...gelesen...

Manfred Hilberger
"Das Rock- & Pop-Business" (Bandstand-Promotion, Mühlheim 1996)

Weil das zerschlissene soziale Netz oft keinen anderen Halt mehr bietet, ist Musik für viele Musiker heute nicht nur Unterhaltung, sondern auch eine Möglichkeit, den eigene Lebensunterhalt zu bestreiten. Jede Information, die dabei hilft, wird aufgegriffen, und deshalb erschien "Das Rock- & Pop-Business" von Manfred Hilberger überhaupt und liegt jetzt bereits in der 2. Auflage vor.
Dieser ökonomische Druck hat inzwischen zu ziemlich unappetitlichen Auswüchsen geführt, wie die u.a. vom Oberlehrer Heinz-Rudolf Kunze losgetretene Quoten Diskussion - "Deutsche! Hört Rock nicht von Ausländern!" - zeigt. Kaum ist Rock'n'Roll von breiteren Kreisen als Geschäft akzeptiert worden, schon sind die Hoffnungen so mancher Musikergeneration auf eine eigene Kultur und ein selbstbestimmtes Leben vergessen.
Auch Manfred Hilberger spricht im Vorwort seines Ratgebers zeitgeistmäßig vom "täglichen Überlebenskampf im Showbusiness" und "fleißiger und harter Arbeit an der Karriere", und redet damit einer entsolidarisierten Gesellschaft das Wort, in der angeblich nur der Kampf Jeder gegen Jeden einen gesellschaftlichen Erfolg bringt. Dabei bietet Hilberger nur einen Schnelldurchlauf durch alle bekannten Themen von der Übungsraumsuche bis zur Künstlersozialkasse. Damit ist aber niemanden geholfen, denn wer noch einen Übungsraum sucht, für den liegt die KSK in weiter Ferne - und umgekehrt.
Hilfreich ist dieses Heft nur für diejenigen. die sich einen allgemeinen Überblick-, über die geschäftlichen Möglichkeiten des Rock- und Pop-Geschäfts verschaffen wollen. Wer tatsächlich Musik professioneller betreiben will, sollte mit "Life is Life. Booking und Promotion von Konzerten und Tourneen" von Elke Fleing (Gerig Music, Bergisch Gladbach 1995) anfangen, und später zu Robert Lyngs "Die Praxis im Musikbusiness" (PPV Presse Projects Verlag, München 1995) greifen.
(Zuerst erschienen in ROCKNEWS Rockmagazin für Hannover und Niedersachsen Nummer 47, Hannover, Oktober 1997)

Gillian G. Gaar
"Rebellinnen" (Argument-Verlag, Hamburg 1994)

Hand aufs Herz, wieviel Frauen fanden in der letzten rocknews Erwähnung im Vergleich zu "uns" Männern ? Natürlich kennt Mann viele Frauen im Rockgeschäft, doch von einer Chancengleichheit sind wir noch weit entfernt, solange Frauen in erster Linie als Frauen und nicht als Musiker wahrgenommen werden. Hans-a-plast (aus Hannover) sangen schon vor bald 20 Jahren: "Für ne Frau ganz gut." Stimmt wohl immer noch, oder? (Wie wäre es mal mit einer rocknews nur von Frauen über Frauen?)
Gillian G. Gaars Buch wird hieran wohl nichts ändern, ist aber als Schlaglicht auf die Diskriminierung von Frauen im Rock'n'Roll sehr hilfreich. "Rebellinnen" erzählt die Geschichte vieler Frauen im Rockgeschäft, wobei die Anfänge dieser Geschichte der interessantere Teil sind. Schon mal von Peggy Jones ("entdeckt" von Bo Diddley), Ellie Greenwich (Komponistin und Produzentin für die Shangri-Las), Fanny (u.a. mit Patti Quatro) oder Helen Reddy (1972 ein Nummer 1-Hit in den USA mit "I Am Woman") gehört? Auch die Frauen von Olivia Records sind heute mehr oder minder vergessen, weil sie nie die Grenzen der Frauenbewegung überschreiten konnten, und Yoko Ono wurde immer nur als Frau von John Lennon wahrgenommen, aber kaum als eigenständige Künstlerin.
Leider ist das Buch etwas trocken zu lesen, kommt streckenweise über die bloße Aufzählung von Lebensläufen und Chartplatzierungen nicht hinaus und ist daneben geographisch mehr oder minder auf die USA mit etwas England und Kanada beschränkt. Und Gaar versäumt es leider, die Geschichte ihrer Rebellinnen in die allgemeinen Entwicklungen der Rockmusik, bzw. der Gesellschaft einzufügen. So bleibt unklar, ob Rockmusik aus weiblicher Sicht eine Speerspitze oder ein Nachzügler der Gleichberechtigung ist. Trotzdem ein wichtiges Buch, weil es sexistische Stereotype im Rockgeschäft offenlegt.
(Zuerst erschienen in ROCKNEWS Rockmagazin für Hannover und Niedersachsen Nummer 47, Hannover, Oktober 1997)

