Daniel
Jonah Goldhagen
"Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und
der Holocaust" (Siedler Verlag, München 1996)
Wie es dem Russen geht, wie es dem Tschechen geht, ist mir total
gleichgültig. (...) Ob die anderen Völker in Wohlfahrt leben,
ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur soweit, als wir
sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen.
Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht: Das jüdische
Volk wird ausgerottet. Sagt ihnen jeder Parteigenosse, ganz klar, steht
in unserem Programm drin, Ausrottung der Juden, machen wir, pah, Kleinigkeit.
Und dann kommen sie alle, alle die braven 80 Millionen Deutschen, jeder
hat seinen anständigen Juden, sagt: Alle anderen sind Schweine,
der ist'n prima Jude, und- so gesehen- es durchgestanden hat keiner.
Von euch werden die meisten wissen, wenn 100 Leichen beisammenliegen,
wenn 500 daliegen, oder wenn 1000 daliegen. Und dies durchgehalten zu
haben und dabei, abgesehen von menschlichen Ausnahmeschwächen,
anständig geblieben zu sein, hat uns hart gemacht und ist ein niemals
genanntes und niemals zu nennendes Ruhmesblatt. Wir haben das moralische
Recht, wir haben die Pflicht unserem Volk gegenüber, das zu tun,
dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen. (...) Insgesamt
aber können wir sagen, wir haben diese schwerste Aufgabe in Liebe
zu unserem Volk getan und wir haben keinen Schaden in unserem Innern,
in unserer Seele, in unserem Charakter daran genommen. (Geheimrede von
Heinrich Himmler am 24.10. 1943 vor SS-Führern in Posen).
Vor einigen Monaten traf ich in der düsseldorfer Fußgängerzone
eine Erkrather Hausfrau, die Unterschriften gegen Daniel Jonah Goldhagen
sammelte, der einige Wochen später den Demokratiepreis der Zeitschrift
"Blätter für deutsche und internationale Politik"
für sein Buch "Hitlers willige Vollstrecker" erhalten
sollte. Die Unterschriftensammlerin wollte bei dieser Gelegenheit Goldhagen
ihre Listen überreichen und vom ihm verlangen, daß er sich
beim Deutschen Volk entschuldigt. Wieso? fragte ich. Weil er in seinem
Buch schreibe, daß das deutsche Volk an Auschwitz schuld sei,
antwortete sie mir. Aber hat Daniel Goldhagen nicht ausdrücklich
in Vorwort und Einleitung dieses 700 Seiten-Wälzers erklärt,
daß er die Kollektivschuldthese nicht vertrete? Nein, antwortete
die Frau, das stehe da überall drinnen.
Während ich versuchte, ihr Flugblatt zu verstehen, unterhielt sich
die Frau mit Passanten an ihrem Stand und erklärte, daß sie
nicht wisse, ob Juden in Auschwitz vergast worden seien oder nicht,
denn sie sei nicht dabei gewesen. Ich wies sie darauf hin, daß
sie das sehr wohl wissen könne, denn es gäbe ja Belege und
Zeugenaussagen von Opfern und Tätern. Sie müsse sich nur entscheiden,
ob sie diese historischen Dokumente akzeptiere oder nicht. Da nahm sie
mir ihre Flugblätter wieder weg und würdigte mich keines Blickes
mehr.
Hätte ich damals das Buch von Goldhagen schon ganz durchgelesen
gehabt. so hätte ich die Dame vielleicht gefragt, ob sie nicht
lieber Unterschriften für das Buch sammeln wolle.
Natürlich ist es absurd zu behaupten, daß Goldhagen den
Holocaust verteidigen oder verharmlosen würde. Dazu listet er viel
zu viele Fakten auf, die in der breiten Öffentlichkeit wenig bekannt
sind. Das fängt an bei antisemitischen Zitaten von Kirchenvertretern,
die eigentlich Gegner des Nationalsozialismus waren, und hört bei
Details des Holocausts nicht auf. Das, was wohl die große öffentliche
Aufmerksamkeit von "Hitlers willige Vollstrecker" hervorgerufen
hat, ist mit die Erkenntnis, daß die Gaskammern von Auschwitz,
Treblinka, Stutthof und Kulmhof, um einige Vernichtungslager auf polnischem
Boden zu nennen, nur ein Teil des Morden waren.
