...gelesen...
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Noam
Chomsky
"War Against People. Menschenrechte und Schurkenstaaten" (Europa
Verlag 2001)
Wer immer ein Unbehagen bezüglich der politischen
und wirtschaftlichen Macht der Vereinigten Staaten von Amerika in seiner
Bauchgegend gespürt haben sollte, nach diesem Buch dürfte
es ihm zu Kopf gestiegen sein. Chomsky fügt aus einem Puzzle von
Tatsachen ein vernichtendes Bild amerikanischer Außen- und Wirtschaftpolitik
zusammen, dass einfach zu real ist, um als Verschwörungstheorie
abgetan zu werden. Doch lasst uns ein paar Schritte zurückgehen:
Wie nähert mensch sich einem solchen politischen Buch? Entweder
allein über den Inhalt oder über den Autor. Die erste Methode
ist eigentlich veraltet, weil sie ja eine inhaltliche Auseinandersetzung
verlangen würde - und das ist einfach zu schwierig heute, wo Journalismus
und Politik praktisch Synonyme für Dummheit oder zumindest (gesundes
oder gefährliches) Halbwissen sind (Haben diese Menschen eigentlich
bei so viel Schützenfesten, Grundsteinlegungen und Pressekonferenzen
noch Zeit sich fortzubilden indem sie politische Bücher lesen?).
Also, wie können wir dem Autor ans Zeug flicken, um das Buch in
den Mülleimer der Geschichte zu befördern? Chomsky ist Amerikaner,
Professor gar am MIT, mit wissenschaftlichen Ehren überschüttet,
also menschlich und von seiner Herkunft nicht angreifbar. Schon mal
schlecht. Chomsky steht aber politisch links und war schon Kritiker
des Vietnamkriegs. Super, der Mann ist also Kommunist, also ist alles
was er schreibt ideologisch verbohrt und daher irrelevant. Und so lügen
wir uns weiter unsere Weltsicht zusammen, indem wir nur die Fakten wahrnehmen,
die uns in den Kram passen, anstatt anhand aller erreichbaren Fakten
zu überprüfen, ob unser Weltbild noch mit der Realität
übereinstimmt. Und so wird dieses Buch leider nur von politischen
Wirrköpfen gelesen, die das eh alles schon vorher gewusst haben.
Was schade ist, denn eigentlich wissen wir ja um all diese Fakten wie
die Kuba-Blockade-Politik, die Überstützung von südamerikanischen
Todesschwadronen, die Beteiligung des CIA am Putsch in Chile, die Agent
Orange-Flächenbombardements in Vietnam, die Propagandalügen,
um den Angriff auf den Irak zu rechtfertigen, wir wissen, dass täglich
Kinder im Irak sterben wegen der anglo-amerikanischen Blockadepolitik
im UN-Sicherheitsrat, die Kündigung internationaler Umweltschutzabkommen
durch George W. Bush, die geheimen amerikanischen Biowaffenlabors, aus
denen das Anthrax in den Terrorbriefen im September 2001 kam, deren
Urheber interessanterweise immer noch nicht ermittelt ist, "Kein
Blut für Öl", das amerikanische Schweigen zu den Giftgasmorden
durch Saddam Hussein an den irakischen Kurden (als dieser noch "befreundeter
Schweinehund" und Kämpfer gegen den bösen Iran war),
die Invasion auf Grenada, die Unterstützung der Taliban, solange
es gegen die Russen ging, die Verwicklungen des CIA in den internationalen
Drogenhandel, und so weiter. Es ist alles bekannt, es ist sogar wiederholtes
Motiv vom Hollywood-Produktionen, wie z.B. in "Rambo", es
gibt Dutzende Filme über illegale Machenschaften amerikanischer
Geheimdienste und Regierungsstellen (doch am Ende siegt immer der
einsame Einzelkämpfer und rettet die Ehre und das Ansehen des USA)
- und doch weigern sich die meisten Menschen, die Zusammenhänge
zu erkennen und Schlüsse daraus zu ziehen (und schauen sich
weiter Hollywood-Filme an und finden sie spannend, obwohl eigentlich
klar ist, dass in 99% der Filme der Held siegt - aber andererseits sind
wir ja auch geil auf Formel Eins-Autorennen, obwohl wir wissen, dass
die Fahrer die Crashs eigentlich überleben müssten, aber auf
das eine Mal, wo sie Pech haben, da warten wir drauf). Denn sie
würden richtig erschrecken: die USA nicht als Weltpolizist, sondern
als Weltterrorist, die andere Staaten nötigen und wenn nötig