Michael Ronellenfitsch
"Rock & Roll und Recht" (W.Kohlhammer, Stuttgart 1998
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Als ich mir dieses Buch bestellt hatte ich die Erwartung, etwas über einzelne konkrete Konflikte zwischen Rock'n'Rollern und dem Gesetz zu lesen, schließlich hat der Name Ronellenfitsch in juristischen Kreisen einen guten Namen. Michael Ronellenfitsch, nach eigenen Angaben Sologitarrist der Rock'n'Roll-Band "Rock Ola" und Inhaber eines Lehrstuhls für öffentliches Recht in Tübingen, erzählt uns aber erst mal die üblichen Geschichten über die Entstehung des Rock'n'Roll (Ike Turner, Bill Haley, Alan Freed usw., eben alles was in einem halbwegs seriösen Rockbuch auch stände). Danach gibt es einige Kapitel zur amerikanischen Schallplattenindustrie und den Musikverlegern, zum Rassen- und Generationskonflikt in den 50er Jahren und schließlich dem Payola-Skandal, der systematischen Bestechung von DJs um bestimmte Platten im Rundfunk zu bevorzugen.
In der zweiten Hälfte des Buchs wendet sich Ronellenfitsch der Bundesrepublik Deutschland zu und klopft die Themen Schallplattenindustrie und Generationskonflikt aus hiesiger Perspektive ab. Das war es dann - keine Ausführungen zu einzelnen Rechtsfällen betreffend einzelner Musiker oder gegenüber dem Publikum. Das Buch hätte auch aus der Hand eines Musik- oder Sozialwissenschaftlers oder Rockjournalisten stammen können. Die einzige Rechtfertigung findet der Titel in einigen Seiten, inwieweit rechtliche Themen in den Texten des Rock'n'Roll thematisiert werden. Zu Recht weist aber Hain in seiner Rezension in DÖV 2000, 216, darauf hin, das juristische Themen erst in späteren Jahren, als der Rock'n'Roll nach Ansicht Ronellenfitschs brav wurde - eine puristische Sicht, die m.E. den späteren ästhetischen Entwicklungen der Rockmusik nicht gerecht wird -, stärker in den Texten thematisiert wurden und zu aufrüttelnden Anklagen wie "Hurricane" von Bob Dylan über den zu Unrecht im Gefängnis sitzenden schwarzen Boxer "Hurricane" Carter führte. Auch wenn das Buch nicht schlecht ist kann das Fazit doch nur lauten: Thema verfehlt.
(nicht realisierte Besprechung für ROCKNEWS Rockmagazin für Hannover und Niedersachsen, fertiggestellt 24.10.05)

Gunnar Berndorff/Barbara Berndorff/Knut Eigler
"Musikrecht. Die häufigsten Fragen des Musikgeschäfts - Die Antworten" (PPV Presse Project Verlag, Bergkirchen 1999)