Wohl die Hälfte aller jüdischen Opfer kam nicht so "ordentlich
und deutsch" ums Leben. Sie wurden nicht industriell, sondern in
"guter deutscher Handarbeit" endgelöst. Polizisten erschossen
Juden, die außerhalb ihrer Wohnorte oder Ghettos ohne Erlaubnis
angetroffen wurden. Polnische Juden wurden bei Razzien deutscher Polizeibataillone
zusammengetrieben, in die Wälder geführt, wo sie ihre Gräber
selbst ausheben mußten, und dort stundenlang der Reihe nach durch
Genickschuß exekutiert, bis die Uniformen der Polizisten voller
Blut, Gehirn und Knochensplitter waren. Waren die Opfer nicht sogleich
tot, so wurden sie noch lebend verscharrt.
Die "Überlebenden" dieser Razzien und Ghettosäuberungen
wurden, wenn sie nicht gleich in den Gaskammern landeten, in Lagern
mit sinnlosen Arbeiten ohne ausreichend Nahrung und bei ständigem
Terror zu Tode gequält. Und als der Vernichtungskrieg zu Ende ging
und die sowjetischen Befreier vorrückten, da wurden die Wachmannschaften
nicht etwa mit dem Volkssturm an die Front geworfen - Hitler hatte da
bereits die Vernichtung der Lebensgrundlagen des deutschen Volkes befohlen
- sondern mit den letzten ausgehungerten Gefangenen auf Todesmärsche
geschickt, die kaum der Vertuschung der Verbrechen dienten, führten
sie doch keineswegs durch menschenleere Gegenden. Diese Todesmärsche
waren eine Fortsetzung des Terrors und hörten auch nicht auf, als
Himmler ihr Ende befahl.
Mit drastischen Beispielen belegt Goldhagen, daß Deutsche nicht
einfach nur Befehlen gehorchten, sondern ein erhebliches Maß an
"Eigeninitiative" bei den Morden an der jüdischen Menschen
entwickelten. Und ebenso zeigt Goldhagen, daß die Täter freiwillig
handelten, daß sie alle Möglichkeiten haften, sich dieser
"Handarbeit" zu entziehen, ohne daß ihnen irgendeine
Gefahr drohte. Waren die Gaskammern vielleicht doch nicht so effektiv,
wie weithin angenommen wird? Ging es vielleicht nur darum, "das
Gemüt der Täter zu schonen', damit diese nicht mehr direkt
mit dem Töten konfrontiert waren?
Nach dem Lesen dieser Buchpassagen ist klar: Dieser Völkermord
war nicht so sauber und industriell, wie der Blick auf Auschwitz vermuten
lassen könnte, und es gibt viel mehr Täter als bisher angenommen
Neben den Schreibtischtätern, die Zahngold und anderes geraubtes
Vermögen in die Schweiz überwiesen, gab es Tausende, die gemordet
und gequält haben, denen das Blut ihrer Opfer in das Gesicht spritzte
und die trotzdem weitermachten, und die meisten von ihnen wurden nie
dafür belangt!
Noch heute dürften einige von Ihnen ohne Schuld und Reue unter
uns leben.
Alle diese so bisher kaum verbreiteten Umstände, lassen den Holocaust
noch unverständlicher erscheinen als er uns schon bisher erschien.
Warum haben diese deutschen Männer (und teilweise auch deutschen
Frauen) jüdischen Menschen gequält und gemordet, wenn sie
nicht mußten? Daniel Goldhagen antwortet: aus Antisemitismus,
gar aus Vernichtungs-Antisemitismus, aus dem Wunsch, die Juden nicht
nur zu entrechten, zu vertreiben oder ihrer Identität zu berauben,
sondern sie körperlich zu vernichten. Es ist diese Erklärung
Goldhagens, die die "wissenschaftliche" Öffentlichkeit
zu teilweise heftigen Reaktion veranlaßte. Leider erschließt
sich einem diese Auseinandersetzung ohne Hintergrundwissen kaum, denn
Goldhagen kritisiert seine Kollegen, ohne die Differenzen gegenüberzustellen.
