Musik
entsteht nicht im luftleeren Raum. Musik wird von Menschen gemacht, was eine Banalität
ist. Aber Menschen, die Musik machen, müssen auch von irgendetwas leben.
Auch das ist eine Banalität, die aber bisher in dieser Zeitschrift kaum thematisiert
wurde. Können alle, die auf diesen Seiten auftauchen, von ihrer Musik leben?
Wenn nein, wovon leben sie dann und wie können sie die Notwendigkeit, woanders
ihren Lebensunterhalt zu verdienen, mit der Zeit und Arbeitskraft, die sie in
ihre Kreativität investieren, in Einklang bringen? Und wenn ja, wie gehen
sie mit der ökonomischen Abhängigkeit von ihrer Kreativität um?
Selbst Popgiganten (Giganten nach öffentlicher Aufmerksamkeit, nicht nach
künstlerischer Relevanz) wie Elton John oder Michael Jackson kommen immer
wieder in finanzielle Engpässe. Ständige Medienpräsenz ist da eine
Notwendigkeit, um das Interesse am Künstler und seinen Produkten wachzuhalten
und so den cashflow sicherzustellen. Wer schweigt, der verhungert oder muß
sich einen anderen Job suchen.
XTC sind in diesem Frühjahr nach 7 Jahren
Schweigen mit einer neuen CD namens "Apple Venus Volume 1" an das Licht
der Öffentlichkeit zurückgekehrt. Vielen anderen hätte ein so langes
Schweigen das Genick gebrochen. Doch Andy Partridge und Colin Moulding, die beiden
einzigen verbliebenen Mitglieder der Gruppe, haben eine treue Anhängerschaft,
so daß die Verkaufszahlen der CD die Erwartungen um das Doppelte übertroffen
haben. Zudem haben XTC noch ganz andere Krisen durchgestanden. Auch jetzt ging
wieder etwas schief. Kurz vor Beginn dieser Interviewtour im Februar erwischte
Andy Partridge die Grippe, weshalb Colin Moulding sich allein der Presse stellen
mußte. Das war aber nicht weiter schlimm, denn Colin kommt eher selten in
der Öffentlichkeit zu Wort, und so ergab sich die Möglichkeit, einen
ganz neuen Blickwinkel auf diese einzigartige Band zu gewinnen. Lounge:
Warum hat es so lange gedauert, bis "Apple Venus Volume 1" (Idea Records/Cooking
Vinyl) in die Läden gekommen ist? Colin Moulding: Das ist eine
lange Geschichte. Wenn ich die jetzt von Anfang an erzählen würde, würde
das sehr sehr zynisch klingen. Im Grunde ging es darum, aus dem Vertrag mit Virgin
Records, unserer alten Plattenfirma, herauszukommen. Nach dem Erscheinen von "Nonsuch"
(1992) haben wir erst einmal 2, 3 Jahre lang neue Songs geschrieben. Da wir zudem
mit unserem Vertrag sehr unglücklich waren, sind wir mit den Songs zu Virgin
gegangen und haben sie nach einem gerechteren Vertrag gefragt. Denn im Grunde
waren wir immer noch zu den Vertragsbedingungen von 1977, als wir bei Virgin anfingen,
an die Firma gebunden. Eigentlich haben wir kostenlos für sie gearbeitet. XTC
kamen zu den Zeiten von Punk und New Wave zu ihrem ersten Plattenvertrag, obwohl
sie schon damals nicht so recht in das Klischee passen wollten. Bis Mitte 1981
waren sie ständig entweder auf Tournee oder im Studio und hatten Hits wie
"Making Plans For Nigel" oder "Towers Of London". Nach einer
kleinen Pause landeten sie mit "Senses Working Overtime" und dem Album
"English Settlement" einen weiteren Hit, doch Andy Partridge war zu
diesem Zeitpunkt bereits die Lust auf weitere Tourneen vergangen. Im März
1982 erlitt er während eines Konzerts in Paris einen Zusammenbruch auf offener
Bühne. Damit war das Tourneeleben beendet. Ein halbes Jahr später verabschiedete
sich der Schlagzeuger Terry Chambers nach Australien. Gleichzeitig stellte das
verblieben Trio fest, daß ihr Manager sie die ganzen Jahre ausgenommen hatte.