mit blutiger Gewalt ihren Willen aufzwingen. Wer in seiner Jugend mal
was von Winnetou gehört hat (als Deutscher darf mensch natürlich
nicht sagen, dass die native americans (politisch korrekt für Indianer)
eigentlich Opfer eines Holocausts durch die weißhäutigen
Invasoren waren, weil das ja die Einzigartigkeit des Holocausts an den
jüdischen Menschen in Europa und Russland zwischen 1933 und 1945
in Frage stellen würde, aber die geschichtlichen Tatsachen und
die Menschenverluste legen Analogien nahe) kennt den Satz: "Bleichgesicht
sprechen mit gespaltener Zunge" und das tun die Repräsentanten
der USA noch heute, sprechen von Menschenrechten und treten sie gleichzeitig
mit Füßen, wenn es ihnen Vorteile bringt. Letztes konkretes
Beispiel: in den USA ist gerade ein Gesetz verabschiedet worden, dass
es der amerikanischen Regierung gestattet, auch militärische Mittel
zu greifen, um vor dem internationalen Strafgerichtshof angeklagte Amerikaner
zu befreien. Dies ist der Kern der heutigen Politikverdrossenheit, dass
Politiker anderen Menschen Regeln aufzwingen, an die sie sich nicht
selbst zu halten bereit sind. Dass Politiker A sagen und B meinen. Dass
sie sich als Herrenmenschen verstehen, die das Volk beherrschen dürfen
ohne sich für irgendwas zu rechtfertigen. Und genauso ist das Verhältnis
der USA gegenüber dem Rest der Welt. Wer dieses Buch liest kann
nicht mehr so weiterleben wie bisher.
PS: Konkret erzählt Chomsky davon, wie die US-amerikanische Politik
statt für Demokratie zu kämpfen Diktatoren wie Trujillo, Mobutu,
Marcos, Duvalier, Noriega und Hussein unterstützte, solange diese
die amerikanischen Interessen unterstützten und erst gegen sie
vorging, als diese aus ihrer ihnen zugedachten Rolle fielen; von dem
militärischen Kampf gegen die katholische Befreiungstheologie in
Mittel- und Südamerika; darüber wie die USA eigentlich gegen
jeden amerikanischen Staat vorgingen, in dem das Volk seine eigenes
Leben bestimmen wollte, wie Nicaragua, Chile, Guatemala, Kolumbien und
ganz brutal mit seiner Blockadepolitik seit 40 Jahren gegen Kuba; wie
Nicaragua 1986 vor dem Weltgerichtshof ein Urteil gegen die USA wegen
ungesetzlicher Anwendung von Gewalt (die sogenannte "humanitäre"
Hilfe für die Contras - erinnert sich noch jemand an Oliver North?!)
auf Zahlung von Reparationen erstritt, doch durch wirtschaftliche und
politische Erpressung auf den Anspruch verzichten musste.
Auf einer zweiten Ebene erzählt Chomsky von der globalen Ausbeutung,
der Zerstörung des Wohlstandes des Völker unter dem Banner
der Globalisierung; wie der wachsende Wohlstand auf der Erde nach dem
2. Weltkrieg 3 Grundlagen hatte, nämlich der Erklärung der
Menschenrechte (die die USA gerne mit Füßen traten, wenn
sie ihren Interessen im Wege waren und auch gegenüber der eigenen
Bevölkerung nicht einhielten), der UN-Charta über das gedeihliche
Zusammenleben des Staaten und Völker (die die USA auch gerne mal
ignorierten), sowie der Regulierung der Finanzmärkte, ein Kernpunkt
der sogenannten Wirtschaftsordnung von Bretton Woods; dass diese Wirtschaftsordnung
beginnend mit Nixon von der US-amerikanischen Regierung mit Unterstützung
von Wirtschafts- und Finanzverbänden bekämpft wurde; dass
ein zentraler Punkt dieses Kampfes die Behauptung war, dass Kapitalgesellschaften
eigene Persönlichkeitsrechte haben, die durch internationale Abkommen
inzwischen mehr Schutz als die Rechte der einzelnen Menschen genießen;
dass seit der Deregulierung der Finanzmärkte nicht nur der Wohlstand
in der dritten Welt drastisch gesunken, sondern auch das Wirtschaftswachstum
in den Industrienationen gesunken und z.B. auch das Einkommen der arbeitenden
Bevölkerung in den USA selbst rückläufig ist; wie Kredite
an Entwicklungsländer bei den Eliten versickern und dann die Bevölkerung
ausgepresst wird, um die Schulden abzuzahlen; und wie das Ganze von
den amerikanischen Massenmedien bejubelt und die düsteren Tatsachen
verschwiegen wird.
