianischen Musik beeinflusst. Im Jahre 1916 bemerkte der Musikkritiker Henri Collet, dass die ’Sarabandes’ Elemente einer großen musikalischen Revolution in sich trügen. Die unvorbereiteten und unaufgelösten Septim- ­und Nonenakkorde, sowie die schwebende modale Melodik waren eine Absage an den vorherrschenden Wagnerismus dieser Zeit und ein Meilenstein in der Entwicklung der französischen Musik. Von den im Jahre 1911 publizierten ‘Sarabandes’ ist die Zweite Maurice Ravel gewidmet, der dieses Werk, sowie Gymnopédie Nr. 3 anlässlich eines Konzertes der Société Musicale lndépendante auch wirklich aufführte.

Obwohl Satie eigenen Angaben zufolge zu den drei ‘Gymnopédies’ durch Flauberts Roman ’Salammbô’ inspiriert wurde, war der konkrete Anlass hierfür Saties erster Kontakt mit ’Le Chat Noir‘. Nach der Überlieferung soll Satie sich bei dem damaligen Direktor Rodolphe Salis als ’Gymnopädist’ vorgestellt haben, woraufhin Salis geantwortet haben soll: "Was für ein schöner Beruf!" Wie dem auch sei, die ‘Gymnopédies‘ zählen heute zu Saties bekanntesten Werken. Der Name ‘Gymnopédie’ ist wahrscheinlich von dem altgriechischen Gymnopædiafest zu Ehren des Gottes Apollon abgeleitet, auf dem nackte Jünglinge zu den Klängen von Flöte und Leier tanzten. Die drei ‘Gymnopédies’ fallen in die Zeit der "neogrec", die sich der Antike zuwandte, und wurden später von Debussy und Roland-Manuel orchestriert.

Obwohl die ’Gnossiennes‘ nicht so populär geworden sind wie die ’Gymnopédies‘, sind diese viel weitreichender und kennzeichnender für den Komponisten Satie. Wie schon in seinem Lied ’Sylvie‘ und den vier ‘Ogives‘ notiert Satie keine Taktstriche. Noch konsequenter als in den ’Gymnopédies‘ wird in den ’Gnossiennes‘ die ständige Widerholung eines Melodiefragmentes zum kompositorischen Prinzip erhoben. Nur die 1968 von Robert Caby herausgegebene fünfte ’Gnossienne‘ weicht von diesem Prinzip ab. Die reich verzierten, fließenden melodischen Linien haben eher den Charakter einer Satie-esken Version eines Nocturnes von Chopin, einer der wenigen Pianisten/Komponisten, die in Saties kritischen Augen Gnade finden konnte. Satie schrieb dieses Werk unter dem Einfluss der exotischen Musik (Gamelan und rumänische Folklore), die er während der Pariser Weltausstellung gehört hatte.

Mit der vierten, von Caby entdeckten und von ihm so genannten ’Gnossienne’ - das Manuskript trägt den Titel ’Lent‘ - sind wir in einer neuen Periode von Saties Schaffen angelangt. Dieses Werk entstand zwei Tage nach dem am 20. Januar 1891 geschriebenen ’Première pensée Rose + Croix‘. Es ist die Zeit in der sich Satie der Rosenkreuzlerbewegung von Sâr Péladan anschließt, die Zeit der ersten öffentlichen Aufführungen seiner Werke während der Musik- und Malereiabenden im ‘Salon de Peinture Rose + Croix‘, die Zeit in der Satie einigen Erfolg hat mit seinem Vorspiel zu Péladans ’Le Fils des étoiles‘. Es ist die Zeit, in der Satie einiges Ansehen genießt, nicht zuletzt wegen seines eindrucksvollen Titels: ’Maître de Chapelle de Tiers Ordre esthétique de la Rose + Croix catholique du Temple et du Gral‘.

"Monsieur, ich bin höchst befremdet darüber, dass ausgerechnet ich, ein armer Mensch, der nichts anderes im Kopfe hat, als seine Kunst. ständig als der musikalische Jünger von Herrn Josephin Péladan angesehen w/erde. Dies ist für mich um so schmerzlicher als, dass wenn ich mich überhaupt als Schüler von irgendjemandem bezeichnen wollte, dieser niemand anderer wäre als ich selbst!"