Zudem hatte er nie anläßlich ihrer Hits den Plattenvertrag nachverhandelt,
wie das sonst so üblich ist. Durch schlechte Anwälte zog sich der nun
folgende Prozeß über Jahre hin. Während dieser Zeit landeten die
Einnahmen aus den bisherigen Platten von XTC auf Sperrkonten. Unter dem dadurch
verursachten finanziellen Druck blieb XTC nichts anders übrig, als den Vertrag
mit Virgin zu den gleichen schlechten Bedingungen zu verlängern. Colin:
Wir waren nie reich und verdienten bis 1992 nichts. Also sagten wir zu Virgin:
Gebt uns einen besseren Vertrag oder wir streiken und ihr kriegt keine neue Platte
von uns. Dazu war Virgin nicht bereit, also sagten wir: Laßt uns raus aus
dem Vertrag. Nach vielen Monaten haben uns dann gehen lassen. Wir brauchten auch
Zeit, um jemanden zu finden, der die neue Platte herausbringt. Den Vertrag mit
Cooking Vinyl schlossen wir dann im Sommer 1997 ab und dazu gründeten wir
unser eigenes Label Idea Records. Zur Sanierung ihrer Finanzen brachten
XTC letztes Jahr die 4-CD-Box "Transistor Blast" mit den besten ihrer
Live- und Studioaufnahmen für die BBC heraus. Im Gespräch ist auch eine
CD-Box mit Demoaufnahmen, aber da dieses Produkt wohl nur Fans interessieren dürfte,
wird die Box möglicherweise nur über das Internet vertrieben. Lounge:
Wie überlebt man eigentlich 7 Jahre ohne eine neue Veröffentlichung
und kaum Einkünften aus dem bisherigen Vertrag? Colin: Was uns
über Wasser gehalten hat war unser Backkatalog. Unser Einkommen reicht, um
die Miete zu bezahlen, aber ohne unsere Plattenverkäufe in den USA in den
letzten 10 Jahren hätten wir uns wirklich Jobs suchen müssen. Es war
oft eng, aber es ging. Lounge: Euer Erfolg in Amerika ist ja merkwürdig,
weil eure Musik doch als sehr britisch empfunden wird. Colin: Du kannst
in den USA gut verdienen und trotzdem unbekannt bleiben. Unsere Platten werden
von Collegekids gekauft, wovon es dort eine Menge gibt. Amerika ist ein großes
Land, also kann man schon beträchtliche Plattenmengen verkaufen und gut verdienen.
Es gibt eine Menge Bands dort, die davon leben, nur an ein bestimmtes Publikum
Platten zu verkaufen, und man muß dazu nicht in den TOP 40-Radiostationen
gespielt werden. In den USA kannst du Geld verdienen und trotzdem eine Undergroundband
bleiben. XTC wurden in den USA 1986 mit dem Song "Dear God" bekannt,
eine Singlerückseite, auf der Andy Partridge Gott auffordert, sich die Menschheit
in ihrem heutigen Zustand anzusehen, und am Ende dem alten Herrn mitteilt, daß
er wegen des ganzen Leids hier unten nicht mehr an ihn glauben würde. Bei
den bigotten Christen kam das garnicht gut an, aber die alternativen Radiostationen
rissen sich um den Song. Sogar für die MTV-Awards wurde "Dear God"
nominiert. 1989 zogen Andy, Colin und Dave mit akustischen Gitarren durch zahlreiche
amerikanische Sender, um live on air Medleys ihrer Songs zu verbreiten. In Europa
jedoch interessierte sich niemand für dieses Vorläufermodell von "Unplugged".
Seitdem findet man XTC nur noch im Studio. Lounge: Man gewinnt den
Eindruck, daß ihr für jede neue Platte immer mehr Zeit im Studio braucht.
Colin: (lacht) Wir haben mit "Apple Venus" im Herbst 1997 angefangen,
aber dann passierten Sachen, auf die wir keinen Einfluß hatten. Das erste
Studio funktionierte trotz vorheriger Zusagen nicht. Dann im April 1998 hatten
wir 2 Monate Pause, weil der Produzent Urlaub wollte. Dann kam er zurück
und nach einem Monat sagte er, er wolle nicht mehr mit uns weiterarbeiten. Also
mußten wir jemand anderen finden, um die Aufnahmen abzuschließen.
Das war im September und dann sagten Cooking Vinyl, die Platte könne nicht
vor Weihnachten erscheinen. So erschien sie erst jetzt im Februar. Aber tatsächlich
im Studio gearbeitet haben wir nur etwa 6 Monate. Lounge: Die neue
Platte heißt "Apple Venus Volume 1". Wird es einen zweiten Teil
geben? Colin: Als wir mit den Aufnahmen anfingen, waren 21 Songs geplant.
Wir wollten alle Songs aufnehmen und zur gleichen Zeit veröffentlichen, aber
das war einfach zuviel auf einmal. Deshalb haben wir es in 2 Teile aufgeteilt.