Ähnlich wie Robert Lyngs „Die Praxis im Musikbusiness“ ist „Musikrecht. Die häufigsten Fragen des Musikgeschäfts – Die Antworten“ von den Rechtsanwälten Gunnar Berndorff, Barbara Berndorff und Knut Eigler ein Ratgeber, der sich an Musiker wendet, die sich mit den rechtlichen Fragen des Musikgeschäft beschäftigen wollen. Anders als Lyng haben die Autoren allerdings den Text in einzelne Fragen aufgeteilt, was den Vorteil hat, dass die Leser das Buch auch abschnittsweise lesen können, je nachdem, welches Problem gerade ansteht. Themen des Buchs ist das Urheberrecht mit aktuellen Fragen wie Remix und Sampling oder auch VRPro, das neue Abrechnungssystem der GEMA, daneben Platten- und Produzentenverträge, die Rechtsbeziehungen innerhalb von Bands und die Gründung eigener Labels und Musikverlage. Allerdings empfiehlt sich doch, alle Fragen der einzelnen Kapitel zusammen zu lesen, weil die Antworten oft auf andere Stellen des Buchs verweisen. Auch ist die Sprache oft sehr juristisch, also für Laien mühsam zu lesen. Manches erschließt sich auch erst richtig wenn man den juristischen Hintergrund kennt. Dazwischen gibt es aber auch immer wieder Beispiele, die die Antworten etwas auflockern und anschaulicher machen, davon hätte es aber doch deutlich mehr gebraucht. Insgesamt also ein Buch, das am besten mit etwas Vorwissen benutzt wird, für Laien nicht so zu empfehlen.
(nicht realisierte Besprechung für ROCKNEWS Rockmagazin für Hannover und Niedersachsen, fertiggestellt 27.03.08)

Daniel Jonah Goldhagen
"Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust" (Siedler Verlag, München 1996)

Wie es dem Russen geht, wie es dem Tschechen geht, ist mir total gleichgültig. (...) Ob die anderen Völker in Wohlfahrt leben, ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur soweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen.
Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht: Das jüdische Volk wird ausgerottet. Sagt ihnen jeder Parteigenosse, ganz klar, steht in unserem Programm drin, Ausrottung der Juden, machen wir, pah, Kleinigkeit. Und dann kommen sie alle, alle die braven 80 Millionen Deutschen, jeder hat seinen anständigen Juden, sagt: Alle anderen sind Schweine, der ist'n prima Jude, und- so gesehen- es durchgestanden hat keiner.
Von euch werden die meisten wissen, wenn 100 Leichen beisammenliegen, wenn 500 daliegen, oder wenn 1000 daliegen. Und dies durchgehalten zu haben und dabei, abgesehen von menschlichen Ausnahmeschwächen, anständig geblieben zu sein, hat uns hart gemacht und ist ein niemals genanntes und niemals zu nennendes Ruhmesblatt. Wir haben das moralische Recht, wir haben die Pflicht unserem Volk gegenüber, das zu tun, dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen. (...) Insgesamt aber können wir sagen, wir haben diese schwerste Aufgabe in Liebe zu unserem Volk getan und wir haben keinen Schaden in unserem Innern, in unserer Seele, in unserem Charakter daran genommen. (Geheimrede von Heinrich Himmler am 24.10. 1943 vor SS-Führern in Posen).

Vor einigen Monaten traf ich in der düsseldorfer Fußgängerzone eine Erkrather Hausfrau, die Unterschriften gegen Daniel Jonah Goldhagen sammelte, der einige Wochen später den Demokratiepreis der Zeitschrift "Blätter für deutsche und internationale Politik" für sein Buch "Hitlers willige Vollstrecker" erhalten sollte. Die Unterschriftensammlerin wollte bei dieser Gelegenheit Goldhagen ihre Listen überreichen und vom ihm verlangen, daß er sich beim Deutschen Volk entschuldigt. Wieso? fragte ich. Weil er in seinem Buch schreibe, daß das deutsche Volk an Auschwitz schuld sei, antwortete sie mir. Aber hat Daniel Goldhagen nicht ausdrücklich in Vorwort und Einleitung dieses 700 Seiten-Wälzers erklärt, daß er die Kollektivschuldthese nicht vertrete? Nein, antwortete die Frau, das stehe da überall drinnen.
Während ich versuchte, ihr Flugblatt zu verstehen, unterhielt sich die Frau mit Passanten an ihrem Stand und erklärte, daß sie nicht wisse, ob Juden in Auschwitz vergast worden seien oder nicht, denn sie sei nicht dabei gewesen. Ich wies sie darauf hin, daß sie das sehr wohl wissen könne, denn es gäbe ja Belege und Zeugenaussagen von Opfern und Tätern. Sie müsse sich nur entscheiden, ob sie diese historischen Dokumente akzeptiere oder nicht. Da nahm sie mir ihre Flugblätter wieder weg und würdigte mich keines Blickes mehr.
Hätte ich damals das Buch von Goldhagen schon ganz durchgelesen gehabt. so hätte ich die Dame vielleicht gefragt, ob sie nicht lieber Unterschriften für das Buch sammeln wolle.

