...gelesen...

Martin C. Strong
"The Great Rock Discography. Seventh Edition. Fully Revised and Expanded. With a Foreword by John Peel" (Zweitausendeins, 2004)

Nein, dies ist keine Buchbesprechung. 1730 Seiten in 6 Punkt-Schriftgröße lesen sich nicht einfach mal so an einem Wochenende durch. Aber ein paar Stichproben sind möglich wie zum Beispiel welche deutschen Bands hier Erwähnung finden. Als da wären: Can und Kraftwerk, die historisch wichtigen und wertvollen "Krauts" aus den 60er und 70er Jahren, Tangerine Dream als teutonisches Synthesizer-Urgestein, Amon Düül 2, Faust, Nico und Neu! als neu entdeckte oder halbvergessene Kultbands und - idole, Scorpions und Michael Schenker (Group) als in USA immer noch angesagte teutonische Hardrock-Aushängeschilder, Rammstein als aktueller exotischer Gimmick - und Enigma, offenbar weil die 20.000.000 Platten weltweit verkauft haben, was mensch nicht so einfach ignorieren kann. Das ist - abgesehen von Can, Kraftwerk, Nico und Neu! - nicht unbedingt die Mischung, die ich als Repräsentanten deutscher Rockmusik haben möchte. Aber was ist die Alternative? Udo Lindenberg, BAP, Westernhagen, Herbert Grönemeyer und Konsorten: keiner von ihnen hat irgendeinen nennenswerten Erfolg außerhalb von Deutschland vorzuweisen. Scooter? Gott bewahre! Milli Vanilli? Boney M.? Deutschen HipHop braucht keiner außerhalb Deutschlands weil jedes Land seine eigenen Crews hat, und Nina Hagen und Nena nimmt schon seit Jahren keiner mehr ernst. Darunter beginnen die musikalischen Nischen, die im Ausland keine größere Breitenwirkung entfalten. Obwohl viele der hier erwähnten Bands in England und USA auch keiner größere Relevanz entwickelt haben, aber so ist das nun mal mit einem englischen Autor und seiner Sichtweise auf Rockmusik. Und seien wir ehrlich, kennen wir wirklich mehr von französischer Musik als Air, Jacques Brel, Daft Punk, Serge Gainsbourg und Jean-Michel Jarre? Genau, und die sind hier auch alle drinnen. Die Biografien selbst sind soweit ich das beurteilen kann okay, bei den älteren Kapellen etwas kürzer und allgemeiner, bei den jüngeren etwas länger und mehr auf die Musik eingehend. Einzig die Nico-Biografie findet nicht so ganz meine Zustimmung: Nico soll noch eine Tochter gehabt haben?! Die Affären mit Iggy Pop und Jim Morrison finden keine Erwähnung, aber Jackson Browne und Brian Jones, und Nicos Heroinsucht wird völlig unterschlagen. Sorry, aber das ergibt ein völlig falsches Image unserer geliebten teutonischen Walküre.
(2005-01-20)

Walter Moers
"Rumo & Die Wunder im Dunkeln" (Piper 2003)

Eigentlich wollte ich über das Buch gar nichts schreiben, denn nach den ersten beiden Romanen von Walter Moers über Zamonien, "Die 13 ½ Leben des Käpt'n Blaubär" und "Ensel und Krete. Ein Märchen aus Zamonien" hatte ich "nur" ein weiteres phantasievolles Märchen für Erwachsene mit einem Feuerwerke an absurden Ideen erwartet. Genau das war es dann auch, aber es bleibt ein fahler Nachgeschmack. Zum einen ist es das Fehlen von jeglichen weiblichen Hauptfiguren neben Rala, die Rumos große Liebe ist, der er sich nicht erklären kann, für die er aber lebensgefährliche Abenteuer auf sich nimmt. Diese Schieflage ist deshalb merkwürdig, weil es neben Rumo eine ganze Reihe weiterer männlicher Hauptfiguren gibt wie Ralas Bruder Rolv oder die Haifischmade Smeik, es wimmelt geradezu von männliche Charakteren, Schurken und Helden. Aber obwohl als zentrales Thema immer wieder der "silberne Faden", das Band der einzigen und absoluten Liebe zwischen Mann und Frau, auftaucht werden Frauen außer in der Figur von Rala, sowie einer gestrengen Schreiblehrerin auf ein paar Seiten, fast vollkommen ausgeblendet. Es ist nicht so, dass Moers ein konservatives Geschlechterverhältnis darstellt, wo Männer kämpfen und Frauen kochen, nein Frauen gibt es offenbar in Zamonien nicht. Zum zweiten ist es die Episode, wo General Ticktack Rala als Opfer für die von ihm geliebte Folter- und Todesmaschine Kupferne Jungfrau auswählt und Moers die Qualen und den Todeskampf sehr ausführlich beschreibt. Diese Kombination, dass die einzige weibliche Figur solchem Sadismus ausgesetzt wird, hinterlässt einen sehr schalen Nachgeschmack. Ich möchte an dieser Stelle keine Spekulation über den Autor anstellen, insbesondere was die Schüchtern- und Verklemmtheit von Rumo zu bedeuten hat, aber guten Gewissens weiterempfehlen kann dieses Buch nicht.
(2004-10-25)