Fast möchte man sagen, dass dieses Buch ein schwarzes Loch ist,
der jeden Glauben an eine gerechte Welt in sich selbst zusammenstürzen
lässt.
(2002-06-25)
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Traudl
Junge, unter Mitarbeit von Melissa Müller
"Bis zur letzten Stunde. Hitlers Sekretärin erzählt ihr
Leben" (Claassen, 2002)
Natürlich ist die Vermarktung von diesem Buch
perfekt organisiert und übertreibt seine historische Bedeutung.
Traudl Junge war eine von Hitlers Sekretärinnen, allerdings auch
diejenige, der er sein politisches Testament diktierte, indem er das
deutsche Volk als zu schwach beschimpft, ihm in seinem Kampf gegen den
Rest der Welt zu unterstützen (Es wird mir ewig ein Rätsel
sein, wie ein(e) halbwegs intelligente(r) Deutsche(r) nach diesem Testament
Hitler ernsthaft noch als Idol bezeichnen kann, aber die Dummheit der
Menschen ist offenbar grenzenlos - oder die Neo-Nazis sind selbst Volksverräter?!).
Junges Text entstand 1947 und erzählt das relative banale Alltagsleben
des Führers im Krieg, dass kaum Rückschlüsse auf seine
tatsächliche Gedankenwelt ermöglicht. Daher fallen einige
interessante Stellen um so deutlicher auf, wie zum Beispiel der Ausschluss
von Henriette von Schirach (Ehefrau des Reichsjugendführers und
Tochter von Hitlers Leibfotografen) aus dem inner circle, nachdem sie
bei einer Teerunde Hitler fragte: "Mein Führer, ich habe kürzlich
in Amsterdam einen Zug deportierter Juden gesehen. Es ist entsetzlich,
wie diese armen Menschen aussehen, sie werden sicher sehr schlecht behandelt.
Wissen Sie das, und erlauben Sie das?" (Seite 101). 40 Seiten davor
beschreibt Junge ihr Unbehagen während der Fahrt im Führerzug:
"Ich musste daran denken, wie die anderen Züge aussahen, die
vielleicht zur gleichen Zeit durch die deutsche Landschaft fuhren, kalt
und unbeleuchtet, mit Menschen, die weder genug zu essen hatten noch
überhaupt einen bequemen Platz fanden - und ich hatte auf einmal
ein unbehagliches Gefühl." 1947, als Junge dies schrieb, dachte
sie immer noch an die deutschen Personenzüge im Krieg und nicht
die Deportationszüge nach Auschwitz. 1944 fällt ihr Mann in
der Normandie. Hans Junge war einer der Diener Hitlers, erkannte jedoch,
dass er seiner Umgebung und damit seinem Einfluss entkommen musste,
um sich ein eigenes Bild der Situation machen zu können (Seite
110). Nach der Heirat mit Traudl lies er sich an die Front abkommandieren.
Völlig verändert kam er zurück mit dem Gefühl, dass
Hitler "die wahre Situation nicht mehr überblickte" (Seite
131). Hitler selbst mied nach Beginn des Kriegs den Kontakt mit der
Bevölkerung und reiste nachts. "Niemals hat Hitler gesehen,
wie der Krieg in der Heimat aussah, wie groß die Zerstörungen
und Verwüstungen waren" (Seite 140). Noch einige andere Stellen
fallen auf, insbesondere das Diktat von Hitlers politischen Testament,
doch es bleibt unklar inwieweit die geschilderten Gefühle Junges
die damaligen oder die aus der Distanz von 1947 sind.
