"
wolde ye swynke me thilke wys?... Magna Mater! Magna
Mater!... Atys..."
Von Franziska D. Graf
Solche Wortfetzen und Laute gibt das letzte Mitglied
der alten englischen Familie der Delapore von sich, als man ihn nach
drei Stunden in der Finsternis der grauenhaften Gewölbe unter seinem
Landsitz Exham Priory findet, über die halbaufgefressene Leiche
seines Nachbarn Captain Norrys kriechend, wobei ihm sein Kater Nigger-Man
eingekrallt an der Kehle hängt. Die Ratten, die Ratten, die Ratten
im Gemäuer...
Der Handlungsreisende Winfield Scott Lovecraft starb in einer Heil-
und Pflegeanstalt, als sein Sohn Howard Phillips, der sich später
H.P. nannte, gerade acht Jahre alt war. Das kränkelnde Einzelkind
wuchs unter der Erziehung einer neurotischen Mutter auf, die in ihm
Minderwertigkeitskomplexe und Unselbständigkeit nährte. 1921
starb auch die Mutter in geistiger Umnachtung ebenfalls in einer Nervenheilanstalt.
H.P. konnte wegen seiner schwachen Konstitution weder regelmäßig
die Schule noch das College besuchen.
Der Vater ein Pflegefall, die Mutter gluckenhaft und neurotisch, ein
Einzelkind, das stets kränkelte, kontaktarm, ängstlich, hochintelügent
- was konnte aus HY. werden? Er hatte sozusagen von Haus aus die besten
Voraussetzungen, sich zum Monster zu entwickeln, Er machte das Beste
aus diesen Hypotheken: Er wurde eins, ein Monster der Horrorliteratur.
"Er war ganz eins mit seinem Werk, ein Monstrum in Person."
(Urs Jenny)
H.P. Lovecraft bewahrte sich schreibenderweise vor dem Sturz in die
Abgründe seiner Psyche, indem er das Grauen zu Papier brachte,
es in geradezu penibler Weise beschrieb und sezierte und damit archivierte.
Denn die namenlose Angst unserer Alpträume läßt sich
wahrscheinlich kaum anders verbannen und bezwingen als durch die Benennung,
Systematisierung, Einordnung in ein begreifbares Konzept - und sei das
auch nur der Mythos von der "Großen Alten Rasse" von
den Sternen, die einst den Cthulhu-KuIt zur Erde brachte.
Es dürfte recht kurzweilig und ergiebig sein, Lovecrafts Fixierung
des Ach-Gott-sounbeschreiblich-Grauenvollen den Visionen von William
Burroughs in "Naked Lunch", "Junkie" oder "Nova
Express" gegenüberzustellen. In beiden Fällen: Alpträume,
die zu definierten Zeichen kristallisieren, sprachlich dingfest gemachtes
Grauen. Nur :Lovecraft war der Tradition, der Geschichte verbunden und
suchte Zuflucht in der Ordnung von gestern, auch wenn er im Cthulhu-Zyklus
Science Fiction-Elemente aufgriff.
Denn Lovecraft war ein Konservatier von rechtestem Schrot und Korn,
der in seinen Privatbriefen gegen Fortschritt und Sozialismus, gegen
andere Rassen und gegen alles Fremde schlechthin zu Felde zog, der für
Mussolinis Faschismus schwärmte und sich die USA am liebsten heim
ins britische Empire wünschte. Ein Glück, daß er seine
Horror-Stories schreiben konnte und so ein Ventil für seine Ängste
fand (wodurch er sich mit zunehmendem Alter sogar vom rechtsradikalen
Schwärmer zum relativ ausgeglichenen Liberalen wandelte).
Und so bestand sein ganzes Leben ausschließlich aus dem Umgang
mit Worten. Wenn er nicht gerade als Ghostwriter, Lektor, Kritiker oder
Korrektor von Manuskripten seinen bescheidenen Lebensunterhalt verdiente
oder an einer eigenen Geschichte arbeitete, schrieb er Briefe. H.P.
war wahrscheinlich der produktivste Briefeschreiber der Geschichte:
An die 100.000 soll er verfaßt haben, manche mehr als 20 Schreibmaschinenseiten
lang, täglich acht bis zehn Stück. Freunde hatte keine - dafür
korrespondierte er eben.