Bernd Hahn, Holger Schindler
"Punk. Die zarteste Versuchung seit es Schokolade gibt" (Buntbuch-Verlag 1983)

Jahrelang war ich hinter diesem Buch her, doch hat es sich gelohnt? Es ist eines der rareren Bücher über Punk, geschrieben von zwei ich sag mal Hippies, damals schon auf die30 Jahre zugehend und heute an der Schwelle zur Frührente - was eine unfaire Bemerkung ist, denn Malcolm McLaren ist schließlich noch älter. Aber im Gegensatz zu diesem waren Hahn und Schindler nie Teil von Punk oder NDW, sondern immer nur Außenseiter, die Teil einer Jugendbewegung sein wollten. Was auch okay wäre, so als teilnehmender Beobachter mitzuspielen und am Ende doch sein eigenes Ding zu machen. Voraussetzung wäre natürlich, dass mensch eine eigene Vorstellung von seinem Leben hat, aber zwischen den Zeilen lassen Hahn und Schindler deutlich erkennen, dass ihnen diese Vorstellung in ihrem bisherigen Leben abhanden gekommen ist und sie sich nun von Punk solch ein neues Lebensziel erhoffen. Ob sie es geschafft haben? In diesem Buch gelingt es ihnen nicht, weder sind sie Punk noch ihr eigenes Ding, sondern nur misslungene Imitatoren. Diese Position ist aus allen Texten herauszulesen. Ihre Erklärung von Punk ist nacherzählt aus SoundS und verschiedenen Büchern, das Lebensgefühl und die Beschreibung der politischen Lage in Westdeutschland abgeschrieben aus der taz, und so weiter. Außer in den eigenen biografischen Texten enthält das Buch keinen eigenständigen Gedanken, noch nicht einmal ein Konzept oder einen roten Faden. Traurig aber wahr. Ein Buch als Dokument des eigenen Scheiterns. Auch nicht schlecht, wenn mensch das denn auch selbst bemerken würde, was Hahn und Schindler aber offenbar nicht tun. Gibt es etwas Positives zu berichten? Okay, auf den ersten Bick interessant ist die Gestaltung des Buchs: sieht sehr chaotisch aus, viele Buchstaben- und Bildschnipsel, Collagen aus Text und Grafik, eine Art Fanzinestil eben. Hollow Skai war damals ziemlich angepisst, als er das Buch in seine Hände bekam, und meinte, die beiden hätten ihm das Layout aus seinem eigenen Buch "Punk. Versuch der künstlerischen Realisierung einer neuen Lebenshaltung" geklaut. Nun, ich würde von sehr starker Inspiration sprechen, aber auch hier gilt: nur Imitation. Im Mittelteil des Buchs versuchen Hahn und Schindler selbst eine Art Fanzine zusammenzukleben, aber die Auswahl ihrer Themen und Bilder ist eine andere als die von Punks der damaligen Zeit, insbesondere fehlen jegliche eigenen Bildquellen wie Konzertfotos oder eigene Zeichnung. An einer Stelle geben sie selbst zu, dass ihnen die Verbindungen um an solches Material heranzukommen einfach fehlen würden. Aber vielleicht waren sie auch nur am falschen Ort zu falschen Zeit. Denn wie wichtig war denn schon Kassel 1982 in der Punkszene? Eben.
(2004-10-07)