Die Gegenthese zu Goldhagen - und sie wird u.a. von Christopher Browning
vertreten, der sich in seinem Buch "Ganz normale Männer"
mit dem gleichen Polizeibataillion beschäftigt hat - lautet: die
Täter handelten aus Karrieredenken, aus Perfektionismus, aus Gewinnsucht,
aus Pflichtbewußtsein, aus Konformitätsdruck, aus Disziplin,
Gehorsam und männlicher Härte. Ihre Bereitschaft, sich - freiwillig,
denn die demokratischen Autoritäten der Weimarer Republik erkannten
sie nicht an - einer Autorität zu unterwerfen, und so auch sich
aus persönlicher Verantwortung zu stehlen, führte zu einer
Gewöhnung an das Morden. Und im KZ waren sie von den tödlichen
Frontkämpfen weit entfernt.
Daß diese Motive das Handeln in Einzelfällen erklären
können bestätigt auch Goldhagen. Und daß nicht alle
Täter "Hitlers willige Vollstrecker" waren, daß
viele Augenzeugen den Opfern der Todesmärsche mit Nahrung und Unterkunft
helfen wollten, von den Bewachern daran aber gehindert wurden, diese
Beispiele gibt es im Buch selbst Trotzdem beharrt Goldhagen auf Antisemitismus
als entscheidenden Motiv. Er behauptet nicht die Kollektivschuld der
Deutschen, sagt aber, daß der Antisemitismus weitverbreitet war
im deutschen Volk und es kaum Widerstand gegen den Holocaust gab, -
warum aber spricht Himmler dann von einem "niemals zu nennenden
Ruhmesblatt"?! - vielmehr die meisten Deutschen, wenn sie in die
Situation der Teilnahme an Judenmord gekommen wären, bedenkenlos
mitgemacht hätten.
Laut Goldhagen war Antisemitismus über Jahrhunderte im deutschen
Volk präsent, auch wenn er nicht immer offen zu Tage trat. Ursprünglich
christlich motiviert, wandelte sich der Antisemitismus um 19. Jahrhundert
zu einem rassisch begründeten mit gravierenden Unterschieden. Während
der christliche Antisemitismus auf die Bekehrung der Juden zielte -
insofern auch bereits "eliminatorisch" gewesen sei, weil auf
Auslöschung der Jüdischen Identität gerichtet - gab es
im rassischen Antisemitismus keine Möglichkeit der Opfer, ihrem
Judensein zu entkommen, weil weder Taufe noch vollständige Anpassung
etwas an der angeblichen biologischen Bestimmung, das deutsche Volk
zu verderben und zu zerstören ändern konnte. Schon damals
wurde von vielen Antisemiten neben Diskriminierung, Ghetto und Vertreibung
die Vernichtung der Juden als Ziel propagiert.
Goldhagen stellt sich mit dieser Interpretation auf die Seite der die
intentionalistischen Holocaust-Theorien, wonach das Geschehen von Auschwitz
von Anfang an Absicht war und Hitler zielgerichtet darauf hingearbeitet
hat, im Gegensatz zu den funktionalistischen Theorien wonach
Auschwitz ein Zufall war, verursacht aus Antisemitismus, Diktatur, Krieg
und Konzentrationslager.
Es ist nicht meine Absicht, diesen Streit zu entscheiden, so vermessen
bin ich nicht. Doch die Konsequenzen dieses wissenschaftlichen Disputs
haben Bedeutung für uns alle. Denn Goldhagen sagt auch, daß
der Antisemitismus im deutschen Volk heute nicht mehr vorhanden sei.
Das klingt zu schön um wahr zu sein. Wie kommt es dann, daß
Ausländerfeindlichkeit und rassistische Übergriffe in "diesem
unseren Lande" mit teilweise den gleichen Parolen und personellen
Kontinuitäten stattfinden. Wirken hier nicht ganz andere Vorurteile
und Weltbilder weiter, die auch schon damals die Täter leiteten?
