Albert
Jacquard
"Was wir wirklich müssen, um die Welt zu verstehen. Wissenschaft
für Nicht-Wissenschaftler" (Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins,
Hamburg 2002)
Das Buch ist im wesentlichen das, was der Titel verspricht, nämlich
eine geraffte Zusammenfassung der heutigen Wissenstandes über das
Universum, Naturkonstanten, Zeit, Raum, Genetik und Evolution, leider
aber nicht in einer Sprache und Allgemeinverständlichkeit, die
auch Menschen ohne Universitätsabschluss zugänglich wäre
- es sei denn sie würden wie Rudi Dutschke sich tagelang in einzelne
Seiten und Sätze vertiefen. Den Hauptteil beschließt ein
eher philosophisches Kapitel über "Zweckbestimmtheit, Determinismus
und Zufall".
Der zweite Teil des Buchs erklärt verschiedene mathematische und
logische Methoden wie Korrelation und Wahrscheinlichkeitsdenken, doch
die Kompaktheit der Darstellung geht erneut zu Lasten der Verständlichkeit.
Interessant ist hier wieder das abschließende Kapitel über
Prüfungen als wissenschaftliche Methode zur Messung des Erfolgs
der Wissensvermittlung nicht nur für den Schüler sondern auch
für den Lehrer, wobei Jacquard sich klar gegen Multiple Choice
ausspricht, weil auswendiggelerntes Wissen eben kein Werkzeug zum Lösen
von neuen Problemen ist.
Der mit "Einige Fragen" überschriebene Schlussteil des
Buchs geht schließlich über den Buchtitel hinaus und stellt
die philosophische Frage nach dem Wesen des Menschen an sich, wenn er
doch aus den gleichen Elementen und Naturgesetzen wie jedes einzelne
Sandkorn entstanden sei. Laut Jacquard ist es die menschliche Fähigkeit
zu wissen, dass man ist, die Erkenntnismöglichkeit über das
Selbst, die den Menschen vom Tier unterscheidet. Danach wendet sich
der Autor der Frage nach einer Moral, die das menschliche Zusammenleben
bestimmen könne, zu. Wie bei einem französischen Intellektuellen
nicht anders zu erwarten lehnt Jacquard die Vorstellung eines Vertrages
zwischen Mensch und Gott als Grundlage einer Moral ab. Vielmehr könne
die Moral nur aus einer Ethik erwachsen, die zur Grundlage die Erkenntnis
habe, dass erst die Teilhabe an der Gesamtheit aller Menschen jeden
einzelnen zu einem vollständigen Menschen mache. Welche genauen
Moralsätze aus einer solchen Ethik erwachsen könnte, darauf
bleibt und Jacquard (leider?) die Antwort schuldig.
(2005-09-14)
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Naomi
Klein
"No Logo. Der Kampf der Global Players um Marktmacht. Ein Spiel
mit vielen Verlierern und wenigen Gewinnern" (Riemann Verlag, München
2002)
"Ich habe einen Universitäts-Abschluss in Politik. Wenn
ich manchmal andere Musiker über Politik reden höre, klingt
das wirklich krank. Sie verkaufen das Buch "No Logo" von Naomi
Klein als Meisterwerk. Für mich ist das ein Buch für Zehnjährige,
denn alles, was da steht, ist so verdammt offensichtlich.
Ich bin der Erste, der zugeben würde, dass er nicht der größte
Musiker der Welt ist. Ich würde mir wünschen, dass andere
Bands zugeben würden, dass sie keine Ahnung von Politik haben.
Denn wenn ich mit irgendeiner Band debattieren sollte, würde ich
sie platt reden. Die Theorien von Marx, Engels und Gramsci haben mich
immer interessiert." (Nicky Wire/Manic Street Preachers in
SPEX 11/02, Seite 84)
"Dass es bei diesen sozialen Anwandlungen tatsächlich nur
um punktuelles, angelesenes Wissen und nicht etwa um Ausprägungen
einer linken Weltanschauung im klassisch-europäischen Sinne geht,
zeigt sich darin, dass Kayne Fragen zur politischen Lage in den USA
mit lapidaren Desinteressebekundungen vom Tisch fegt. Nur als er darauf
angesprochen wird, warum er denn trotz seiner scheinbar konsumkritischen
Haltung Nike-Schuhe trage, wo es doch ein Gemeinplatz sei, dass die
Firma in Fernost an der Kinderarbeit beteiligt ist, bemerkt man echte
Ratlosigkeit: "Was sagst du da?", fragt Kayne besorgt. "Davon
weiß ich nichts. Du musst mir später unbedingt mehr davon
erzählen. Vielleicht mache ich ja einen Song darüber."