Müller kommentiert behutsam Junges Erinnerungen und erzählt
ihren Lebensweg nach 1945, wie sie in die westdeutsche Gesellschaft
ohne großes Nachfragen integriert wird. Die Standartentschuldigung
"Du warst doch noch so jung" kommt ihr jedoch in den 60er
Jahren abhanden, als sie sich vor einer Gedenktafel des Schicksals von
Sophie Scholl bewusst wird, die 1943 wegen Verteilens von Flugblättern
gegen Hitler hingerichtet wurde. Traudl Junge war 22 Jahre alt, als
sie Hitlers Sekretärin wurde, Sophie Scholl 1 Jahr jünger
und hatte erkannt, dass sie unter einem Verbrecherregime lebte. "Mit
einem Mal kam mir die Entschuldigung abhanden" (Seite 261). Dies
ist der interessante Aspekt an Traudl Junges Geschichte, wie sie selbst
ohne direkten Anstoß von außen ein kritisches Verhältnis
zu ihrer eigenen Geschichte entwickelt. Man möchte es die eigentliche
menschliche Größe nennen, die Läuterung, dass was Richter
und Gesellschaft von verurteilten Tätern verlangen, aber die deutsche
Gesellschaft nach 1945 nicht schaffte, weil sie sich selbst gegenseitig
entschuldigte, und die alliierten Ankläger selbst untereinander
zerstritten waren und jeder sein eigenes Süppchen kochte. Niemand
hat Junge angeklagt und doch hat sie sich selbst geläutert.
(2002-06-25)
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Noam
Chomsky
"The Attack. Hintergründe und Folgen" (Europa Verlag, 2002)
Dieses Buch ist keine authentische Übersetzung
der amerikanischen Originalveröffentlichung "9-11", die
als Interviewband erschien. Denn die Interviews wurde für die deutsche
Ausgabe zu Essays umgeschrieben. Ob dabei die inhaltliche Aussage erhalten
geblieben ist weiß ich nicht. Der Effekt ist jedenfalls, dass
das Buch nach mehr erscheint als das Original vorgibt. Eine Sammlung
von Interviews ist im Prinzip nur ein Remix und Edit der bisherigen
Veröffentlichungen von Chomsky, bekannte Thesen und Theorien angewandt
auf eine neue Situation. Das ganze in Essays umzuschreiben bedeutet,
dem Inhalt eine größere Legitimation zuzuschreiben (weil
in Essays ja mehr Arbeit reingesteckt wird als in Interviews, auch wenn
das keine qualitativen Unterschiede zur Folge haben muss) als tatsächlich
vorhanden ist. Egal, auch wenn dieses Buch wie ein Schnellschuss wirkt
(trotz der Umschreibung der Interviews in Essays), so ist es doch eine
gute Einführung in Chomskys Denken und vertieft Aspekte, die bei
der Diskussion über die Folgen des 11. September 2001 oft übersehen
werden. Zum Beispiel dass auch die USA selbst als (christlich-) fundamentalistischer
Staat angesehen werden können (ganz aktuell der Aufruhr über
das Urteil eines Bundesgerichts in Kalifornien, dass der Schuleid "one
nation under God" verfassungswidrig sein soll, weil er die Trennung
von Staat und Religion missachte - erinnert sich noch jemand an die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Kruzifixen in bayrischen
Klassennzimmern?), der kein Problem mit islamischen Fundamentalismus
hat, wenn er in befreundeten Staaten wie Saudi-Arabien blüht, oder
hilft gegen die Russen zu kämpfen (Afghanistan), andererseits sehr
wohl Probleme mit dem Christentum hat, wenn dieses z.B. in Form der
Befreiungstheologie der katholischen Kirche in Amerikas Hinterhof (Mittel-
und Südamerika) die Menschen zu einem selbstbestimmten Leben anleitet.