Diese Zeilen schrieb Satie, tief gekränkt, an den Redakteur des Blattes Gil Blas, M. Gaultier Garguille. Die Erfolge der ersten Musikabende im Salon de Peinture Rose + Cruix. wo die Rosenkreuzler ihre Zusammenkünfte abhielten, hatten zwar die Aufmerksamkeit der Musikpresse geweckt, aber hatten gleichzeitig Saties Namen unlöslich mit der Gedankenwelt von Péladan verbunden. Dies ging dem sechsundzwanzigjährigen Satie, dem gerade seine ’künstlerische Unabhängigkeit‘ so teuer war, viel zu weit Mit einem offenen Brief, indem er sein ‘Credo‘ aus einander ­setzte, nahm er Abschied von Péladan und dessen Gedankenwelt. Dazu kam, dass Péladan sich immer mehr in Saties musikalische Angelegenheiten einmischte. So zum Beispiel durfte ‘Sonneries de la Rose + Croix‘ auf ausdrückliche Anordnung von Péladan nur während Zusammenkünften des Bundes gespielt werden.

Nach seinem Bruch mit Péladan war Saties Interesse am Mystischen keineswegs erloschen. Im Gegenteil: ergründete seine eigene ‘Eglise Métropolitaine d’Art’, keinem Geringeren gewidmet als Jésus Conducteur. In ihrer hierarchischen Struktur war die Kirche konzipiert für Hunderte von Millionen von Mitgliedern! Nichts als eine groteske Karikatur des Rosenkreuzler Bundes? Größenwahn? Wie auch immer - in ihrer Glanzzeit hatte die Kirche nur ein einziges Mitglied - Satie selber. Dafür war er dann auch ‘Parcier et Maître de Chapelle‘. In dieser Eigenschaft schlug er so ziemlich jeden in Acht und Bann, der nicht den Ideen seines Weltbildes entsprach. Dies bekam auch der Pariser Impressario Aurélien Lugné-Poe zu spüren, der es gewagt hatte, ein uraltes Sanskritdrama in einer freien Bearbeitung mit einem Bühnenbild von Toulouse-Lautrec auf die Bühne zu bringen. Satie: "Sie bringen völlig wertlose Stücke unter dem Deckmantel von Talent. Damit betrügen Sie nicht nur diejenigen, die Sie eigentlich geistig bereichern sollten, sondern Sie sind hiermit auch eine der Ursachen für den ästhetischen und moralischen Verfall unserer Zeit! Sie laden eine sehr große Schuld auf sich."

Seine fiktive Kirche bot Satie die Möglichkeit, zu jedem beliebigen Zeitpunkt in die Schlagzeilen zu kommen. Sein eigenes (Kirchen)Blatt ‘Cartulaire‘ benutzte er als Medium zu Angriffen auf alles was ihm nicht passte und zur Publikation von ‘aktuellen‘ Berichten, die weniger mit der Wirklichkeit, als mit Wunschbildern Saties zu tun hatten. So berichtete das Blatt im Jahre 1895, dass das Ballett ‘Uspud‘, nach einem Szenario von Contamine de Latour und mit Musik von Satie, am 20. Dezember 1892 in der Pariser Opéra uraufgeführt worden sei. Tatsächlich war dies jedoch das Datum, an welchem Satie dem Direktor der Opéra sein Stück zur Beurteilung geschickt hatte. Es war der Auftakt zu einem ordentlichen Streites, der sich ziemlich lange hinzog und von dem einige gesalzene Briefe aus Saties Feder erhalten geblieben sind, mit dem Resultat, dass das Stück nichtaufgeführt wurde. Erst rund 1895 tauchen einige Musikfragmente von ‘Uspud‘ in ‘Cartulaire‘ auf. ‘Uspud‘ hat, wie die kurz zuvor geschriebenen ‘Quatre Préludes’ noch alle Kennzeichen der Rose + Croix - Periode: scheinbar willkürliche Aneinanderreihungen von Septim-, Nonen- und Undezimakkorden, abgewechselt mit einstimmigen, fanfareartigen Passagen und Fragmenten einer Art ‘Begleit-Gregorianik’, die bereits in den ‘Ogives‘ (1886) verwendet wurden.