(Stephan Szillus über Kayne West in SPEX 9/05, Seite 58)
Ich bin mir nicht sicher, ob "No Logo" von Naomi Klein viel
bewegt hat. Ist das Buch nicht vielmehr 5 Jahre nach der Erstveröffentlichung
fast schon wieder vergessen? Und hat es denn je solche Kampagnen gegen
einzelne (Bekleidungs-)Marken wegen ihrer ausbeuterischen Herstellungsmethoden
in der 3.Welt hier in Europa gegeben, so wie sie von Klein aus den USA
berichtet werden? Der Boykott gegen Shell wegen der beabsichtigten Versenkung
der Ölplattform Brent Spar in der Nordsee, von Greenpeace initiiert
(später hat Greenpeace zugegeben, mit falschen Zahlen operiert
zu haben), war ein großes Ding, die Hinrichtung von Ken Saro-Wiwa
in Nigeria zum Wohle von Shells Gewinninteressen schon nicht mehr (ein
Toter mehr oder weniger in Afrika, wen kümmert es, und außerdem
ist Nigeria kein Ziel für Pauschaltouristen) - und das war es dann
auch schon, was an Kampagnen wegen "unmoralischen Verhaltens"
von Konzernen bei mir als irgendwie durchschnittlich politisch interessierten
Deutschen, der aus dem studentischen Milieu herausgefallen ist, angekommen
ist.
Das Buch von Klein zerfällt in 2 Teile, zum einen der Beschreibung
der Macht der Logos, zum zweiten der Kampf gegen sie. Leider ist der
(damals) wichtigere zweite Teil der unergiebigere.
Im ersten Teil beschreibt Klein detailliert das Entstehen der "Marken"
und ihren Aufstieg gegenüber den traditionalen kapitalistischen
Unternehmen. Das Wesen der Marke ist laut Klein das Entkoppeln von Produkt
und Produktion mit der Folge, dass obwohl die Herstellung in die 3.Welt
verlagert wird das Produkt immer noch als z.B. amerikanisch gilt wie
bei den Modeartikeln von Tommi Hilfiger, Nike etc. Das Drücken
der Herstellungskosten führt zu höheren Werbeetats und damit
Machtmitteln zur Verdrängung von Markt-Konkurrenten und daraus
entstehender Marktmacht, die in die Politik hineinwirkt und gleichzeitig
nationale Grenzen überwindet. Die Produktion dagegen wird immer
ausbeuterischer (Hungerlohn, Kinderarbeit, keine gewerkschaftlichen
Rechte etc.), unterstützt von der Einrichtung rechtsfreier Räume
in der 3.Welt genannt Freihandelszonen, in Wirklichkeit aber nur das
ökonomische Äquivalent zu Guantanamo Bay, der rechtfreien
Folterbasis des amerikanischen Militärs.
Die von Klein beschriebenen Möglichkeiten des Kampfes gegen die
Markenmacht sind nur teilweise überzeugend. "Culture jamming",
das Spiel mit der Verfremdung der Logos - ein Witz, der sich zu schnell
verbraucht. Machen Punks schon seit Jahren und meinten es immer nur
witzig, nie politisch. "Reclaim the streets", die Straße
als von Geschäftinteressen okkupierten Raum für die Öffentlichkeit
zurückerobern - Anarchie, die in Deutschland nicht gut ankommt.
Der einzig effektive Weg scheint mir die Aufklärung der Menschen
über die Praktiken der Herstellung und die exorbitanten Gewinnspannen
zu sein - z.B. als Parole "Du darfst nicht für sie arbeiten
aber ihre Waren teuer kaufen". Das gilt aber heute generell, weil
auch die "old economy" wie z.B. Autohersteller ihre Produktion
ins Ausland verlagern und dabei auf die Täuschungsmanöver
der "brands" verzichten können, weil der durch die mulinationalen
Konzerne verursachte Verlust an Arbeitsplätzen auch der traditionellen
Industrie eine neue Erpressungsmacht in die Hände gespielt hat.
Insoweit ist "No Logo" heute nur noch von historischem Interesse,
weil die Wirtschaftslage sich verändert hat. Um die "kids"
heute zu politischen Handeln anzufixen bedarf es neuer Argumente, die
"No Logo" nicht anbieten kann, auch nicht im aktualisierten
Nachwort.