Die beliebte Theorie vom Kampf der Kulturen erweist sich somit als blühender
Blödsinn. Interessant ist auch der Hinweis auf die Informationsfreiheit
(mehr dazu im Chomskys Buch "War against people"), die gerne
als Druckmittel gegen andere Staaten benutzt wird, aber dann endet,
wenn sie tatsächlich ausgeübt wird. Der Emir von Qatar hat
öffentlich erklärt, die amerikanische Regierung habe von ihm
verlangt, Druck auf den Fernsehsender Al-Dschasira auszuüben, damit
Osama bin Laden dort kein Forum mehr bekomme (das erinnert mich daran,
dass mal ein ehemaliges RAF-Mitglied im Fernsehen erzählt hat,
dass das BKA damals die Videos von der Schleyer-Entführung manipuliert
habe, um die Professionalität der RAF zu vertuschen). Interessant
sind auch die Hinweise auf eine 1985 von Reagan in Auftrag gegebene
Autobombe, die in Beirut 80 Menschen tötete, um einen islamischen
Geistlichen zu liquidieren (er entkam), die Bombardierung der pharmazeutischen
Fabrik Al-Shifa im Sudan unter falschen Behauptungen und deren verheerenden
Folgen für die Gesundheit der Menschen in der Region. Andererseits
weigern sich die USA bis heute, Warren Andersen an Indien auszuliefern,
den Mann, der bei Union Carbide für das Giftgasunglück in
Bhopal und 16.000 Tote verantwortlich ist. Er wird auch nicht in den
USA angeklagt. Überhaupt kommt Chomsky immer wieder auf den Begriff
"Terrorismus" zurück und zeigt, wie beliebig dieser Begriff
verwendet wird und insbesondere, was nicht darunter fällt, nämlich
alle Handlungen der USA und ihrer Verbündeten. Es liegt nahe, die
Ursachen des Widerstandes gegen die USA und des 11. Septembers eher
in der Arroganz und Selbstgerechtigkeit der USA, ihren Lügen und
politischen Erpressungen gegenüber dem Rest der Welt zu sehen als
in irgendeinem religiösen Wahnsinn. Denn Religion ist doch meistens
nur vorgeschobenes Deckmäntelchen für ganz andere Interessen.
(2002-06-28)
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Pierre
Bourdieu
Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale
Invasion (UVK Universitätsverlag Konstanz, 1998)
Das Interessante an den französischen Intellektuellen
im Gegensatz zu den deutschen ist, dass sie gesellschaftlich Stellung
beziehen. Pierre Bourdieu war einer von diesen politischen Intellektuellen
und Gegenfeuer ist eine Sammlung von 17 Essays, Reden und Interviews
zu verschiedenen Aspekten des Neoliberalismus. Was dem Buch notwendigerweise
fehlt ist ein Überbau, ein Gesamtkonzept gegen den Neoliberalismus.
Da ein solches Konzept aber in seiner beängstigenden Einfachheit
für viele Leute wohl in die Nähe von Verschwörungstheorien
geraten würde, würde es kaum Anklang finden (Es sei denn man
kommt selbst darauf - und selbst dann würde man nicht wagen, es
wirklich zu glauben.). Viel interessanter ist es daher, Menschen anhand
von Einzelaspekten zu politischem Bewusstsein zu (ähem) erziehen
und sie danach an die umfassende Theorie heranzuführen. Unter diesem
Aspekt finden sich viele schöne Stellen im Buch, auf denen sich
aufbauen ließe:
- "Das, was als Krise der Politik, als Antiparlamentarismus
bezeichnet wird, ist in Wirklichkeit ein Verzweifeln am Staat als
Verantwortlichem für das öffentliche Interesse" (Seite
13). Wobei natürlich offen bleibt, was denn das "öffentliche
Interesse" eigentlich ist (Man kennt das ja aus dem Ausländerrecht,
die berühmt-berüchtigten "Belange der Bundesrepublik
Deutschland", eine leere rhetorische Seifenblase.), aber wenn
wir mal grob davon ausgehen, dass das "öffentliche Interesse"
auch alle die Interessen von Bevölkerungsgruppen umfasst, die
zu groß oder schwach sind, um sich noch in Interessenverbänden
organisieren zu können (wie ADAC, Gewerkschaften, Unternehmerverbände,
Kirchen etc.), dann dürfte klar sein, dass die Formel "blüht
die Wirtschaft geht, dann geht es auch dem Staat gut" neoliberaler
Schwachsinn ist.
- "Die terroristische Gewalt wurzelt fast immer im Irrationalismus
der Verzweiflung, doch gerade dadurch verweist sie auf die eherne
Gewalt derjenigen Mächte, die sich auf die Vernunft berufen.
Die Ausübung ökonomischen Zwangs kommt häufig unter
dem Deckmantel juristischer Vernunft daher, und auch der Imperialismus
versteckt sich hinter der Legitimität internationaler Instanzen.