Das auffallendste an ‘Uspud’ ist jedoch, dass die Musik in keinerlei Beziehung zu den Ereignissen auf der Bühne steht. Inhaltlich ist das Stück eine wahnsinnige Phantasmagorie des ungläubigen Uspud, der durch göttliche Stimmen zum Märtyrer auserkoren wird. Eine derart weitgehende Unabhängigkeit von Musik und Tanz sollte erst ungefähr fünfzig Jahre später von John Cage und Merce Cunningham weiterentwickelt werden!

Auch die ‘Danses Gotiques‘ (Gothische Tänze) und das ‘Prélude de La Porte héroîque du ciel‘ (Prélude vor der heroischen Himmelspforte) sind typische Beispiele aus Saties mystischer Periode. Die ‘Danses Gotiques‘ haben den Untertitel ‘Neuvaine pour Ie plus grand calme et la forte tranquillité de mon âme’ (Noveen für die größte Stille und starke Ruhe meiner Seele‘ und die einzelnen Stücke haben so vielsagende Überschriften wie ‘A I‘occasion d‘une grande peine‘ (Anlässlich eines großen Schmerzes), ‘En faveur d‘un malheureux‘ (Zu Gunsten eines Unglücklichen) und ’Après avoir la remise de ses fautes‘ (Nach Vergebung der Fehler). Satie schrieb dieses ‘besondere Gebet‘ während seiner kurzen, aber stürmischen Liebesaffäre mit der Malerin Suzanne Valadon, der Mutter von Maurice Utrillo. Die beiden waren sich am 14. Januar 1893 zum ersten Mal begegnet. In der selben Nacht machte Satie seiner Geliebten einen Heiratsantrag, Satie äußerte später, dass dies natürlich der ungeeignetste Zeitpunkt war um zum Standesamt zu gehen. Da Suzanne in der Zeit danach alles andere im Kopf hatte, als eine Heirat, kam dieses Thema auch nie mehr zur Sprache, und ihre Beziehung endete im Juli desselben Jahres.

Das ‘Prélude de La Porte héroîque du ciel‘ schrieb Satie als Vorspiel zu einem ‘esotherischen Drama‘ des Mystikers und Dichters Jules Bois. Dieses Prélude ist mit seiner stringenten Motivordnung und seinen quasi-tonalen Kadenzen das wahrscheinlich ansprechendste Stück aus Saties mystischer Periode. Offenbar war dies auch die Meinung des Komponisten: mit einem ironischen Hinweis auf seine religiösen Aktivitäten widmete er das Stück sich selber.

"Um dieses Motiv 840 Malhintereinander zu spielen, ist es am besten, sich in größt möglicher Stille und mit ernsthafter Unbeweglichkeit darauf vorzubereiten." Mit diesen kaum ernst zu nehmenden Worten erhob Satie seine ‘Vexations‘ (Neckereien) zu einem Mythos. ‘Vexations‘ ist ein kleines Stück aus den ‘Pages mystiques‘ - skizzenhafte harmonische Studien im Stile Saties religiöser Werke. Das Fragment besteht aus einer chromatisch gefärbten Melodie von nicht mehr als dreizehn Takten, teilweise unterlegt mit einigen verminderten, sowie übermäßigen Dreiklängen. Für sich selbst genommen stellt dieses Fragment eine Art religiöser Meditation dar gleich dem -milderen - ‘Prière‘ (Gebet) aus dem gleichen Bündel. Aber durch seine beinahe unendliche Wiederholung wird es zu einem ewigen Klang, zu einem Teil der Umgebung. In diesem Sinne könnte man es als Gegenpol zu der berühmt -berüchtigten komponierten Stille des Stückes ‘4:33‘ von John Cage betrachten.

Es ist auch kein Zufall, dass ausgerechnet John Cage für die Publikation in der französischen Zeitschrift ‘Contrepoints’ in Jahre 1949, sowie für die Iegendarische integrale Aufführung 1963 in New York, verantwortlich war. Bei der achtzehnstündigen Aufführung des Stückes wechselten zehn Pianisten einander ständig ab, gleich einer rituellen Kulthandlung. Dieses ‘Konzert‘ ist auch im ‘Guinness Book of Records‘ erwähnt.