(2005-09-12)
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Hubert
Schleichert
"Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu
verlieren - oder Anleitung zum subversiven Denken" (C.H.Beck, München
1997)
Der Titel des Taschenbuchs suggeriert möglicherweise, Hilfe bei
Diskussionen mit Fundamentalisten, worunter aktuell zumeist Islamisten
verstanden werden, auch wenn es auch andere Arten von Fundamentalismus
gibt, zu bekommen, doch darum geht es Schleichert nur indirekt. Er versucht
vielmehr auf der Metaebene zum einen die Struktur und Logik von Argumentationsformen
aufzuzeigen, zum anderen anhand vergangener theologischer Dispute die
grundsätzliche Unmöglichkeit einer erfolgversprechenden Argumentation
mit Fundamentalisten darzulegen. Gleichzeitig aber zeigt er Möglichkeiten
auf wie der Streiter für Vernunft Fundamentalisten innerhalb einer
Glaubensgemeinschaft isolieren kann. Wie dies auf die aktuelle Islamistendebatte
übertragen werden könnte, das können die Leser selbst
ableiten, nur die passenden Argumente muss sich jeder dann selbst erarbeiten
(was ja durchaus sinnvoll ist). Die von Schleichert beschriebenen Methoden
lassen sich übrigens auch auf das politische Tagesgeschäft
anwenden, in jedem Fall aber schärfen sie den Blick auf jede Art
von Argumentation, weil Schleichert eben die zu Grunde liegenden Mechanismen/Formeln
offen legt.
Im ersten Teil des Buchs stellt Schleichert die Logik des Argumentierens
und häufige Fehler und Fallgruben dar. Wichtig ist dabei der Hinweis,
dass Argumentationsketten oft unvollständig vorgetragen werden,
weil die Urheber davon ausgehen, dass Teile der Beweiskette bekannt
und/oder unstrittig sind. Ob das stimmt muss in jedem Falle einzeln
überprüft werden, denn nur so lassen sich Missverständnisse
ausschließen und zusätzliche Angriffspunkte finden. Aber
selbst bei vollständiger Übersicht über alle Glieder
einer Argumentationskette ist Vorsicht geboten, schließlich kann
der Gegner sogenannte "red herings" auslegen, also falsche
Spuren/Argumente, die den Kritiker in die Irre führen und damit
aushebeln.
Die folgenden zwei Kapitel beschäftigen sich mit Argumenten für
und wider von theologischer Intoleranz und Toleranz anhand des Falls
des auf Betreiben von Calvin 1553 in Genf auf den Scheiterhaufen verbrannten
Gelehrten Servet und der daraus folgenden Kritik am Verhalten Calvins.
Das frustrierende Ergebnis dabei ist, dass die Argumente beider Seiten
einer gewissen Logik (wie moralisch verwerflich sie auch sein mag, aber
das ist ja nur ein subjektiver Blickwinkel) nicht entbehren, aber genauso
beide Seiten in der Auslegung der Bibel willkürlich, d.h. nicht
logisch sauber vorgehen - weil die Bibel als Grundlage des Glaubens
selbst kein in sich schlüssiges Werk ist und daher beiden Seiten
Argumente liefert.
Im nächsten Kapitel beschäftigt sich Schleichert dann mit
den Unterschieden zwischen sogenannter "interner" und "externer"
Kritik. Während die externe Kritik (meist von Außenstehenden
geäußert) als Generalangriff auf den jeweiligen Glauben empfunden
werden kann und daher oft auf generelle Ablehnung trifft, kann die interne
Kritik (meist von Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft formuliert),
die auf der teilweisen Anerkennung der religiösen Dogmen beruht
und die jeweilige "Untat" als Irrtum oder fehlerhafte Auslegung
der (unstreitigen) Glaubensprinzipien verurteilt, auch als grundsätzliche
Zustimmung zum Glauben verstanden werden. Welche Kritikform jeweils
möglich ist hängt aber von den Machtverhältnissen ab.
So wäre zu Zeiten der Hexenverbrennung ein externer Kritiker eher
auf dem Scheiterhaufen gelandet als ein interner, während heute
interne Kritiker wie z.B. die Herren Küng und Drewermann von der
Mehrheit der Bevölkerung eher belächelt werden, weil sie sich
an der Auslegung religiöser Dogmen abarbeiten, die viele in der
Bevölkerung nicht mehr ernstnehmen, bzw. ganz aus ihrer eigenen
Weltanschauung verbannt haben.