Oliver Sacks
"Awakenings - Zeit des Erwachens" (rororo 1991)

Der Untertitel des Buchs lautet "Das Buch zum Film" und das ist kompletter Blödsinn, nicht nur weil das Buch zuerst da war, nämlich zuerst 1973, die deutsche Ausgabe aber erst 1989, und in diesem Jahr wurde dann auch der Kinofilm mit Robert DeNiro gedreht, sondern hauptsächlich weil das Buch weit über die verfilmte Arzt-Patienten-Geschichte in einer besonderen historischen Situation hinausgeht. Im Kern geht es um das Medikament L-Dopa und seine Wirkungen auf die Opfer der Schlafkrankheit, doch Oliver Sacks benutzt seine Krankengeschichten zur Reflektion über das Wesen des menschlichen Gehirns/Verstandes, seine unendliche Komplexität, die dem populären mechanistischen Vorstellungen der meisten Laien widerspricht, weil nämlich die Verabreichung dieses wie auch aller anderen Medikamente eben keine gesicherten Voraussagen über die Wirkungen zulässt. Das Erschreckende ist, wie das Medikament den Patienten ständig auf einem schmalen Grad zwischen Absturz und Höhenflug wandeln lässt, dass es wie ein Holzhammer wirkt im Vergleich zu den im Gehirn selbst angelegten Selbstheilungsmöglichkeiten, sie allerdings im Falle der Schlafkrankheit ab einem bestimmten Punkt nicht mehr greifen und daher zur völligen Erstarrung der Patienten führen. Trotzdem wurde L-Dopa anfänglich als Wunderdroge (wie damals Kokain von Sigmund Freund) gefeiert und zahlreiche Patienten, die es aus der bisherigen Versteinerung befreite haben es anfänglich gefeiert und nach heftigen Krisen gelernt damit umzugehen. Unabhängig davon sind dabei spannend die Beschreibungen der Patienten selbst, wie sie diese Zeit der oft jahrzehntelangen Akinese erlebt haben, nämlich mit einer völlig veränderten Wahrnehmung der Umwelt wie einem Verlust des Maßstabes für Raum und Zeit, ebenso wie ihr "Erwachen" und schließlich die großartigen Fahigkeiten des Gehirns, mit den neuen Herausforderungen des L-Dopa umzugehen und sich den veränderten Rahmenbedingungen anzupassen.
Das Buch enthält eine solche Fülle an Gedanken, dass es den Rahmen dieses Textes sprengen würde, sie alle anzusprechen. Es gibt allerdings ein paar Randaspekte, die ich erwähnen möchte, wie etwa Sacks Erfahrung, dass seine Berichte über die Wirkungen L-Dopa an seinen postenzephalitischen Patienten in Medizinerkreisen lange Jahre auf absoluten Unglauben und Ablehnung stießen und bei der Konfrontation mit Filmdokumenten zu heftigsten Reaktionen führten, so als ob hier eine Weltanschauung durch die Konfrontation mit der Realität zum Einsturz kommt - ein absonderliches Geschehen, glaubte ich doch bisher, Mediziner als Wissenschaftler müssten eigentlich in der Lage sein, Theorien im Lichte neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. Offensichtlich gibt es aber auch in der Wissenschaft verbohrte Ideologen mit Realitätsverlust. Ebenso interessant sind die Überlegungen, wonach die Beschreibung des Geschehens im Gehirn Vergleiche mit der Quantenwelt und der Relativistik nahe legen. An anderer Stelle taucht der Gedanke auf, dass bei Parkinson-Patienten in ihrem Verhalten plötzliche stoßweise Veränderungen auftreten, "keine sanfte geometrische oder topologische Verformung, sondern eine plötzliche algebraische oder statische" - was sich merkwürdig mit der wissenschaftlichen Erkenntnis deckt, dass Zeit nicht fließt, sondern in kleinen Sprüngen fortbewegt, quasi rieselt. Auch den Begriff der "Nebenwirkungen" von Medikamenten stellt Sacks in Frage, weil dieser allzu mechanisch diese Folgen der Medikamenteneinnahme als zu vernachlässigende Randerscheinung abtut, tatsächlich aber im Einzelfall die Betroffenen erheblich beeinträchtigt und seine Persönlichkeit deformiert, so wie Krankheit an sich. Denn die Krankheit ergreife Besitz von dem Patienten und zwinge diesen, sich ihr anzupassen. Dann gibt es noch eine Fußnote zur Chaostheorie, die wieder einmal verdeutlicht, dass sich Begriffe aus der Wissenschaft nicht einfach in die Umgangssprache übertragen lassen. Der Chaos ist für den Wissenschaftler keine Unordnung, sondern ein System, dass auf kleinste Änderungen in den Ausgangsbedingungen reagiert und dessen Entwicklung daher zunehmend unvorhersehbar wird, also das Gegenteil der klassischen Mechanik. Nur in diesem Sinne ist die Metapher vom dem Flügelschlag eines Schmetterlings, der eine Sturm auslösen kann, zu verstehen, nicht als zwangsläufige Folge eines Ereignisses, sondern als mögliche Auswirkung kleinster Änderungen der Bedingungen in einem komplexen System.
"Awakenings" erschien erstmals 1973. Weitere Auflagen von 1976, 1982 und 1990 gaben Sacks immer wieder Anlass, die Krankengeschichten zu aktualisieren und seine Überlegungen zu überdenken und neuere wissenschaftliche Erkenntnisse einfließen zu lassen, was allerdings der Lesbarkeit nicht geschadet hat, denn Sacks hat es geschafft, nicht ein trockenes Fachbuch zu schreiben, sondern mit menschlicher Anteilnahme Patientenakten zum Leben zu erwecken und als echte Menschen vor unseren Augen entstehen zu lassen, so wie sein Vorbild Aleksandr R. Lurija, dessen Buch "Der Mann, dessen Welt in Scherben ging" ich ebenfalls zur Lektüre empfehlen kann. Auf eines allerdings ist hinzuweisen: "Awakenings - Zeit des Erwachens" ist eine faszinierende Leseerfahrung, aber als Einstieg in die wunderbare Welt der Neurologie nicht geeignet. Da ist eher von Sacks das Buch mit dem er erstmals einer größeren Öffentlichkeit auffiel "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte" mit seinen vielen verschiedenen Fallgeschichten zu empfehlen.
(2004-09-16)