Natürlich ist es absurd zu behaupten, daß Goldhagen den Holocaust verteidigen oder verharmlosen würde. Dazu listet er viel zu viele Fakten auf, die in der breiten Öffentlichkeit wenig bekannt sind. Das fängt an bei antisemitischen Zitaten von Kirchenvertretern, die eigentlich Gegner des Nationalsozialismus waren, und hört bei Details des Holocausts nicht auf. Das, was wohl die große öffentliche Aufmerksamkeit von "Hitlers willige Vollstrecker" hervorgerufen hat, ist mit die Erkenntnis, daß die Gaskammern von Auschwitz, Treblinka, Stutthof und Kulmhof, um einige Vernichtungslager auf polnischem Boden zu nennen, nur ein Teil des Morden waren.
Wohl die Hälfte aller jüdischen Opfer kam nicht so "ordentlich und deutsch" ums Leben. Sie wurden nicht industriell, sondern in "guter deutscher Handarbeit" endgelöst. Polizisten erschossen Juden, die außerhalb ihrer Wohnorte oder Ghettos ohne Erlaubnis angetroffen wurden. Polnische Juden wurden bei Razzien deutscher Polizeibataillone zusammengetrieben, in die Wälder geführt, wo sie ihre Gräber selbst ausheben mußten, und dort stundenlang der Reihe nach durch Genickschuß exekutiert, bis die Uniformen der Polizisten voller Blut, Gehirn und Knochensplitter waren. Waren die Opfer nicht sogleich tot, so wurden sie noch lebend verscharrt.
Die "Überlebenden" dieser Razzien und Ghettosäuberungen wurden, wenn sie nicht gleich in den Gaskammern landeten, in Lagern mit sinnlosen Arbeiten ohne ausreichend Nahrung und bei ständigem Terror zu Tode gequält. Und als der Vernichtungskrieg zu Ende ging und die sowjetischen Befreier vorrückten, da wurden die Wachmannschaften nicht etwa mit dem Volkssturm an die Front geworfen - Hitler hatte da bereits die Vernichtung der Lebensgrundlagen des deutschen Volkes befohlen -‚ sondern mit den letzten ausgehungerten Gefangenen auf Todesmärsche geschickt, die kaum der Vertuschung der Verbrechen dienten, führten sie doch keineswegs durch menschenleere Gegenden. Diese Todesmärsche waren eine Fortsetzung des Terrors und hörten auch nicht auf, als Himmler ihr Ende befahl.
Mit drastischen Beispielen belegt Goldhagen, daß Deutsche nicht einfach nur Befehlen gehorchten, sondern ein erhebliches Maß an "Eigeninitiative" bei den Morden an der jüdischen Menschen entwickelten. Und ebenso zeigt Goldhagen, daß die Täter freiwillig handelten, daß sie alle Möglichkeiten haften, sich dieser "Handarbeit" zu entziehen, ohne daß ihnen irgendeine Gefahr drohte. Waren die Gaskammern vielleicht doch nicht so effektiv, wie weithin angenommen wird? Ging es vielleicht nur darum, "das Gemüt der Täter zu schonen', damit diese nicht mehr direkt mit dem Töten konfrontiert waren?
Nach dem Lesen dieser Buchpassagen ist klar: Dieser Völkermord war nicht so sauber und industriell, wie der Blick auf Auschwitz vermuten lassen könnte, und es gibt viel mehr Täter als bisher angenommen Neben den Schreibtischtätern, die Zahngold und anderes geraubtes Vermögen in die Schweiz überwiesen, gab es Tausende, die gemordet und gequält haben, denen das Blut ihrer Opfer in das Gesicht spritzte und die trotzdem weitermachten, und die meisten von ihnen wurden nie dafür belangt!
Noch heute dürften einige von Ihnen ohne Schuld und Reue unter uns leben.