Durch die Verlogenheit der Rationalisierungen zur Maskierung seiner
double standards erzeugt und rechtfertigt er bei den arabischen,
südamerikanischen und afrikanischen Völkern ein grundsätzliches
Aufbegehren gegen die Vernunft als solche, welche man nicht losgelöst
von den unter Berufung auf die (ökonomische, wissenschaftliche
usw.) Vernunft stattfindenden Machtmissbräuche sehen kann"
(Seite 29f.). Dem ist nichts hinzuzufügen, außer dass
Noam Chomskys Buch "War Against People" die Beweise dafür
liefert.
- "Es ist unendlich viel einfacher, für oder gegen
eine Idee, einen Wert, eine Person, Institution oder Situation Stellung
zu beziehen, als das zu analysieren, was sich in Wahrheit in seiner
ganzen Komplexität dahinter verbirgt" (Seite 32f.).
Genau, Politikern sollte unter Strafe verboten sein, sich innerhalb
von 24 Stunden zu irgendeinem Ereignis zu äußern, damit
sie Zeit zum Nachdenken haben, bevor sie den Mund aufmachen. Und
auch das Privatfernsehen ist nur ein Trick, den Leute die Zeit zum
selbständigen Denken zu klauen.
- "Die Konstruktion eines (...) Gegensatzes zwischen der
weitsichtigen Perspektive einer aufgeklärten "Elite"
und den kurzsichtigen Beweggründen des Volkes oder seiner Repräsentanten
war schon immer und überall typisch für das reaktionäre
Denken, aber in Gestalt eines Staatsadels kleidet es sich heute
in eine neue Form, die ihre Überzeugungen von der eigenen Legitimität
aus Bildungstiteln und der Autorität der Wissenschaft - insbesondere
der Wirtschaftswissenschaft - schöpft. Für diese neuen
Herrscher von Gottes Gnaden sind nicht nur Vernunft und Modernität,
sondern auch Wandel und Veränderung der Seite der Herrschenden,
der Minister, der Arbeitgeber oder der "Experten" zuzurechnen,
Unvernunft und Rückständigkeit, Unbeweglichkeit und Konservatismus
hingegen der des Volkes, der Gewerkschaften und der kritischen Intellektuellen"
(Seite 34f.). "Bei den Bemühungen um die Neuordnung
des öffentlichen Dienstes haben Intellektuelle, Schriftsteller,
Künstler, Wissenschaftler usw. eine entscheidende Rolle zu
spielen. (...) Ihre Aufgabe ist es, stichhaltige Analysen und innovative
Vorschläge hinsichtlich der wichtigen Fragen zu erarbeiten,
die die politisch-mediale Orthodoxie zu stellen verbietet. (...)
Man kann autoritärem Technokratismus eine Absage erteilen,
ohne in einen Populismus abzurutschen, dem die sozialen Bewegungen
der Vergangenheit nur all zu oft gehuldigt haben und der einmal
mehr den Technokraten in die Hände spielen würde"
(Seite 37).
- "Wie der Marxismus früher, mit dem sie in dieser
Hinsicht vieles gemein hat, stiftet diese Utopie (gemeint ist der
Neoliberalismus) einen ungeheuren Glauben, den free trade faith"
(Seite 115). Und gegen religiösen Wahnsinn ist schlecht
zu argumentieren, nicht mal Fakten wie das Platzen der E-Business-Seifenblase
können den religiös Verblendeten überzeugen.
Weitere Themen des Buches sind die Manipulationen der Massenmedien,
Fremdenfeindlichkeit, Intellektuelle als Handlanger der Globalisierung,
der systematische Abbau sozialer Rechte, wunderbar zugespitzt in der
Wortschöpfung "Flexploitation" und die Notwendigkeit
ländergrenzenübergreifender gesellschaftlicher Bewegungen.
Hervorzuheben ist insbesondere auch das Essay "Der Mythos "Globalisierung"
und der europäische Sozialstaat", in dem die gravierenden
gesellschaftlichen Unterschiede zwischen USA und Europa herausgearbeitet
werden, weshalb der Neoliberalismus eigentlich als Frontalangriff auf
die gewachsenen sozialen Strukturen in Europa angesehen werden muss
und nicht als angebliche Optimierung. Gegenfeuer ist ein Buch, dass
ungeheuer viel Gedankenfutter bietet, ohne predigen zu wollen.