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LITERATURLISTE
"Cthulhu", suhrkamp taschenbuch 29, l972, 244 Seiten,
7 Mark (enthält: "Pickmans Modell", "Die Ratten
im Gemäuer", "Die Musik des Erich Zann", "Der
leuchtende Trapezoeder", "Das Grauen von Dunwich"
" Cthulhus Ruf")
"Berge des Wahnsinns" suhrkarnp taschenbuch 220,
1975, 216 Seiten, 7 Mark (enthält: "Berge des Wahnsinns",
"Der Flüsterer im Dunkeln")
"Das Ding auf der Schwelle", suhrkamp taschenbuch 357,
1976, 212 Seiten, 7 Mark (enthält:
"Das Ding auf der SchwelIe" "Der Außenseiter",
"Die Farbe aus dem All", "Träume im Hexenhaus",
"Der Schatten aus der Zeit")
"Der Fall Charles Dexter Ward", suhrkamp taschenbuch
391, 1977, 256 Seiten, 7 Mark (enthält: "Der Fall Charles
Dexter Ward", "Schatten über Innsmouth')
"Stadt ohne Namen", Bibliothek des Hauses Usher im Insel
Verlag, 1973, 252 Seiten
"Die Traum fahrt zum unbekannten Kadath", Hobbit Presse/Klett-Catta,
1980, 206 Seiten, 20 Mark
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Und er war belesen: Angeblich schon im zarten Alter
von zwei Jahren beherrschte er das Alphabet. Mit vier konnte er lesen,
mit sechs schrieb er seine erste Story. Aufgrund seines phänomenalen
Gedächtnisses soll er sich zeitlebens an alle Bücher bestens
erinnert haben, die er je gelesen hatte. Und er hatte Zeit zum Lesen:
Von frühester Kindheit an zog er sich in die Bibliothek seines
Großvaters zurück, wie er überhaupt seine Geburtsstadt
an der amerikanischen Ostküste (Providence, Rhode Island) bis auf
ein Intermezzo in New York, das keine zwei Jahre dauerte, nie verließ.
In der friedlichen Landschaft von Neu-England brütete H.P. seine
düsteren Visionen aus, wobei er nicht allzu produktiv war: Insgesamt
existieren ungefähr vierzig kurze und zwölf längere Stories.
Leider vernichtete er einen Großteil der "Frühwerke",
die er als Knabe und Jugendlicher zu Papier gebracht hatte.
Ob an grauen, verregneten Herbstnachmittagen oder an sonnigen Sommerabenden:
Jung-Lovecraft schmökerte und lebte auf in seiner Fantasiewelt.
Unsereine kennt das ja, die als Kind lieber den Tag lesend im Sherwood
Forest mit Robin Hood und seinen Kumpanen verbrachte als draußen
in der greifbaren Wirklichkeit. Da verwischen irgendwann die grellen
Konturen der Bäume vorm Fenster, und hinter den flimmernden Silhouetten
tun sich neue Dimensionen auf, Raumkrümmungen voller unaussprechlicher
Andeutungen. Es kostet viel Mut, sich der Realität nach solchen
entrückten Zuständen wieder zu stellen - vielleicht arbeitete
Lovecraft deshalb am liebsten nachts oder mit zugezogenen Vorhängen.
Der junge H.P. stürzte sich aber auch auf die Naturwissenschaften.
Er richtete sich ein Chemielabor ein, und mit acht Jahren gab er "The
Scientific Gazette" heraus. Später verfaßte er wissenschaftliche
Bulletins unter dem Titel "The Rhode Island Journal of Astronomy"
und schrieb astronomische Artikel für Zeitungen.
Doch die Liebe zur Literatur behielt stets die Oberhand. H.P. zeigte
sich von der Dichtung des 18. Jahrhunderts besonders beeindruckt und
versuchte, den geschraubten. altmodischen Stil seiner englischen Vorbilder
nachzuahmen, was sich auf seine Frühwerke ziemlich nachhaltig auswirkte.
In "The Dream-Quest Of Unknown Kadath" ("Die Traumfahrt
zumunbekannten Kadath"), das vor kurzem in der Hobbit-Presse im
Verlag Klett-Cotta erschien, zeigt sich noch seine Vorliebe für
die fantastischen Romane Lord Dunsanys.