Alle diese so bisher kaum verbreiteten Umstände, lassen den Holocaust noch unverständlicher erscheinen als er uns schon bisher erschien. Warum haben diese deutschen Männer (und teilweise auch deutschen Frauen) jüdischen Menschen gequält und gemordet, wenn sie nicht mußten? Daniel Goldhagen antwortet: aus Antisemitismus, gar aus Vernichtungs-Antisemitismus, aus dem Wunsch, die Juden nicht nur zu entrechten, zu vertreiben oder ihrer Identität zu berauben, sondern sie körperlich zu vernichten. Es ist diese Erklärung Goldhagens, die die "wissenschaftliche" Öffentlichkeit zu teilweise heftigen Reaktion veranlaßte. Leider erschließt sich einem diese Auseinandersetzung ohne Hintergrundwissen kaum, denn Goldhagen kritisiert seine Kollegen, ohne die Differenzen gegenüberzustellen.
Die Gegenthese zu Goldhagen - und sie wird u.a. von Christopher Browning vertreten, der sich in seinem Buch "Ganz normale Männer" mit dem gleichen Polizeibataillion beschäftigt hat - lautet: die Täter handelten aus Karrieredenken, aus Perfektionismus, aus Gewinnsucht, aus Pflichtbewußtsein, aus Konformitätsdruck, aus Disziplin, Gehorsam und männlicher Härte. Ihre Bereitschaft, sich - freiwillig, denn die demokratischen Autoritäten der Weimarer Republik erkannten sie nicht an - einer Autorität zu unterwerfen, und so auch sich aus persönlicher Verantwortung zu stehlen, führte zu einer Gewöhnung an das Morden. Und im KZ waren sie von den tödlichen Frontkämpfen weit entfernt.
Daß diese Motive das Handeln in Einzelfällen erklären können bestätigt auch Goldhagen. Und daß nicht alle Täter "Hitlers willige Vollstrecker" waren, daß viele Augenzeugen den Opfern der Todesmärsche mit Nahrung und Unterkunft helfen wollten, von den Bewachern daran aber gehindert wurden, diese Beispiele gibt es im Buch selbst Trotzdem beharrt Goldhagen auf Antisemitismus als entscheidenden Motiv. Er behauptet nicht die Kollektivschuld der Deutschen, sagt aber, daß der Antisemitismus weitverbreitet war im deutschen Volk und es kaum Widerstand gegen den Holocaust gab, - warum aber spricht Himmler dann von einem "niemals zu nennenden Ruhmesblatt"?! - vielmehr die meisten Deutschen, wenn sie in die Situation der Teilnahme an Judenmord gekommen wären, bedenkenlos mitgemacht hätten.

Laut Goldhagen war Antisemitismus über Jahrhunderte im deutschen Volk präsent, auch wenn er nicht immer offen zu Tage trat. Ursprünglich christlich motiviert, wandelte sich der Antisemitismus um 19. Jahrhundert zu einem rassisch begründeten mit gravierenden Unterschieden. Während der christliche Antisemitismus auf die Bekehrung der Juden zielte - insofern auch bereits "eliminatorisch" gewesen sei, weil auf Auslöschung der Jüdischen Identität gerichtet - gab es im rassischen Antisemitismus keine Möglichkeit der Opfer, ihrem Judensein zu entkommen, weil weder Taufe noch vollständige Anpassung etwas an der angeblichen biologischen Bestimmung, das deutsche Volk zu verderben und zu zerstören ändern konnte. Schon damals wurde von vielen Antisemiten neben Diskriminierung, Ghetto und Vertreibung die Vernichtung der Juden als Ziel propagiert.
Goldhagen stellt sich mit dieser Interpretation auf die Seite der die intentionalistischen Holocaust-Theorien, wonach das Geschehen von Auschwitz von Anfang an Absicht war und Hitler zielgerichtet darauf hingearbeitet hat, im Gegensatz zu den funktionalistischen Theorien ‚ wonach Auschwitz ein Zufall war, verursacht aus Antisemitismus, Diktatur, Krieg und Konzentrationslager.