Mit der ‘Messe des pauvres (Grande Messe de l‘Eglise Métropolitaine d‘Art)‘ aus den Jahren 1893-1895, schrieb ‘Monsieur le Pauvre‘ (Satie) sein letztes Werk religiösen Charakters. Diese Messe für Orgel, Jungen- und Männerchor, die übrigens auch in einer Version für Klavier solo existiert, hält sich nur im kurzen Kyrie eleison an das traditionelle Schema. Danach kommt sofort wieder der unverbesserliche Ironiker und Zyniker Satie zum Vorschein. Zum Beispiel mit dem ellenlangen Titel ‘Prière pour les voyageurs et les marins en danger de mort à Ia très bonne et très auguste Vièrge Marie, mère de Jésus‘ (Gebet für die Reisenden und Matrosen in Lebensgefahr an die liebe, erlauchte Jungfrau Maria, Mutter des Heilands), der beinahe genau so lang ist wie das Stück selber. Auch der letzte Teil, ‘Prière pour Ie salut de mon âme‘ (Gebet für Gesundheit meines Geistes), lässt zumindest Zweifel an der Echtheit seiner mystischen Gefühle aufkommen. Die rätselhaften Aufführungsvorschriften, wie zum Beispiel ’sehr christlich‘ und ‘beinahe unsichtbar’, die er bereits seit seinen ‘Gymnopédies‘ verwendete, machen die Sache auch nicht glaubwürdiger. Für den Schriftsteller Francis Jourdain jedenfalls war Satie mehr ein Witzbold als ein Musiker. Nach seiner Meinung war der ‘practical joke‘ das einzige, dass Satie ernst nahm. Saties trockene Antwort auf derlei Anwürfe war: "Ich bin kein Witzbold und wünsche auch keiner zu sein!"

Aus heutiger Sicht scheint es, dass Satie recht behalten hat. Mit seinem Einfluss auf Debussy, Ravel und die Gruppe ‘Les Six‘ ist er ein regelrechter Trendsetter geworden. Es zeugt von seiner musikalischen Universalität, dass er so entgegengesetzte Geisteswelten, wie die von John Cage, den er mit seinem relativierenden Blick auf die Musik inspirieren konnte, und anderseits mit seinen schwermütigen, reich gefärbten, mystischen Harmonien, mit denen er späteren, katholisch orientierten Komponisten, wie Jean Langlais, Jehan Alain und Olivier Messiaen den Weg wies, nachhaltig zu beeinflussen vermochte.

Satie war in ständiger Erneuerung begriffen. Kaum war seine eigene ‘Kirche‘ gegründet, drehte sich die Wetterfahne seines Interesses auch schon um hundertachtzig Grad. Was sein Interesse jetzt fesselte, war die Welt des Kabaretts. Es war die Rückkehr in die Welt, in derer musikalisch eigentlich wurzelte, obgleich dies nicht die produktivste Epoche gewesen war. Er war beinahe täglich - meistens in Begleitung seiner Freunde Augustin Grass-­Mick, dem Karikaturisten, und Henry Pacory, dem Verfasser seines valse chantée ‘Je te veux’, auf dem Montmartre an zu treffen. Hier, im Paradiese der echten Bohémiens, bestand die Hauptbe­schäftigung Saties und seiner Genossen im Wesentlichen aus Essen und Trinken. Dass das Komponieren dabei viel zu kurz kam, beweist Saties Werkeverzeichnis: im Jahre 1896 hat Satie kein einziges Stück veröffentlicht.

Nachdem Satie sein Geld bis auf den letzte Centime ausgegeben hatte, heuerte er als Klavierbegleiter bei dem Varietéartisten Vincent Hyspa an. Diese Arbeit wirkte auf Satie offensichtlich so inspirierend, dass er wieder zur Feder griff und zu komponieren begann: die ‘Gnossiennes‘ Nr. 6 und Nr. 7 und ‘Danse de travers‘ und ‘Caresse’, Stücke, die in ihrem Stil zurückgreifen auf die ‘Gymnopédies‘ und die frühen ‘Gnossiennes‘. Diese Stücke wurden erst zu Beginn der Siebziger Jahre veröffentlicht.