(5-7-2002)
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Jürgen
Teipel
"Verschwende Deine Jugend" (suhrkamp taschenbuch, 2001)
Dieses Buch ist großartig, aber wer dem Untertitel
"Ein Doku-Roman über den deutschen Punk und New Wave"
vertraut, oder den Zitaten auf der Rückseite, könnte möglicherweise
schwer enttäuscht werden. "Atemberaubend spannend"? Höchstens
wie ein Hollywood-Film, an dessen Ende immer das Gute siegt. "Eine
oral history der Jahre 1976 bis 1983"? Dazu ist der Inhalt viel
zu selektiv. Und "die Memoiren des Pop"? Bleib mir weg mit
diesen hohlen Sprüchen. Dieses Buch ist keine Geschichte des deutschen
Punk und von Neuer Deutscher Welle, denn zu Wort kommt nur die erste
Generation, die Rebellen, über die Mitläufer und Nachzügler
hinwegtrampelten und deren Namen heute zumeist vergessen sind. Nein,
dieses Buch erzählt nur die Lebensgeschichte einiger Menschen an
einem im Nachhinein historischen Punkt der deutschen Kulturentwicklung.
Es erzählt von Dissidenten, Menschen, die sich in dem Angebot an
Jugendkultur in West-Deutschland 1977 nicht wiederfanden (erinnert sich
noch jemand an das deutsche Rock-Label damals, Brain?), kreativen Geistern,
die den Impuls aus London (und New York) benutzten, die versteinerten
Regeln ihrer Umwelt über den Haufen zu werfen. Männer und
Frauen, die die Sex Pistols richtig verstanden: nicht "no future",
sondern "no future for you", die die Parole "alles ist
möglich" ernst nahmen. Jürgen Teipel erzählt mit
einer geschickten Montage von O-Tönen, mit welcher Geschwindigkeit
sich Menschen damals verändert haben, aufgestiegen und wieder abgestürzt
sind und dabei unwissentlich Geschichte geschrieben haben. Denn dass
mensch Geschichte schreibt, dass merkt mensch erst hinterher. Circa
20 Jahre später. Da sieht mensch erst, was hängen geblieben
ist, auch wenn es sich kurz danach wie eine Niederlage anfühlte.
Die Geschichte, die dieses Buches erzählt, ist sowohl einmalig
als auch typisch. Das besondere der damaligen Situation war, dass hier
eine Generation in den Startlöchern stand, die einerseits auf den
Erfahrungen und Fehlern der älteren Brüdern und Schwestern
aufbauen konnte (und durch ein Bildungssystem gegangen war, dass zu
kritischer Reflektion und bewusstem Handeln anregte, auch wenn die Lehrer
nicht erwartet hatten, dass sich diese Fähigkeiten gegen sie und
ihre Generation richten würden; es ist im übrigen bezeichnend,
dass Erinnerungen mit solcher Selbstreflektion von älteren Musikergenerationen
selten sind), aber andererseits noch nicht von einer Konsum- und Jugendindustrie
vereinnahmte war wie dies heute der Fall ist (Allerdings könnte
mensch auch fragen, ob Punk nicht erheblich zum Entstehen dieser geistzersetzenden
kapitalistischen Jugend-Ausbeutungsmaschinerie beigetragen hat?). Das
typische dagegen sind die Lebensläufe dieser Innovatoren in Relation
zu der mit geschaffenen Bewegung, wie ihre Ideen vulgarisiert und in
konsumierbarere Bahnen gelenkt werden (und die Werbesprüche für
dieses Buch sind ein Teil dieses Problems), die es auch simpel gestrickteren
Gemütern ermöglicht, an dem Image teilzuhaben. Dieser Untergang
der ersten Generation lässt sich zweifellos für jede Jugendbewegung
davor und danach beschreiben und ich sage schon jetzt voraus, dass entsprechende
Bücher über Techno und deutschen HipHop demnächst auch
in den Regalen stehen werden. Dieses Buch ist keine Geschichte über
den deutschen Punk und New Wave, es ist die Geschichte einer Jugend
in Deutschland. Und das ist viel besser.
(2002-04-12)
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