Es ist nicht meine Absicht, diesen Streit zu entscheiden, so vermessen bin ich nicht. Doch die Konsequenzen dieses wissenschaftlichen Disputs haben Bedeutung für uns alle. Denn Goldhagen sagt auch, daß der Antisemitismus im deutschen Volk heute nicht mehr vorhanden sei. Das klingt zu schön um wahr zu sein. Wie kommt es dann, daß Ausländerfeindlichkeit und rassistische Übergriffe in "diesem unseren Lande" mit teilweise den gleichen Parolen und personellen Kontinuitäten stattfinden. Wirken hier nicht ganz andere Vorurteile und Weltbilder weiter, die auch schon damals die Täter leiteten? Angesichts dieser historischen Kontinuitäten ist es keineswegs ausgeschlossen, daß von rechter Seite der Versuch unternommen wird, eine neue faschistische Diktatur - in welcher Verpackung auch immer - zu errichten. Dann aber würde uns ein "verschwundener" Antisemitismus auch nicht vor dem Schlimmstem bewahren. Insofern macht es sich Daniel Goldhagen mit seiner Erklärung zu leicht.
(Zuerst erschienen in LOUNGE Nummer 4 unter dem Titel "DIE SACHE MIT DEM DANIEL JONAH GOLDHAGEN BUCH", Hannover, Juni 1997)

Nachtrag 2005:
Letztendlich läuft die Diskussion um den Holocaust immer wieder auf die Frage hinaus: Warum? Daran haben sich schon viele die Köpfe zerbrochen, Goldhagen war nicht der erste. Gunnar Heinsohn z.B. stellt in seinem Buch "Warum Auschwitz?" (rororo, Hamburg 1995) die These auf, Hitler sei es um die Vernichtung der jüdischen Ethik (die Thoragesetze des Lebensschutzes und der Liebes- und Gerechtigkeitsgebote) gegangen. Leider kann er aber ebenso wie Goldhagen mit seinem Erklärungsversuch restlos überzeugen. Nicht gelesen habe ich "Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus" von Götz Aly (S. Fischer, Frankfurt/M 2005), der sich zwar oberflächlich "nur" mit der Frage, was im 3.Reich eigentlich genau mit den Besitztümern der Juden geschah, auseinandersetzt, aber die Zeitungsartikel über dieses Buch legen nahe, dass dahinter eine größere historische Wahrheit zu Tage tritt, die einen fast schon wieder von einer Kollektivschuld der Deutschen sprechen lassen könnte: die Deutschen haben alle von der Verfolgung der Juden profitiert, nicht nur individuell durch die Arisierung von Geschäften, Firmen und sonstigem jüdischen Besitz, sondern auch kollektiv, indem die vom Staat geraubten jüdischen Vermögen die Wirtschaft ankurbelten und zu Steuergeschenken wie Steuerfreiheit von Nacht- und Wochenendarbeitszuschlägen (okay, diese gab es erst 1941 als Belohnung für den erfolgreichen Frankreichfeldzug) führten. Damit sich kein Opfer gegen den Raub wehren konnte mussten eben letztendlich alle Juden umgebracht werden. Die Judenverfolgung in den besetzten Gebieten im 2. Weltkrieg diente auch dazu, die Wirtschaftssysteme dort am laufen zu halten, die hohe Kaptalentnahmen durch die Besatzer verkraften mussten, und gleichzeitig billigen Konsum der Landser zu finanzieren. Von deren "Mitbringseln" z.B. aus Paris profitiert dann auch wieder die Heimat. Das Motiv hinter Holocaust und Krieg war also ein ökonomisches, nämlich die Ausplünderung der "Feinde" - und weil Geld bekanntlich nicht stinkt konnte somit guten Gewissens jeder Deutsche von den Verbrechen mitprofitieren, ohne sich selbst die Finger schmutzig zu machen. Dieser Gedanken weitergedacht stellt sich danach aber auch die Frage, ob nicht alle militärischen Konflikte mindestens der Neuzeit letztendlich aus rein ökonomischen Interessen geführt wurden und werden und eigentlich jedes Volk schuldbeladen ist. Und war nicht auch bei 9/11 die Frage nach merkwürdigen finanziellen Transaktion im Hintergrund zumindest anfänglich im Raum? Warum redet da keiner mehr darüber? Dient jede Religion und Ideologie nur zu ökonomischen Vorteilen? Ist die Menschheit möglicherweise ein Raubtier, dass sich selbst auffrisst?


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