Wirklich berühmt wurde nur das bereits erwähnte ‘Je te veux’, eine regelrechte Liebeserklärung an das französische Chanson, wovon Satie im Jahre 1904 auch eine Klavierversion publizierte. Das dieses Lied so berühmt wurde, verdankte Satie nicht zuletzt der ‘Königin des Englischen Walzers’ Paulette Darty. "Plötzlich hörte ich den Walzer ‘Je te veux‘ " erinnert sie sich später. "Satie hatte sich ganz einfach ans Klavier gesetzt und M. Bellon sang. Es klang so außergewöhnlich charmant und hinreißend, dass ich sogleich einen Mantel überzog und zu Monsieur Satie eilte, um ihm zu sagen, wie begeistert ich von seinem Stück war. Er setzte sich wieder an das Klavier und diesmal sang ich. Ich sang zum ersten Mal ‘Je te veux’, und seitdem habe ich es unzählige Male mit großem Erfolg gesungen.‘

"Mein lieber Tiby, ich bin völlig ruiniert. Nicht Fortuna wird mir fortan Gesellschaft leisten, sondern Armut, die Frau mit den großen Brüsten." Diese deprimierenden Zellen schrieb Satie im Jahre 1896 an seinen Bruder Conrad. Nachdem Satie alles Geld, das er von seinem Vatererhalten hatte, als er nach Paris zog, ausgegeben hatte, klopfte er mehr als einmal bei seinem Bruder um finanzielle Unterstützung an.

Trotzdem sah sich Satie im Laufe des Jahres 1896 gezwungen, die oberste Etage in der Rue Corot Nr. 6 mit einem billigen Kämmerchen -Satie nannte es schmunzelnd ‘Schrank‘- in Parterre zu vertauschen. Die wenigen Besucher mussten über sein Bett hereinkriechen. Der Verschlag war kaum hoch genug, um darin stehen zu können und es war bitter kalt. "Zum Schlafen breitet Satie alle Kleider über sich aus und bleibt bis auf die Schuhe angekleidet‘ berichtet der Schriftsteller Contamine de Latour. Es ist kaum verwunderlich, dass Satie in diesem jämmerlichen Zustand nicht zum Komponieren kommt. Nur die ‘Gnossiennes‘ Nr. 6 und Nr. 7., das Lied ‘Je te veux‘, sowie zwei Bündel von je drei Stücken, ‘Airs à faire fuir‘ (Lieder zum Flüchten) und ‘Danses de travers‘ (Verkehrte Tänze), versammelt unter dem sehr bezeichnenden Namen ‘Pièces froides‘ (Kalte Stücke) .

Im Laufe des Jahres 1898 wurde es Satie deutlich, dass die Verlockungen des Lebens als Bohémien auf Montmartre seinem kompositorischen Schaffen nicht gerade zuträglich waren, und er verließ die Pariser Innenstadt um sich in dem Vorort Arcueil, wo auch die Mieten erheblich niedriger waren, nieder zu lassen. Hier, wo er genügend Platz hatte um sogar zwei Flügel unterzubringen, die er irgendwo günstig erstanden hatte, sollte er bis an sein Lebensende wohnen bleiben. Die zwei Flügel stapelte er übrigens übereinander, wobei er den oberen als Abfalleimer für alle ungeöffnete Post benutzte! Aber Montmartre ließ ihn nie ganz los. Täglich legte er die sechs Kilometerlange Strecke bis zur Pariser Innenstadt, wo er immer noch in Etablissementen wie ‘Le Chat Noir’, ‘Auberge du CIou‘ und ‘Nouvelle Athènes‘ sein Geld als Klavierbegleiter verschiedener Chansonniers verdiente, zu Fuß zurück. Er kehrte meist erst in den frühen Morgenstunden, bewaffnet mit einem Hammer gegen eventuelle Überfälle und leicht schwankend von seiner alkoholischen Wegzehrung nach Hause zurück: eine hagere Gestalt, mit Zwicker, einem fahlen flächsernen Spitzbart und seit seiner religiösen Periode in denselben düsteren Veloursrock gehüllt.

Da Satie es nicht der Mühe wert fand die einigen wenigen Kompositionen aus dieser Periode zu veröffentlichen, blieb dies Robert Caby, einem Kollegen, mit dem er bis zum Ende seines Lebens in engem Kontakt stand, in den siebziger Jahren unseres Jahrhunderts vorbehalten. Es sind Studien, die einerseits an die Periode des Rose + Croix erinnern: ‘Rêverie du pauvre (Träume eines Armen) und ‘Verset laîque et somptueux‘ (Weltlicher und üppiger Bibelvers). Anderseits sind es Werke die direkt der Welt des Kabaretts, in der Satie täglich verkehrte entsprossen sind. Stücke wie ‘Poudre d’or’, ‘Le Piccadilly’, ‘Petite ouverture à danser’, ‘Petite musique de clown triste‘ und das charmante ‘La diva de l’Empire‘ klingen beinahe wie Ansätze zu Chansons.