Die beiden Platten sollten im Abstand von 6 Monaten erscheinen, aber realistischerweise
muß man davon ausgehen, daß "Apple Venus Volume 2" ungefähr
im Februar 2000 herauskommt. Ein paar Sachen sind schon aufgenommen, aber nichts
ist fertig. Lounge: War es Absicht, "Apple Venus Volume 1"
mit nur sehr leisem, bzw. sehr wenig Schlagzeug aufzunehmen? Colin:
Das war keine bewußte Entscheidung. Wenn du einen Song hast, dann arrangierst
ihn so wie du meinst, daß es das beste für ihn ist. Und durch ein gutes
Arrangement entsteht ein eigener Rhythmus, der ein Schlagzeug überflüssig
machen kann. Es reicht dann, nur die Snare ein bißchen dazuzumischen. Ein
krachendes Schlagzeugset wäre einfach zu aufdringlich, weniger reicht völlig
aus. Aber das gilt nicht für jeden Song, du mußt jedesmal neu entscheiden,
welche Farben du benutzt. Lounge: Und was werden wir auf "Apple
Venus Volume 2" erwarten können? Colin: Im Grunde die restlichen
Songs, die wir in den letzten 3 bis 5 Jahren geschrieben haben. Und bis auf 1,
2 Ausnahmen wird es ein reines elektrisches Album werden, sehr geradeaus, nicht
orchestral. Im April 1998 verließ der Gitarrist Dave Gregory, der
19 Jahre lang bei XTC mitspielte und die Band mit seinem Gitarren- und Keyboardstil
stark geprägt hat, Andy und Colin nach einem heftigen Streit über die
Richtung des Projekts "Apple Venus". Er litt darunter, daß die
Band seit 1982 nicht mehr live auftrat, und da er keine Songs schreibt, traf ihn
die finanzielle Misere der Band am härtesten. Lounge: Hat der
Ausstieg von Dave Gregory bei den Aufnahmen Schwierigkeiten bereitet und wie es
ohne ihn weiter? Colin: Nun, Dave stieg aus, als er mehr als die Hälfte
seiner Keyboardparts aufgenommen hatte. Ein paar Sachen hat unser Produzent dann
eingespielt. Dave war mit der Aufteilung des Projekts nicht einverstanden. Er
ist eigentlich Gitarrist und wollte daher mehr Gitarrenstücke auf der ersten
Platte haben. Eigentlich wollte Dave auch wieder eine XTC-Platte haben, die bunt
gemischt ist, so wie "Oranges & Lemons" (1989) und "Nonsuch",
aber Andy und ich wollten das nicht. Das war der Grund, warum er ausstieg, aber
eigentlich geht es viel tiefer und ist eine lange Geschichte, die Außenstehende
nicht richtig nachvollziehen können. Für die Zukunft sehe ich Probleme,
denn wir vermissen Dave nicht nur als Gitarristen, sondern auch als Keyboarder.
Auch wenn er kein ausgebildeter Musiker ist, so hat er doch stundenlang an den
Arrangements gearbeitet, die immer sehr gut durchdacht waren. Möglicherweise
müssen wir andere Musiker ins Studio holen für die Sachen, die Andy
und ich nicht selbst hinkriegen, denn Dave war der beste Musiker von uns Dreien. Lounge:
Ich habe in euerem kanadischen Fanmagazin "The Little Express" gelesen,
daß daran gedacht war, Instrumentalstücke von Dave Gregory auf die
Platte zu nehmen. Colin: Dave hat nie Songs für XTC geschrieben.
Ich denke daß er es irgendwie bedauert, aber Dave sagte, es gäbe so
oder so zuviele Songschreiber für die Band, und er könne auch keine
Texte schreiben. Wir gaben ihm immer Arbeit bei den Arrangements in der Hoffnung,
daß er Musik schreiben würde, die wir vielleicht benutzen könnten.
Wir sagten auch: Schreib Instrumentalstücke und wir schauen, ob sie irgendwo
hineinpassen. Wir haben ihm jede Möglichkeit gegeben, zu XTC beizutragen. Dave
Gregory hat in den letzten Jahren oft für andere Leute im Studio ausgeholfen
und ist auch gelegentlich mit ihnen getourt. Auch Andy Partridge hat mit anderen
Künstlern zusammengearbeitet, diese produziert oder zusammen mit ihnen Songs
geschrieben. Colin Moulding dagegen zeigt kaum Aktivitäten außerhalb
von XTC. Colin: Unsere Songs sind sehr persönlich, und da möchte
man nicht, daß sich jemand anders in den Entstehungsprozeß einmischt.