Wo ist also der richtige Ansatzpunkt für die Vertreter der Vernunft?
Es ist laut Schleichert die Erkenntnis, dass Glaubensgemeinschaften
nicht nur aus Fundamentalisten, die die Dogmen ernst nehmen (was an
sich nichts Verwerfliches ist!), bestehen, sondern auch aus Mitgliedern,
die sich eher opportunistisch verhalten, also religiöse Vorschriften
beachten oder missachten, je nachdem wie es ihnen nützt, wobei
der Nutzen jeweils ökonomisch, sozial oder metaphysisch sein mag.
Die meisten Menschen wachsen als Kinder in einen Glauben hinein und
pflegen ihn als Erwachsene aus Gewohnheit, ohne sich je tiefer mit den
Glaubensgrundsätzen und ihrer Begründung zu beschäftigen.
Dies ist der Ansatzpunkt der Aufklärung, nämlich die Erwachsenen
dazu zu bewegen, sich erneut - oder auch erstmalig - mit ihrem Glauben
auseinander zu setzen und dabei ihre Gewohnheiten selbstkritisch zu
überprüfen, indem die Aufklärer ihnen die dogmatischen
Konsequenzen ihres Glaubens vor Augen führen. Schleichert nennt
dies die "subversive" Argumentation und er zitiert fleißig
Voltaire und andere Aufklärer, die mit Genuss die Widersprüche
des Christentums aufdeckten und so ihre Mitmenschen zum Nachdenken zwangen.
Implizit geht Schleichert dabei davon aus, dass kein religiöses
System in sich widerspruchsfrei ist, gerade schon deshalb, weil sich
jede Religion für die einzig wahre hält und "Ungläubige"
- und schlimmer noch "Häretiker", also Abweichler von
der wahren Lehre, nicht weil sie unwissend sind, sondern weil sie die
Wahrheit kennen und trotzdem von ihr abgefallen sind - verfolgt, bzw.
Regeln zu deren Unterdrückung bereithält, die Anwendung der
diesen gegenüber zulässigen Grausamkeiten aber gegenüber
ihren eigenen Anhängern schärfstens verurteilt. Schleichert
weist darauf hin, dass solche Kritik und Aufklärung auch heute
noch notwendig sind, weil die inhumanen Dogmen von der katholischen
Kirche zwar gerne verschwiegen, relativiert und von vielen ihrer Anhänger
auch einfach missachtet werden (siehe Abtreibung, Pille, Kondom) aber
widerrufen werden sie eben auch nicht, weil dies an den Grundsätzen
des Glaubens rütteln und das Papsttum sich damit selbst entmachten
würde. Weil diese Regeln weitergelten können sie auch jederzeit
wieder angewendet werden, weshalb der Kritiker auch heute noch wachsam
sein muss und in seinen Angriffen nicht nachlassen darf, auch wenn die
Kirche oberflächlich zurückweicht. Das gilt logischerweise
auch für Kritik am Faschismus, Kommunismus und allen anderem Ismen
(ja, auch wenn es weh tut, das gilt auch für Anarchismus und Buddhismus).
Gleichzeitig aber warnt Schleichert vor dem Glauben, allein mit der
subversiven Kritik das Problem lösen zu können. Denn "Glauben"
heißt nicht nur "nicht wissen", sondern vielmehr an
etwas festhalten, dass sich weder beweisen noch widerlegen lässt.
Damit ist eine Widerlegung der Grundlagen eines Glaubens argumentativ
unmöglich. Was aber möglich ist, ist bei den Glaubensanhängern
durch Darstellung vergangener Glaubensstreite, die heute fast vergessen
sind, und Widersprüchen in den theologischen Texten Zweifel an
der Unerschütterlichkeit von Glaubensgrundsätzen zu wecken,
und durch Aufzeigen anderer Formen von Glauben und Götterverehrung
Unsicherheit zu erwecken, ob die eigene Religion die allein seligmachende
ist. Das Ergebnis davon wäre, dass die Entscheidung, was jemand
glaubt und was nicht allein bei diesem alleine läge, sozusagend
eine reine Geschmacksfrage - über Geschmack lässt sich aber
nicht streiten, weil es keinen objektiven Maßstab gibt, an dem
richtiger oder falscher Geschmack ermittelt werden kann. Und genau so
gibt es keinen "wahren" Glauben, weil sich die Richtigkeit
einer Götterverehrung, ja nicht einmal die Existenz von Gott beweisen
lässt. Und weil es keinen Beweis gibt, gibt es auch kein Recht
jemanden wegen seines (abweichenden) Glaubens zu unterdrücken,
berauben oder gar zu verbrennen. Das wäre dann die Toleranz der
Vernunft: wo ich etwas nicht beweisen kann muss ich die Meinung des
anderen akzeptieren - und dieser muss meine Meinung hinnehmen..