Beide Strömungen vereinigen sich in dem ehrgeizigsten Projekt Saties dieser Periode: ‘The Dreamy Fish’. Der englische Titel stammt übrigens von Satie selber. Es handelt sich hierbei um die Vertonung einer Erzählung von Contamine de Latour. Mit diesem Stück probiert Satie, sich selbst seines Mangels an kompositorischer Technik durchaus bewusst, neue Wege einzuschlagen. Unter Verwendung von rätselhaften Akkorden und beinahe ’swingenden‘ Rhythmen versucht Satie ein Stück von längerem Atem zu schreiben, als er es sonst gewöhnt war. Das Ergebnis entsprach jedoch keineswegs den Ansprüchen, die Satie sich selber gestellt hatte; den einzelnen Teilen fehlte jegliche innerer Zusammenhang. Als Claude Debussy (1862-1918) einmal erwähnte, dass den Stücken seines Freundes und Altersgenossen Satie oftmals die Form fehle, muss er zweifellos ‘The Dreamy Fish‘ vor Augen gehabt haben.

Debussy war einer der Wenigen mit denen Satie im stillen Arcueil Kontakt hatte. "Wenn ich Debussy nicht hätte, um über Dinge zu sprechen, die über das Alltägliche hinaus gehen, wüsste ich nicht, wie ich meine Gedanken aus meinem armen Kopf herausbekommen sollte" schrieb Satie seinem Bruder über den ganz in der Nähe wohnenden Komponisten.

Satie nahm sich die Kritik seines Freundes, den er im Jahre 1891 kennen gelernt hatte, zu Herzen. Die Verarbeitung dieser Kritik geschah jedoch auf eine, für Satie so kennzeichnende, ironische Art und Weise. ‘Trois Morceaux en forme de poire’ (Drei Stücke in Birnenform) lautete die meisterhafte Antwort Saties auf Debussys kritische Bemerkungen. Satie bemerkte trocken: "Wenn ein Werk die Form einer Birne hat, ist es nicht mehr formlos!‘ In den ‘Trois Morceaux en forme de poire‘ - in Wirklichkeit handelt es sich, mit allen Vor- und Nachspielen, um sieben Stücke - findet man Anklänge an verschiedene Werke, die Satie im Laufe der Zeit geschrieben hat. So tauchen zum Beispiel im Morceau 2, ‘Enlevé’ zwei Kabarettlieder auf, die Satie für Vincent Hyspa geschrieben hatte: ‘lmpérial Napoléon‘ und ‘Le Veuf‘.

So bilden die ‘Morceaux en forme de poire‘ den Abschluss eines bemerkenswerten musikalischen Werdeganges, dem nun ein noch bemerkenswerterer Schritt folgen sollte: im Jahre 1905 meldete Satie sich bei der konservativsten aller französischen Musikakademien an, bei der von Vincent d‘lndy gegründeten Scola Cantorum. Es ist nicht bekannt, ob dieser Schritt eingegeben war durch Debussys Kritik an den formalen Fertigkeiten Saties, oder ob es der schlichte Wunsch des Komponisten war, endlich einen anerkannten Titel zu erhalten. Wie dem auch sei, der beinahe vierzigjährige Satie hatte es sich in den Kopf gesetzt Kontrapunkt und Komposition zu studieren. Seine Anmeldung motivierte er mit den folgenden Worten: "Ich bin ein armer Künstler, der mit den Widerwärtigkeiten des Lebens kämpft". Der Kompositionslehrer Albert Roussel probierte Satie - vergeblich - mit der scheinheiligen Beteuerung, dass sein bisheriges Werk zeige, dass er hier nichts mehr lernen könne, von seinem Vorhaben abzuhalten. In dieser Zeit schrieb Satie verschiedene Werke, wie zum Beispiel ‘Passacaille’, ‘Prélude en tapisserie‘ (Wandteppich-Prélude) und ‘Douze petit chorals’, in denen sich der Einfluss seines Kontrapunktstudiums deutlich nachweisen lässt. Am 15. Juni1908, zwanzig Jahre nach dem Erscheinen der ‘Gymnopédies’ erhält Satie sein Abschlussdiplom der Scola Cantorum, wodurch er "allen Kriterien genügt, sein zukünftiges Leben dem Komponieren zu widmen".

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Erik Satie, Signatur

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