Deshalb haben Andy und ich bisher nie zusammen geschrieben. Und wenn Andy zusammen
mit anderen Leuten schreibt, setzt er sich einen anderen Hut auf. Diese Songs
sind anders als seine eigenen, und irgendwie ist Andy bei solch einer Zusammenarbeit
auch garnicht er selbst. Ich denke, Andy weiß das auch und daß das
der einzige Weg für ihn ist, mit andern gemeinsam Songs zu schreiben. Meiner
Meinung nach sind seine besten Songs die, wo mehr von ihm selbst drinnen steckt
und die persönlicher sind. Ich selbst habe meine eigene Art habe, Songs zu
schreiben, und ich bin eigentlich ganz zufrieden damit. Würde ich mit anderen
zusammen schreiben wäre ich wohl jemand, der jemand anderen begleitet, aber
nicht ich selbst. Aber andere zu produzieren wäre eine Möglichkeit.
Ich liebe es zu produzieren, aber ich hatte bisher noch nicht die Möglichkeit
dazu. Lounge: Wie seht ihr eigentlich eure eigene Rolle im Musikgeschäft?
Colin: Ich denke, wir waren für einen kurzen Moment 1977/1978 auf
der Höhe der Zeit, aber seitdem nie mehr. Das ist ganz angenehm, weil man
so nie einem Trend folgen muß. Du kannst ehrlicher zu dir selbst sein und
mußt nicht dem Gott Brit-Pop Opfer bringen. Wir haben uns seit Jahren unsere
eigene Nische gebastelt, machen immer noch unser eigenes Ding und haben damit
keine Probleme. Genau so klingt auch die neue CD "Apple Venus Volume
1". XTC haben schon vor Jahren ihren ganz eigenen Stil gefunden, aber er
wird diesmal nicht so bunt ausgebreitet wie auf den vorherigen Veröffentlichungen.
Die Mehrzahl der neuen Songs wie "River Of Orchids", "Easter Theatre"
und "Greenman" überraschen vielmehr mit völlig ungewohntem
orchestralen Klängen und sehr eigenwilliger Melodieführung, mehr moderne
Klassik als Pop. Andererseits bleiben Songs wie "Knights In Shining Karma"
und "Your Dictionary" ganz sparsam instrumentiert, teilweise wird der
Gesang nur von einer Gitarre begleitet. Die beiden Stücke von Colin, "Frivolous
Tonight" und "Fruit Nut", dagegen entwickeln ihr ganz eigenes Popflair
und sind treffende Beobachtungen des Lebens der britischen Mittelklasse. Insgesamt
eine Veröffentlichung voller ungewohnter Kontraste und neuer Klangfarben.
Auch das Cover von "Apple Venus Volume 1" ist ungewöhnlich. Colin:
Das Cover ist eine Illustration, die Andy in einem Kunstbuch entdeckt hat. Es
stellt eine Pfauenfeder auf sehr glänzenden, schillernden Papier dar, die
Farben sind sehr lebendig und das Bild leuchtet richtig, so daß man denkst,
daß die Feder echt ist. Aber es ist eben nur ein Bild. Und wenn du tief
in die Feder hineinschaust, dann entdeckst du eine dunkle Form, die sehr mehrdeutig
wirkt und neugierig macht. Diese Form könnte ein Embryo sein, der in einer
Frau heranwächst, die Genitalien einer Frau, oder als ob jemand seinen Mund
öffnet und du siehst seine Mandeln. Es ist eine sehr merkwürdige Form
und sie paßt zu dem mehrdeutigen Titel "Apple Venus". Der Titel
einer Platte muß auch nicht unbedingt einen Sinn oder eine richtige Bedeutung
haben, ich denke es ist wichtiger, daß er zum Cover paßt. Es ist gefährlich,
wenn du einen Titel wählst, der nicht genug Raum für die Phantasie läßt.
Wenn er dem Lauf der Zeiten standhalten soll, dann ist es wichtig, daß er
einfach ist. Wortspiele und Metaphern wirken nach einigen Jahren immer schal,
auch wenn sie ursprünglich mal clever klangen. Wir haben den Titel instinktiv
danach ausgewählt, daß er gut zum Cover paßt. So einfach ist
das. Lounge: Was waren auf dieser Interviewtour eigentlich die Fragen,
die dir niemand gestellt hat? Gibt es etwas, was du wirklich loswerden möchtest
und keiner fragt danach? Colin: Mir fällt auf, daß keiner
Fragen nach meinen Songs stellt und was ich mit ihnen gemeint habe. Das ist irgendwie
traurig. Lounge: Ich finde, daß "The World Is Full Of
Angry Young Men" (auf der CD "Rag & Bone Buffet" von 1990 - in
dem Song geht es darum wie der Sänger erkennt, daß er alle die Menschen,
gegen die er in seiner Jugend rebelliert hat, im Alter doch liebt, eine für
zornige junge Männer sicher grauenhafte Perspektive, aber für Leute
über 30 erstaunlicherweise ziemlich Nahe an der Wahrheit) ein interessanter
Text, der wirklich den Punkt trifft. Colin: Oh, danke. Das ist schön,
wenn man das Gefühl hat verstanden zu werden. |