David Browne
"Dream Brother. The lives and music of Jeff and Tim Buckley" (Fourth Estate 2001)

Biografien über früh verstorbene Menschen haben immer etwas Zwiespältiges, denn das Arbeitsleben war (zu) kurz und die Hinterlassenschaft (oft) gering. Jeff Buckley (geboren am 17. November 1966) hat zu seinen Lebzeiten eineinhalb CDs veröffentlicht und war in den Vorbereitungen zu seiner zweiten CD, als er am 29. Mai 1997 in Memphis in den Mississippi sprang und nicht mehr auftauchte. Dabei wurde er älter als sein Vater Tim (geboren am 14. Februar 1947), der am 29. Juni 1975 an einer Überdosis Heroin starb, aber es trotzdem bis dahin auf 9 LPs gebracht hatte. Man kann es mit den Biografien von solchen Menschen übertreiben wie Patrick Humphries, der über Nick Drake, dessen 3 LPs und wenig mehr Konzerte 270 Seiten zusammenschrieb einschließlich dessen Leistungen als Sportler während der Schulzeit. David Browne kommt auf 340 Seiten, jeweils zu gleichen Teilen auf Vater und Sohn Buckley verteilt. Diese Doppelbiografie ist insofern gerechtfertigt, als zwar Jeff künstlerisch nie im Schatten seines Vaters stand, aber sein Leben doch auch eine ständige Suche nach seinem Vater, den er fast nicht kannte, war. Tatsächlich war Tim Buckley der Grund, dieses Buch zu lesen, weil dessen Werk und Leben doch ziemlich vergessen ist, weshalb jede neue Information willkommen ist. Dabei ist Browne eher an Jeff interessiert, hat diesen zu dessen Lebzeiten wiederholt interviewt und versucht jetzt ihn psychologisch zu durchdringen, während er Vater Tim eher sachlich angeht. Was daneben interessant ist ist die Schilderung des Verhältnisses zwischen Jeff Buckley und seiner Plattenfirma und der Vergleich, wie unterschiedlich doch Künstlerkarrieren im Rockgeschäft in der 60er und 70er Jahren im Vergleich zu den 90ern waren. Leider fehlt am Ende des Buches eine Diskografie.
(2004-07-13)


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