Angesichts dieser historischen Kontinuitäten ist es keineswegs
ausgeschlossen, daß von rechter Seite der Versuch unternommen
wird, eine neue faschistische Diktatur - in welcher Verpackung auch
immer - zu errichten. Dann aber würde uns ein "verschwundener"
Antisemitismus auch nicht vor dem Schlimmstem bewahren. Insofern macht
es sich Daniel Goldhagen mit seiner Erklärung zu leicht.
(Zuerst erschienen in LOUNGE Nummer 4 unter dem Titel "DIE SACHE
MIT DEM DANIEL JONAH GOLDHAGEN BUCH", Hannover, Juni 1997)
Nachtrag
2005:
Letztendlich läuft die Diskussion um den Holocaust immer wieder
auf die Frage hinaus: Warum? Daran haben sich schon viele die Köpfe
zerbrochen, Goldhagen war nicht der erste. Gunnar Heinsohn z.B. stellt
in seinem Buch "Warum Auschwitz?" (rororo, Hamburg 1995) die
These auf, Hitler sei es um die Vernichtung der jüdischen Ethik
(die Thoragesetze des Lebensschutzes und der Liebes- und Gerechtigkeitsgebote)
gegangen. Leider kann er aber ebenso wie Goldhagen mit seinem Erklärungsversuch
restlos überzeugen. Nicht gelesen habe ich "Hitlers Volksstaat.
Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus" von Götz Aly
(S. Fischer, Frankfurt/M 2005), der sich zwar oberflächlich "nur"
mit der Frage, was im 3.Reich eigentlich genau mit den Besitztümern
der Juden geschah, auseinandersetzt, aber die Zeitungsartikel über
dieses Buch legen nahe, dass dahinter eine größere historische
Wahrheit zu Tage tritt, die einen fast schon wieder von einer Kollektivschuld
der Deutschen sprechen lassen könnte: die Deutschen haben alle
von der Verfolgung der Juden profitiert, nicht nur individuell durch
die Arisierung von Geschäften, Firmen und sonstigem jüdischen
Besitz, sondern auch kollektiv, indem die vom Staat geraubten jüdischen
Vermögen die Wirtschaft ankurbelten und zu Steuergeschenken wie
Steuerfreiheit von Nacht- und Wochenendarbeitszuschlägen (okay,
diese gab es erst 1941 als Belohnung für den erfolgreichen Frankreichfeldzug)
führten. Damit sich kein Opfer gegen den Raub wehren konnte mussten
eben letztendlich alle Juden umgebracht werden. Die Judenverfolgung
in den besetzten Gebieten im 2. Weltkrieg diente auch dazu, die Wirtschaftssysteme
dort am laufen zu halten, die hohe Kaptalentnahmen durch die Besatzer
verkraften mussten, und gleichzeitig billigen Konsum der Landser zu
finanzieren. Von deren "Mitbringseln" z.B. aus Paris profitiert
dann auch wieder die Heimat. Das Motiv hinter Holocaust und Krieg war
also ein ökonomisches, nämlich die Ausplünderung der
"Feinde" - und weil Geld bekanntlich nicht stinkt konnte somit
guten Gewissens jeder Deutsche von den Verbrechen mitprofitieren, ohne
sich selbst die Finger schmutzig zu machen. Dieser Gedanken weitergedacht
stellt sich danach aber auch die Frage, ob nicht alle militärischen
Konflikte mindestens der Neuzeit letztendlich aus rein ökonomischen
Interessen geführt wurden und werden und eigentlich jedes Volk
schuldbeladen ist. Und war nicht auch bei 9/11 die Frage nach merkwürdigen
finanziellen Transaktion im Hintergrund zumindest anfänglich im
Raum? Warum redet da keiner mehr darüber? Dient jede Religion und
Ideologie nur zu ökonomischen Vorteilen? Ist die Menschheit möglicherweise
ein Raubtier, dass sich selbst auffrisst?
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