PS: Es hat den Anschein, dass die "Theorie" des "intelligent
design", also dass die Evolution zum Menschen ohne gelegentlichen
Eingriff eines "Schöpfers" nicht möglich gewesen
sei, aus den Methoden der Aufklärung gelernt hat. Aber das bezieht
sich nur auf die argumentative Ebene, im Kern dieser Theorie geht es
weiterhin um den Glauben an eine interventionistische Gottheit, eine
die Wunder bewirken und damit die Naturgesetze außer Kraft setzen
kann - und die der Gläubige mittels Gebete, Opfergaben oder auch
Voodoo gütig stimmen/beeinflussen/manipulieren kann (aber Gebete
funktionieren glücklicherweise ja nicht, weil sonst wäre die
Menschheit schon längst ausgestorben bei all den Todeswünschen).
Doch mit einer solchen Gottheit kommt der Gläubige immer in Erklärungsnöte
bei Naturkatastrophen oder auch dem Holocaust, weil jegliche Sinnsuche
dahinter, warum Gott jemanden ein solches Schicksal zugedacht haben
könnte nur in Unerklärlichem endet. Nur eine nicht-interventionistische
Gottheit lässt sich mit der Wissenschaft in Einklang bringen -
auch wenn sich dann die Frage stellt, wozu es eine Gottheit als Erklärung
der Entstehung des Universums bräuchte, wenn sie an den bestehenden
Naturgesetzen nichts ändert. (Die dritte Glaubensart ist dann der
Glaube, selbst zu einer Gottheit aufsteigen zu können (wie im Satanismus
von Alistair Crowley, den ganzen OTO-Logen, Scientology und so weiter),
wobei sich aber auch hier die Frage stellt, warum Gottheit werden, wenn
man eh nichts an den Naturgesetzen ändern kann - auch diese Glaubenslehren
funktionieren nur mit der Figur einer interventionistischen Gottheit.)
(2005-09-08)
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Albrecht
Koch
"Angriff aufs Schlaraffenland. 20 Jahre deutschsprachige Popmusik"
(Ullstein. Frankfurt/Main 1987)
Ich weiß, diese Besprechung kommt 18 Jahre zu
spät, denn dieses Taschenbuch erschien 1987 bei Ullstein und leider
hat der Umschlag es direkt in die Grabbelkiste bugsiert. Wäre es
bei dtv, oder besser noch bei rororo, rausgekommen, hätte es sicher
mehr Beachtung gefunden. Denn was Albrecht Koch hier bietet ist genau
das, was der Untertitel sagt, nämlich ein kenntnisreicher und pointierter
Überblick über 20 Jahre deutschsprachige Popmusik, und der
einzige Wermutstropfen ist, dass die Analyse eben Mitte der 80er Jahre
aufhört.
Das Buch ist in zweierlei Hinsicht verdienstvoll. Zum einen, weil es
den Blick auf Rock und Pop (nicht Schlager) in Deutschland richtet und
die Musik im Zusammenhang mit der hiesigen gesellschaftlichen Entwicklung
beschreibt, während die meisten anderen Autoren (so z.B. Martin
Büsser in "Popmusik", Rotbuch Verlag, Hamburg 2000) deutsche
Rock- und Popmusik immer nur als Anhängsel englischer und amerikanischer
Rock- und Popmusik sehen und sich in der Beschreibung idiotischerweise
an den gesellschaftlichen Entwicklungen im Ausland entlanghangeln, anstatt
zu überlegen, welche Auswirkungen 1968 und die RAF-Zeit z.B. auf
Rockmusik in (West-) Deutschland hatten. Aus der spezifischen gesellschaftlichen
Situation Deutschlands entstand neben der ndW eben auch Deutschpunk
und sorgte dafür, dass Punk hier länger als in anderen Ländern
eine konstante Subkultur aufrecht erhalten konnte (genauso wie Helmut
Kohl durch die deutsche Einheit neues Leben eingehaucht bekam - und
vielleicht hat das Deutschpunk-Biotop auch die Bands vor dem Wettbewerb
mit anderen Musik-Stilen um die Publikumsgunst geschützt und so
kreative Erneuerungen verhindert).