In einer einzigen atemlosen Traumsequenz taumelt Randolph Carter, der
träumende Held, wie ein Gralsritter von Episode zu Episode, von
unbegreiflichem Abenteuer zu Abenteuer. Und wer diese lange Erzählung
nicht in einem ähnlichen, taumelnden Traumzustand in einem Zug
durchliest, wird vermutlich den Faden verlieren und Kadath nie erreichen.
H.P. schätzte besonders auch Edgar Allan Poe und dessen Kollegen
Ambrose Bierce und Algernon Blackwood. Seine erste Geschichte veröffentlichte
H.P. in seinem eigenen Blättchen "The Conservative",
das er von 1917 bis 1923 herausgab.
1923 erschienen seine ersten Stories im Science Fiction-Magazin "Weird
Tales". In diesen frühen Geschichten beschwört er das
Grauen noch in irdischen Winkeln und Zufluchten und mit einer Sprache,
die vor allem mit einer blumig-schrecklichen Ausdrucksweise Entsetzen
fördern soll: "schrecklich", "scheußlieh",
"unheilig", "blasphemisch", "entsetzlich",
"fürchterregend" - das sind dabei einige seiner Lieblingsvokabeln,
die er dazu noch ständig wiederholt und häuft. "Die.
Ratten im Gemäuer" (1925) gehört zu diesen frühen
Geschichten.
Nach seiner Rückkehr aus New York, 1927, wurde H.P. immer treffsicherer,
immer eigenständiger und präziser. Der unbeschreib1iche, grausige
Horror wird mit oft nüchternen, wissenschaftlich-exakten Beschreibungen
eingefangen; die Selbsttherapie durch Worte gelingt ihm immer effektiver.
Die Ursprünge des Grauens verlagern sich von der
Erde ins All - der unbegreifliche Schrecken erhält kosmische Dimensionen
und wird gleichzeitig mit penibler Gründlichkeit in Worte gemeißelt.
In den beiden Spätwerken von 1936 "Der Schatten aus der Zeit"
und "Berge des Wahnsinns" erreicht Lovecrafts Kunst ihren
Höhepunkt: Die anatomische Sektion der "Alten Wesen",
die in der Antarktis aus dem ewigen Eis aufgetaut werden, könnte
einem biologischen Fachbuch entstammen - seine Berge des Wahnsinns sind
geomorphologisch, paläontologisch und mineralogisch erschließbar.
Lovecraft hatte die Sache/sich selbst im Griff: "Alle meine Geschichten,
wie unzusammenhängend sie auch zu sein scheinen, gründen sich
auf die ursprüngliche Kunde oder Legende, nach der diese Welt früher
von einer anderen Rasse bewohnt war, die in Ausübung schwarzer
Magie den Boden verlor und verstoßen wurde, jedoch außerhalb
unserer Welt weiterlebt, jederzeit bereit, von der Erde wieder Besitz
zu ergreifen."
Kein Wunder, daß H.P. mit dieser Ausgangslegende für sein
Schaffen ganze Scharen von Fantasy- und Science Ficticon-Autoren beeinflußte,
von seinen Nachlaßverwaltern August Detleth und Donald Wandrei
über Fritz Leiber bis hin zu Lin Carter.
Doch mit seiner ausgeflippten Exzentrik reichte Lovecraft noch weiter:
Auf dem Höhepunkt der Psychedelic-Ära zeigte sich so mancher
Rockmusiker von seinen Horror- und Fantasy-Gespinsten beeindruckt.
Auf FOR GIRLS WHO GROW PLUMP IN THE NIGHT von Caravan gibt es beispielsweise
den Titel "Cthulhu". Und eine Band übernahm sogar seinen
Namen: 1967 und 1968 erschienen die beiden Platten von H.P. Lovecraft,
auf dem Dunwich-Label ("The Dunwich Horror", eine der späteren
Stories van 1929) und im Yuggoth-Musikverlag (Yuggoth: ein dunkler Planet
am äußeren Rand des Sonnensystems, der von den Wesen aus
den äußersten leeren Räumen bewohnt wird). Mindestens
die zweite LP gehört zu den kleinen Kostbarkeiten der damaligen
Zeit und vermittelt auch ein wenig den Eindruck, als stünden die
Musiker wirklich in Kontakt mit Lovecrafts Universum. Vielleicht hatten
sie damals ja auch schon das berüchtigte "Necronomicon"
des verrückten Arabers Abdul Alhazred gelesen, auf das sich Lovecraft
in seinen Stories bezieht.
