Am Nabel der Welt - Wo spielt die Musik?
Deutscher Pop kommt aus der Provinz: Eines Tages kam sogar Hannover ganz
groß raus
Von Hollow Skai (Quelle: Der Tagesspiegel 21.09.2004)
Jeder Deutsche ist schon einmal durch Hannover gereist,
aber nur wenige haben, wie der Philosoph Theodor Lessing in
seinen Lebenserinnerungen feststellte, zwischen den nüchternen
Rübenfeldern ein langes Leben verbracht. Karl Marx fand die
Stadt zum Bersten langweilig, der Literaturwissenschaftler
Hans Mayer beklagte die geistige Schwerfälligkeit der Hannoveraner,
und als Jugendlicher war man in den Siebzigerjahren fest davon überzeugt,
dass die Schallplatte der letzte bedeutende Gegenstand war, der in Hannover
erfunden wurde. Und das war 1887.
Die Stadt hatte bereits einige namhafte Hard-Rock-Bands hervorgebracht.
Die waren in Japan, England oder den USA beliebter als daheim. Aber sonst
war es kein Standortvorteil, an der Leine aufzuwachsen. In Hannover gab
es nicht mal eine Plattenfirma.
Doch dann trafen 1977 die ersten Singles von den Sex Pistols und den Ramones
in der niedersächsischen Landeshauptstadt ein. Ohne Scorpions,
Jane, Eloy in die 80er Jahre!, lautete die Parole, und da ich zu
doof war, um drei Akkorde auf der Gitarre zu spielen, gab ich ein Fanzine
heraus und gründete mit Musikern der Band Hans-à-Plast ein
Label. Wir nannten es nach einem Song des von uns verehrten Punk-Altmeisters
Iggy Pop No Fun Records.
No Fun wurde schnell über Hannover hinaus bekannt. Dem Hamburger
Musikkritiker Diedrich Diederichsen kamen wir zwar mindestens so
exotisch vor wie sowjetische Algenfischer im Eismeer,
doch unsere Platten verkauften sich wie geschnitten Brot und unser Umsatz
überschritt im zweiten Geschäftsjahr bereits die Millionen-Grenze.
Die Frauen von Hans-à-Plast, unserem Zugpferd, zierten schon bald
das Titelbild der legendären Musikzeitschrift Sounds.
Die Gruppe Mythen in Tüten bahnte dem Neuen Deutschen Schlager mit
Liebeserklärungen an Lady Di oder das Radio den Weg und parodierte
erfolgreich die Charts-Stürmer DAF: Tanz den Tortellini.
Bärchen und die Milchbubis (Jung kaputt spart Altersheime)
machten Pogo mit menschlichem Antlitz und posierten in Tiger-Badehosen
sogar für die Bravo. Und der Psycho-Beat der 39 Clocks
spielte nicht nur in einem Kinofilm mit Barbara Rudnik eine Hauptrolle,
das Duo erhielt dafür auch einen Preis der Velvet-Underground-Gedächtniskirche.
Nur Rotzkotz, Hannovers erste Punkband, die bereits für Tante
EMI eine Single aufgenommen hatte, der verhassten Plattenindustrie
dann aber doch eine Absage erteilte, wirkte schon bald etwas anachronistisch.
Unser Beispiel machte schnell Schule. Nicht nur in Hannover sprossen damals
unabhängige Firmen wie Pilze aus dem Boden und legten den Grundstein
für die heute noch existierende Independent-Szene. An Selbstbewusstsein
mangelte es uns jedenfalls nicht. Unter dem Motto Jubel '81
gingen wir gleich mit sechs Gruppen auf Tournee. Der englische Kult-Discjockey
John Peel stellte unsere Platten seinen Hörern ebenso vor wie ein
gewisser Dr. Krautrock in Australien, und zum ersten Mal waren wir stolz
auf unsere Stadt. Das Paradies der Mittelstädte, des Mittelstandes,
der Bemittelten und jeder Mittelmäßigkeit (Lessing) kam
uns vor wie der Nabel der Welt. Nun waren wir ja selbst Mittelständler.
Ursprünglich hatte uns vorgeschwebt, dass jeder Musiker sein Geschäft
selbst in die Hand nimmt und alles, vom ersten Ton im Aufnahmestudio über
die Covergestaltung bis zum Abrechnen verkaufter Platten, kontrolliert.
Schon bald mussten aber auch wir erkennen, dass Musiker keine Buchhalter
sind, der Elan erlahmte und zu uneffizient gearbeitet wurde. Also kalkulierten
wir unsere Platten künftig und kümmerten uns stellvertretend
für die Künstler um Produktion, Promotion und Vertrieb. Kaum
hatten wir No Fun vom Kopf auf die Füße gestellt, war der Markt
mit neu gewellten Platten derart überschwemmt, dass das große
Label-Sterben begann. Von einem Tag auf den anderen, vom 31. März
auf den 1. April 1982, ging nichts mehr. In unserem Lager stapelte sich
die Ware. Wir hatten nun zwar mehr Zeit, aber keinen Platz mehr, um zwischen
den Kartons Tischtennis zu spielen.
Erst kam uns das alles wie ein grausamer April-Scherz vor, aber Punk war
tot, auch wenn die Punks das nicht wahrhaben wollten und in Hannovers
Innenstadt Jahr für Jahr ihre Chaostage veranstalteten.
Unsere Bands lösten sich eine nach der anderen auf, und als die Hans-à-Plast-Sängerin
auf der ersten Tournee nach der Babypause ihrer Schlagzeugerin stolz verkündete,
dass auch sie nun schwanger sei, war es Zeit, das Handtuch zu werfen.
Die meisten Protagonisten kehrten der Stadt den Rücken und siedelten
nach Hamburg und Berlin über. Oder wie es Theodor Lessing einst formuliert
hatte: Die Singvögel blieben einen Sommer lang, dann entflohn
sie vor den herben Schlehen, wie denn eigentlich alle Geister von höherem
Range nur vorübergehend im hannoverschen Lande gelebt haben und es
wieder verließen, wenn anderswo sich die bessere Wirkungsmöglichkeit
bot.
Das war natürlich nicht das Ende. In die Fußstapfen von Rotzkotz
und Hans-à-Plast traten Bands wie Fury In The Slaughterhouse oder
Terry Hoax. Und die Scorpions gibt's ja auch immer noch. Aber wie bemerkte
doch Harald Schmidt so treffend: Hannover liegt zwar nicht am Arsch
der Welt, aber man kann ihn von dort aus sehr gut sehen.
Hollow Skai war Chefredakteur des hannoverschen Stadtmagazins
Schädelspalter. Er lebt seit 15 Jahren als Journalist,
Lektor und Schriftsteller in Hamburg. Zuletzt ist von ihm In A Da
Da Da Vida (Hannibal Verlag) erschienen.
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