Zweitens setzt sich Koch fast ausschließlich mit deutschsprachiger
Rock- und Popmusik auseinander und geht auf die Texte ein, zum Teil
in einzelnen Gruppen gewidmeten Kapiteln. Das bringt zwar ein bisschen
das alte Problem hervor, dass Songtexte unabhängig von der musikalischen
Begleitung ihres klanglichen Wertes beraubt sind und damit ihre Wirkung
nur unvollständig beschreibbar ist, doch Koch vermeidet offensichtliche
Fallen - und schließlich legen Musiker, die ihre Texte auf LP-
und CD-Hüllen abdrucken eine solche unabhängige Lesart selbst
nahe. Dass bei dieser Lesart manche Idole nicht so gut wegkommen, wie
z.B. Wolfgang Niedecken und Udo Lindenberg (vom dem eigentlich nur die
LPs von "Daumen im Wind" bis "Wotan Wahnwitz" wirklich
erträglich sind und bereits "Sister King Kong" wie eine
reine Selbstparodie klingt - und das bereits 1976), andererseits z.B.
die Ace Cats mit ihrem klinischen Rockabilly positive Erwähnung
finden geht okay, denn Koch unterfüttert seine Meinung mit vielen
Zitaten und Argumenten.
Insgesamt ein schönes Buch, von dem man sich eine aktualisierte
Neuauflage, die dann wohl 2x250 Seiten hätte, wünschen würde.
(2005-09-01)
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Rocko Schamoni
"Dorfpunks" (rororo, 2004)
Es ist die Zeit, in der Menschen um die 40 auf ihr
bisheriges Leben zurückschauen, die alten Tagebücher oder
sonstige Erinnerungsschnipsel hervorkramen und anfangen zu vergleichen,
was sie mal wollten und wo sie jetzt stehen. So ähnlich ging es
wohl auch Rocko Schamoni, denn auch wenn "Dorfpunks" mit der
Bezeichnung Roman daherkommt scheint es eher eine Art Erinnerung an
die eigene Jugend zu sein (Autobiographie fände ich ein bisschen
übertrieben, es ist nicht auszuschließen, dass einige Teile
frei erfunden statt erinnert sind, und außerdem endet das Buch
mit dem Abschluss seiner Töpferlehre). Ich will Euch nicht lange
mit einer Nacherzählung des Buchs aufhalten, in dem gegen Ende
Alfred Hilsberg, die Goldenen Zitronen und die Toten Hosen auftauchen,
dessen Hauptteil aber die Reflektion über eine männliche Jugend
auf dem Land ist mit ihren Selbst-Initiations-Ritualen und dem bizarren
Eigenleben, dass lokalste Jugendkulturen entwickeln können, die
Pubertät mit ihren geistigen Wirrungen, mit extremer Langeweile
(yeah, "Terminal Boredom" wie John Lydon auf der ersten PiL-LP
nölt) und Zweifeln am Rest der Welt (Erwachsene sind alle Roboter).
Jugend, dass ist die Zeit, wo es noch keine eingefahrenen Gleise gibt,
auf denen der Zug des Lebens weiterrollen kann und die Verdrängung
existenzieller Fragen perfektioniert ist, in der es noch keinen Frieden
mit den Ungerechtigkeiten der Gesellschaft gibt, die mensch als Erwachsener
so perfekt verdrängen kann (weshalb ich auch keinem/keiner Deutschen
widersprechen würde, der/die seit 1945 sagt, er/sie hätte
doch nichts von all den Untaten der Nazis gewusst: denn er/sie hat die
mörderischen Ungerechtigkeiten der damaligen Zeit eben perfekt
ignoriert und verdrängt - und deshalb liegt seine/ihre Verantwortung
nicht darin, nichts getan zu haben, sondern darin die Möglichkeiten
zum Wissen nicht ausgenutzt zu haben: jeder wusste dass es Dachau gibt
- "halt den Mund sonst kommst du nach Dachau" - aber keiner
fragte, was dort geschah, sonst hätten sie hinterher ein schlechtes
Gewissen gehabt und nicht mehr ruhig schlafen können - was ja für
heute, das Jahr 2005 mit seinen Dutzenden regionalen Kriegen und Massakern,
staatlichen Killern weltweit und Ausbeutung durch die multinationalen
Konzerne genauso gilt: "hey, lass mich in Ruhe damit, ich will
doch nicht enden wie Petra Kelly"). Ich weiß nicht, wie authentisch
dieses Buch ist, aber eines weiß ich: es ist wahr.
(2005-01-25)
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