Ebenfalls 1968 machte sich der Cthulhu-Kult auch in deutschen Landen
breit: Da erschien im Insel Verlag ein Buch mit Lovecraft-Stories, das
kein Geringerer als H.C. Artmann übersetzt hatte, Heutzutage gibt's
Lovecraft außer bei der Hobbit-Presse in der Reihe der Suhrkamp-Taschenbücher.
H.P. Lovecraft, der Exzentriker, der keinen Frost vertrug, der Fisch
buchstäblich nicht riechen konnte und dessen Horror immer auch
die Geruchsnerven belästigte, dieses einsame und so schrecklich
menschliche Monstrum starb am 15. März 1931 an Darmkrebs und chronischer
Nierenentzündung.
Er wurde am 20. August 1890 geboren - auf den Tag genau vor 90 Jahren.
Heute nacht, am 20. August 1980, verbirgt sich die fahle Sichel des zunehmenden
Halbmonds hinter einem ekelerregenden Dunstschleier, und die blassen Sterne
machen das brütende Dunkel der Nacht noch greifbarer. als in den
gottverlassenen Nächten vor diesem denkwürdigen Tag. Ob es mir
heute gelingen wird, den Spuren von Randolph Carter ins unbekannte Kadath
zu folgen? Ah, Nyarlathotep...
Aus: SOUNDS Oktober 1980
H..P. Lovecrafts phantastische Bucherfindungen |
|
- Book of Eibon von Eibon aus Hyperborea (vor ca. 1.000.000
Jahren)
- Liber Ivonis, lateinische Übersetzung von Caius
Phillipus Faber
- Livre d'Ivon, französische Übersetzung von
Gaspard du Nord
- Cultes des Goules von Francois-Honore Balfour
Comte d´Erlette (Paris 1703)
- De Vermis Mysteriis (Mysteries of the Worm) von Ludvig
Prinn (Köln 1542 oder auch 1484)
- De Vermis Mysteriis, abweichende deutsche Fassung nach
dem Verbot durch die Inquisition (Düsseldorf, nach 1569)
- De Vermis Mysteriis, englische Übersetzung der
lateinische Urfassung von Edward Kelley (London 1573)
- De Vermis Mysteriis, englische Übersetzung nach
der deutsche Fassung von Charles Leggett (1821)
- mögliche Neuauflage (Starry Wisdom Press 1895)
- The Eltdown Shards (Die Scherben von Eltdown), prähistorische
Scherben, herausgegeben von Reverend Arthur Brooks Winters-Hall
- The People of the Monolith von Justin Geoffrey (1926
oder früher)
- The Pnakotic Manuscripts/Fragments (Pnakotische Fragmente),
geschrieben vor Beginn der Menschheit in der Aklo-Sprache
- Seven Cryptical Books of Hsan von Hsan der Größere
(China)
- Unaussprechlichen Kulten (Black Book, Nameless Cults)
(vormals Ungenennte Heidenthume) von Friedrich Wilhelm
von Junzt (Düsseldorf 1839)
- Unaussprechlichen Kulten, französische Übersetzung
von Pierre Sansrite (1843)
- Unaussprechlichen Kulten, englische Übersetzungt
von M. A. G. Bridewell (1845)
- Unaussprechlichen Kulten, unvollständige, fehlerhafte
Neuübersetzung mit Illustrationen von Diego Velasquez (Golden
Goblin Press, 1909)
- Unaussprechlichen Kulten, unvollständige, fehlerhafte
Neuübersetzung ohne Rituale (Starry Wisdom Press, Mass.)
- Kitab al-Azif von Abdul al-Hazred (Damascus, um 738
A.D.)
- Necronomicon (Das Buch der toten Namen), unvollständige
griechische Übersetzung von Theodorus Philetas aus Constantinopel
- Necronomicon, unvollständige lateinische Übersetzung
von Olaus Wormius (1228)
- Necronomicon, unvollständige lateinische Ausgabe
im 15. Jahrhundert
- Necronomicon, unvollständige lateinische oder
englische Ausgabe im 17. Jahrhundert
- Liber Logath, gekürzte englische Übersetzung
von Dr. John Dee
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